Rede am 25. 10. 2023 auf dem Rotkreuzplatz in München

Von Jürgen Jung

Gründungsmitglied von Salam Shalom, Arbeitskreis  Palästina-Israel e.V.                               und derzeit Mitglied im kollektiven  Vorstand des Vereins

„Freiheit“, schrieb Rosa Luxemburg einst, „ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“. Leider ist es in der momentan aufgeheizten Situation notwendig geworden, auf diese schlichte Wahrheit hinzuweisen, denn angesichts der verfahrenen Situation im Nahen Osten wird derjenige ja bereits verurteilt, der es sich erlaubt, auf mögliche Entstehungs-bedingungen und Ursachen des terroristischen Angriffs der Hamas vom 7. Oktober aufmerksam zu machen. Das gilt dann bereits als dessen Relativierung, ja vielfach sogar als Ausdruck des Antisemitismus, und es wird von Medien wie Politik die unverbrüchliche Solidarität mit Israel beschworen, dessen Sicherheit deutsche „Staatsraison“ sei. Und es wird in der Regel betont, dass wir mit der – wie es heißt – „einzigen Demokratie im Nahen Osten“ die gleichen Rechte teilen.

Verwundert reibt man sich die Augen und fragt sich, ob im Mainstream immer noch nicht angekommen ist, was in den letzten Jahren von israelischen und jüdischen Intellektuellen und Organisationen immer wieder  betont und nachgewiesen wurde, nämlich, dass Israel ein „siedlerkolonialistischer Apartheidstaat“ sei.

Dabei haben bereits die frühen Zionisten ganz unbefangen klargestellt, worum es ihnen ging. In einer Broschüre der zionistischen Weltorganisation von 1921, in der die Koloni-sierung Palästinas – unter Berufung auf das Vorgehen der Europäer gegen die Indianer Amerikas und die Schwarzen Südafrika –  verteidigt wird, heißt es:

„Kolonisation ist ein nicht unbedeutenderes Prinzip als Selbstbestimmung, und es gibt Fälle, wo die Selbstbestimmung nur angewandt werden darf, insofern sie mit der freien Entwicklung der Kolonisation vereinbar ist.“

Oder zwei Jahre später Ze’ev Jabotinski, der Ahnherr der heutigen rechten Parteien in Israel – Netanjahus Vater war jahrzehntelang sein Privatsekretär – , Jabotinski in seinem berühmten Essay „Die eiserne Mauer“: „Wir versuchen, ein Land gegen den Willen seiner Bevölkerung zu kolonisieren, mit anderen Worten, mit Gewalt…… Jede Urbevölkerung in der Welt würde sich, solange es noch einen Funken Hoffnung gibt, der Kolonisierung zu entgehen, gegen die Kolonisten wehren….Die zionistische Kolonisierung muß entweder sofort enden, oder andernfalls – ohne Rücksicht auf die einheimische Bevölkerung – fort-gesetzt werden“. Und diese Kolonisierung müsse dann hinter einer „eisernen Mauer“, d. h. einer unüberwindlichen Armee realisiert werden.

Und im Jahr 1947 – ein Jahr vor der Staatsgründung – äußerte sich Ben-Gurion auf dem Zionistenkongress unmissverständlich: „Unser Ziel ist nicht ein jüdischer Staat in Palästina, sondern ganz Palästina als jüdischer Staat.“ Seine Lösung für das Problem, dass dieses Land schon besiedelt war, hatte er 10 Jahre zuvor – also 1937 – bereits seinem Sohn brieflich mitgeteilt: „Ich bin für Zwangsumsiedlung. Daran kann ich nichts Unmoralisches erkennen.“ Und diese Zwangsumsiedlung begann dann – erforscht v. a. von den  „revisio-nistischen“ Historikern Israels – unmittelbar nach dem UNO-Beschluss vom 29. November 1947 als „ethnische Säuberung Palästinas“, die dazu führte, dass etwa zwei Drittel der Palästinenser, ca. 750 000, vertrieben wurden. Und diese „Nakba“, arabisch für „Katastrophe“, dauert im Kern, ganz im Sinne der von Ben Gurion formulierten Ziel-vorstellung – ganz Palästina als jüdischer Staat –, bis heute an. Die gegenwärtige rechts-reaktionäre Regierung Israels verhehlt ihre entsprechenden, krass völkerrechtswidrigen Absichten nicht einmal.

Insofern ist die Kennzeichnung Israels als „siedler-kolonialistischer Apartheidstaat“ mit-nichten eine „extreme Dämonisierung des Staates der einstigen jüdischen Geflüchteten“, wie uns nicht nur die SZ kürzlich glauben machen wollte.

Nach diesem kurzen historischen Exkurs zurück in die Gegenwart:

Wenn man den Medien, unseren Politikern, auch manchen Wissenschaftlern Glauben schenken darf, dann nimmt der Antisemitismus ständig zu, der herkömmliche Antisemi-tismus von rechts, der von links, der aus der Mitte der Gesellschaft und in den letzten Jahren insbesondere der „zugewanderte“ Antisemitismus der muslimisch-arabischen Migranten. Letzterer ist allerdings – aufgrund der leidvollen historischen Erfahrungen der Araber, insbesondere der Palästinenser mit dem Zionismus und Israel – zunächst einmal Antizionismus, den die falschen Israelfreunde aber kurzerhand mit Antisemitismus gleichsetzen.

Bereits im vergangenen Jahr haben die wichtigsten Menschenrechtsorganisationen der Welt, Human Rights Watch und Amnesty International in teils umfangreichen Studien nachgewiesen, dass Israel ein Apartheidstaat ist. Bereits 2021 waren sogar die israelischen Menschenrechtsorganisationen B’Tselem und Yesh Din zu dem gleichen Ergebnis gekommen; und in der israelischen Tageszeitung Haaretz konnte man am 13. 7. 2021 nachlesen, dass ein Viertel der ca. 6 Millionen Juden in den USA, also 1,5 Millionen, – so das Ergebnis einer Umfrage – Israel gleichfalls für einen Apartheidstaat halten, unter den jüngeren bis 40 sind es sogar 38 Prozent! Alles Antisemiten?!

In einem offenen Brief vom August diesen Jahres unter der Überschrift „Der Elefant im Raum“ rechnen israelische Akademiker mit der Politik ihres Staates vorbehaltlos ab. Dieser „Elefant im Raum“, der in Israel geflissentlich ignoriert wird, ist nach Ansicht der Autoren die völkerrechtswidrige israelische Besatzung. Der Kernsatz des Textes lautet: „Es kann keine Demokratie für Juden in Israel geben, solange die Palästinenser unter einem Apart-heidregime leben.“ Diese selbstkritische Radikalität renommierter israelischer Experten auf dem Gebiet der Judaistik, der Antisemitismus- und der Holocaustforschung ist in der Tat so erstaunlich wie die annähernd 3000 Unterschriften von vorwiegend jüdischen Zeitgenossen, die der Brief innerhalb kurzer Zeit bekam.

Und in einer Reaktion auf den 7. Oktober von den gleichen israelischen Autoren heißt es unmissverständlich:

„Wir, die Unterzeichnenden, verurteilen die Hamas für ihre abscheulichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Terroristen, die Hunderte von Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge und Senioren auf grausamste Weise abgeschlachtet und zahlreiche weitere entführt haben, müssen vor Gericht gestellt werden. Israel hat jedes Recht, sich zu verteidigen und diese Mörder zu verfolgen, wo immer sie zu finden sind.

In dieser Zeit des Schmerzes und der Verwüstung rufen wir Israel dazu auf,

  1. alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die Geiseln zu befreien. Israel hält eine große Anzahl von Palästinensern in Gefängnissen gefangen….. Israel muss sich um einen Aus-tausch von Gefangenen bemühen, um seine eigenen und die gefangenen Bürger anderer Länder vor dem sicheren Tod zu bewahren.
  2. darauf zu verzichten, die Zivilbevölkerung des Gazastreifens kollektiv für die Verbrechen der Hamas zu bestrafen. Ein Massaker rechtfertigt nicht das nächste. Dies wird nur zu weiteren Verwüstungen führen und den Kreislauf der Gewalt weiter anheizen. Wir rufen zu einem sofortigen Waffenstillstand und zur Deeskalation auf.
  3. die gewaltsame Unterdrückung des palästinensischen Volkes zu beenden. Die Apart-heid, die jahrzehntelange Besatzung des Westjordanlandes, die 16-jährige Belagerung des

Gazastreifens mit zwei Millionen Palästinensern und die Auslöschung der Erinnerung an die Nakba tragen alle zur Verrohung und zur Gewalt bei. Ihnen muss dringend ein Ende gesetzt werden. Es gibt keinen anderen Ausweg.

Wir dürfen unsere Trauer und unseren Schock nicht dazu benutzen, Rache zu üben und weiteres Blutvergießen unter der Zivilbevölkerung zu verursachen.“

Und vor ein paar Tagen sprach die renommierte israelische Publizistin Amira Hass wiederum in Haaretz Olaf Scholz direkt an, der am 12. 10. gesagt hatte:

„Das Leid und die Not der Zivilbevölkerung im Gazastreifen werden nur noch zunehmen. Auch dafür ist die Hamas verantwortlich.“ Und Amira Hass fragt den Bundeskanzler: „Aber gibt es eine Grenze für dieses zunehmende Leid, wenn man bedenkt, dass Sie und Ihre Kollegen im Westen Israel uneingeschränkt unterstützt haben? Werden Sie es hin-nehmen, dass 2.000 palästinensische Kinder getötet werden? …..

Sie sagten auch: „Unsere eigene Geschichte, unsere Verantwortung, die sich aus dem Holo-caust ergibt, macht es für uns zu einer ewigen Aufgabe, für die Existenz und Sicherheit des Staates Israel einzutreten.“

Aber Herr Scholz, es gibt einen Widerspruch zwischen diesem Satz und dem oben zitierten.
„Das Leid und die Not werden zunehmen“ ist ein Blankoscheck für ein verwundetes, ver-letztes Israel, das hemmungslos vernichten, zerstören und töten darf mit dem Risiko, uns alle in einen regionalen Krieg zu verwickeln, wenn nicht sogar in einen dritten Weltkrieg, der auch Israels Leben gefährden würde, seine Sicherheit und Existenz. Wohingegen „Verantwortung, die sich aus dem Holocaust ergibt“, bedeutet, alles zu tun, um einen Krieg zu verhindern, der in einem endlosen Kreislauf zu Katastrophen führt, die wiederum zu Kriegen führen, die das Leid nur noch vergrößern.

Das habe ich von meinem Vater gelernt, einem Überlebenden der deutschen Viehwaggons. Bereits 1992 sagte er mir jedes Mal, wenn ich aus Gaza mit Berichten über die Unter-drückung seiner Bewohner durch Israel zurückkam: „Es stimmt, das ist kein Völkermord, wie wir ihn erlebt haben, aber für uns endete er nach fünf oder sechs Jahren. Für die Palästinenser dauert das Leid seit Jahrzehnten an.“ Es ist eine andauernde Nakba.

Ihr Deutschen habt Eure Verantwortung, die sich „aus dem Holocaust“ ergibt – also aus der Ermordung unter anderem der Familien meiner Eltern und dem Leid der Überlebenden – längst verraten. Sie haben sie verraten, indem Sie ein Israel vorbehaltlos unterstützt haben, das besetzt, kolonisiert, den Menschen Wasser entzieht, Land stiehlt, zwei Millionen Menschen in Gaza in einem überfüllten Käfig einsperrt, Häuser zerstört, ganze Gemeinden aus ihren Häusern vertreibt und Siedlergewalt fördert.

……Es gibt genügend Diplomaten und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die darüber berichtet haben, wie Hunderttausende junge Palästinenser unter der arroganten Unter-drückung durch Israel und der willkürlichen Tötung von Zivilisten jede Hoffnung und jeden Sinn ihres Lebens verloren haben. Palästinensische Menschenrechtsaktivisten haben immer wieder gewarnt, dass Israels Politik nur zu einem Gewaltausbruch unvorstellbaren Ausmaßes führen könne. Auch israelische und jüdische Friedensaktivisten haben Sie ge-warnt.

Aber Sie sind Ihrem Weg treu geblieben und haben Israel die Botschaft übermittelt, dass alles in Ordnung sei – dass niemand es bestrafen oder den Israelis durch energische diplo-matische und politische Schritte beibringen wird, dass es mit der Besatzung keine Norma-lität geben kann. Und dann bezichtigten Sie Israels Kritiker des Antisemitismus!

NEIN, diese Kolumne ist keine Rechtfertigung für die Mord- und Sadismusorgie, die die bewaffneten Hamas-Männer begangen haben. …..Vielmehr ist es ein Aufruf an Sie, die aktuelle Kampagne des Todes und der Zerstörung zu stoppen, bevor sie eine weitere Katastrophe über Millionen von Israelis, Palästinensern, Libanesen und vielleicht sogar Bewohner anderer Länder in der Region bringt.“ Soweit Amira Hass.

Am 19. Oktober, also letzte Woche organisierte die jüdisch-amerikanische Organisation Jewish Voice for Peace eine Protestveranstaltung vor dem Kapitol in Washington zugunsten der Palästinenser, und es fanden sich   – ich wollte es kaum glauben – 5000 Teilnehmer ein. Der Tenor der Versammlung war: Die Wurzel der Gewalt ist Unter-drückung!

Und zum Schluss noch zu einem gestern erst in der taz erschienenen offenen Brief, den  über 100 in Deutschland lebende jüdische Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler unterschrieben haben. Darin heißt es:

„Wir verurteilen vorbehaltlos die terroristischen Angriffe auf Zivilisten in Israel.….. Mit gleicher Schärfe verurteilen wir die Tötung von Zivilisten in Gaza….. In den letzten Wochen haben Landes- und Stadtregierungen in ganz Deutschland öffentliche Versamm-lungen mit mutmaßlichen Sympathien für Palästinenser verboten……

Praktisch alle Absagen, einschließlich derjenigen, die von jüdischen Gruppen organisierte Versammlungen verbieten, wurden von der Polizei zum Teil mit der „unmittelbaren Gefahr“ von „volksverhetzenden, antisemitischen Ausrufen“ begründet. Diese Behauptungen dienen unserer Meinung nach dazu, legitime und gewaltfreie politische Äußerungen, die auch Kritik an Israel beinhalten dürfen, zu unterdrücken……

Klar ist jedoch: Es macht Juden nicht sicherer, wenn Deutschland das Recht auf öffentliche Trauerbekundungen um verlorene Menschenleben in Gaza verweigert……

Wir prangern an, dass die gefühlte Bedrohung durch solche Versammlungen die tatsächliche Bedrohung des jüdischen Lebens in Deutschland grob ins Gegenteil verkehrt, wo nach Angaben der Bundespolizei die „überwiegende Mehrheit“ der antisemitischen Straftaten – etwa 84 Prozent – von deutschen extremen Rechten begangen wird. Die Versammlungs-verbote sollen ein Versuch sein, die deutsche Geschichte aufzuarbeiten, doch besteht viel-mehr die Gefahr, dass man sie genau dadurch wiederholt.

Wir befürchten, dass mit der derzeitigen Unterdrückung der freien Meinungsäußerung die Atmosphäre in Deutschland gefährlicher geworden ist – für Juden und Muslime gleicher-maßen – als jemals zuvor in der jüngeren Geschichte des Landes. Wir verurteilen diese in unserem Namen begangenen Verbote.

Wir fordern Deutschland auf, sich an seine eigenen Verpflichtungen zur freien Meinungs-äußerung und zum Versammlungsrecht zu halten, wie sie im Grundgesetz verankert sind…..“

 

 

Und Finsternis war auf dem Antlitz Israels Von Gideon Levy, in: Haaretz, 26. Oktober 2023

Und Finsternis lag über dem Antlitz der Tiefe. Im Angesicht des Abgrunds des Massakers im Süden wird Israel von Finsternis heimgesucht. Noch ist es ein Wolkengebilde, aber es könnte sich in Dunkelheit verwandeln: Israel wird verrückt. Die Linken werden „wach“, die Rechten werden immer extremer, McCarthyismus und Faschismus regieren.

Kriegszeiten sind immer eine Zeit des Schweigens, der Meinungsgleichheit, des Rassismus, der Hetze und des Hasses, der absoluten Rekrutierung im Dienste der Propaganda, des Endes der Toleranz und der Verfolgung aller, die es wagen, aus der Reihe zu tanzen. Die von der Hamas im Süden verübten Gräueltaten haben all diese Erscheinungen auf die Spitze getrieben, so als ob die Gräueltaten den Verlust jeglicher Zurückhaltung rechtfertigen würden.

Der emotionale Aufruhr ist natürlich verständlich, nicht aber der Totalitarismus, der in seinem Gefolge entstanden ist. Wenn dem nicht Einhalt geboten wird, wird die Gefahr für die Demokratie tausendmal größer sein als die des Staatsstreichs, der das ganze System hier zum Einsturz gebracht hat.

Die ersten, die den Verstand verloren, waren wie üblich die Linken. Sie sind „klüger geworden“. Diejenigen, die sich vor dem Krieg entschlossen hatten, für die Demokratie zu kämpfen, sabotieren sie nun mit ihren eigenen Händen. Diejenigen, die sich vor dem Krieg als Liberale, als Menschen des Friedens und der Menschenrechte betrachteten, nehmen nun eine aktualisierte Weltanschauung an: Sie stehen den Gräueltaten im Gazastreifen gleichgültig gegenüber; eine Mehrheit will sogar, dass sie noch verstärkt werden.

Und warum? Weil sie Gräueltaten an uns verübt haben. Für wie lange? Bis zum Ende. Zu welchem Preis? Um jeden Preis. Diese Linke denkt jetzt über Gaza genauso wie die Rechte: Zuschlagen und zuschlagen, das ist die einzige Option.

Diejenigen, die vor dem Krieg unterschätzt haben, wie wichtig es ist, sich mit der Apartheid und dem Schicksal des palästinensischen Volkes zu befassen, denken jetzt, zum Teufel mit allen. Sie können hängen. Sollen sie doch ersticken. Lasst sie sterben. Sollen sie doch vertrieben werden. Diejenigen, die sich vor dem Krieg für aufgeklärt hielten, unterstützen jetzt den Konsens.

Die Hamas hat auch die israelische Linke auf den Kopf gestellt. Von nun an ist es Israel erlaubt, dem Gazastreifen alles anzutun; die Linke wird sogar ihren Segen dazu geben. Von nun an ist es verboten, auch nur mit den Bewohnern des Gazastreifens mitzufühlen.

Der Menschenrechtsaktivist und ehemalige Peace-Now-Direktor Yariv Oppenheimer beobachtete, wie Amira Hass über das Schicksal der Bewohner des Gazastreifens Tränen vergoss und beeilte sich zu schreiben: „Ich gebe zu, dass ich gefühllos geworden bin.“

Selbst angesichts der Leichen von 2.360 Kindern, die nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums am Dienstag gefunden wurden, ist das Herz der Linken versiegelt. Wie zu Beginn eines jeden Krieges ist die Linke dafür. Die Linke „wird klug“ und kehrt danach irgendwie zu sich selbst zurück. Das scheint dieses Mal unwahrscheinlich.

Außerhalb der Linken ist die Situation noch schlimmer. Der Faschismus ist die einzig richtige Position geworden. Die lokalen Fernsehsender haben sich dem Kanal 14 angeschlossen; wenn es um Gaza geht, gibt es keinen Unterschied. Reporter und Moderatoren bezeichnen die Hamas in einer abstoßenden Zurschaustellung von Holocaust-Verharmlosung und -Leugnung als Nazis, und die Menge jubelt. Die Hamas hat abscheuliche Dinge getan, aber sie sind keine Nazis.

Jede andere Meinung ist nun zur Verfolgung verurteilt. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, sprach wahrheitsgetreu und mutig über den Kontext der Gräueltaten vom 7. Oktober und beeilte sich zu betonen, dass nichts die schrecklichen Angriffe der Hamas rechtfertigen kann; Israel reagierte mit einem frenetischen Angriff auf Guterres, der von den Medien aufgepeitscht wurde. Jeder diplomatische Korrespondent, der sich noch nie zu etwas geäußert hat, weiß, dass die Äußerungen des Generalsekretärs „empörend“ waren.

Ich für meinen Teil war nicht entrüstet. Sie waren wahr. Die Schauspielerin Maisa Abd Elhadi wurde wegen eines Social-Media-Posts, der gegen kein Gesetz verstieß, von der Polizei festgenommen und über Nacht festgehalten, und israelische Fernsehsender entfernen ihre Filme aus ihren Streaming-Archiven. McCarthyismus würde sich schämen.

Die freigekaufte Gefangene Yocheved Lifshitz gab eine bewegende Vorstellung, und die Mainstream-Journalisten beschweren sich, weil sie die Wahrheit gesagt hat. PR-Beraterin und Internet-Persönlichkeit Rani Rahav sieht ein Video von der Zerstörung in Gaza und schreibt: „So gefällt mir das!!!“ (Alle sabbernden Ausrufezeichen sind im Originaltext enthalten).

Der Journalist Zvi Yehezkeli drängt auf die nächtliche Zerstörung des Gazastreifens. Den gesamten Gaza-Streifen. Und sein Kollege Netali Shem Tov von Channel 13 News sieht „zu viele Gebäude in Gaza stehen“. Das ist das destillierte Böse im Angesicht der Gaza-Katastrophe, deren Schrecken den Israelis fast nie gezeigt wird.

Dies ist die dunkle Zeit. Die Zeit des barbarischen Angriffs der Hamas und die Zeit des verlorenen Gewissens und der Vernunft in Israel.

 

Kein Recht auf Rache in Gaza

Dienstag, 24. Oktober 2023, Berliner Zeitung

Unser Autor verurteilt den Terror der Hamas gegen Israel, aber auch das, was er als kollektive Bestrafung der Palästinenser ansieht

FABIAN SCHEIDLER

Etwa 1400 Israelis, die meisten davon Zivilisten, tötete die Hamas bei ihrem Angriff auf Israel und nahm 200 Geiseln. Mehr als 4200 Bewohner des Gazastreifens sind laut UN bisher durch die israelischen Vergeltungsschläge gestorben, viele davon ebenfalls Zivilisten. Ein Ende der Bombardements ist nicht in Sicht, eine Bodenoffensive droht. Etwa eine Million Menschen in Gaza sind auf der Flucht, doch können sie den winzigen Küstenstreifen nicht verlassen, weil er überall von Zäunen und Mauern umgeben ist. Sichere Zonen gibt es nicht. Israel hat jüngst auch den Süden Gazas bombardiert, nachdem es zuvor die Bewohner des Nordens aufgefordert hatte, dort Zuflucht zu suchen. Den überlebenden Bewohnern droht durch die von Israel verhängte Totalblockade eine humanitäre Katastrophe, weil es an Wasser, Nahrung, medizinischer Versorgung und Elektrizität fehlt. Da Klärwasseranlagen und Müllentsorgung aufgrund fehlender Energie nicht arbeiten, ist außerdem ein hygienischer Notstand zu befürchten. Israel hat jüngst auch den Übergang zwischen Gaza und Ägypten in Rafah bombardiert, die einzige Straße, über die in nächster Zeit Hilfsgüter nach Gaza kommen könnten – wenn Ägypten und Israel sie durchlassen.

USA stoppen Resolution

Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete in dieser Lage, er stehe „fest an der Seite Israels“. Er hätte auch sagen können, dass er fest an der Seite des Völkerrechts und der Opfer jeglicher Gewalt steht, unabhängig von ihrer Nationalität, ihrem Glauben und ihrer Hautfarbe. Er hätte in diesem Geiste auch ein Ende der Eskalationsspirale fordern können, wie die von Brasilien eingebrachte Resolution des UN-Sicherheitsrates, die allerdings per Veto von den USA gestoppt wurde. All das aber hat er nicht getan, sondern rückhaltlos Partei für eine israelische Regierung ergriffen, die allgemein als die rechteste in der Geschichte Israels bezeichnet wird und die, wie bereits ihre Vorgänger, keinen Hehl daraus macht, dass sie an der Einhaltung völkerrechtlicher Normen kein Interesse hat.

Die seit 16 Jahren andauernde Blockade von Gaza ist eindeutig völkerrechtswidrig. Im Jahr 2017, zehn Jahre nach Beginn der Abriegelung durch Israel, kamen die UN in einer Bewertung der Lage zu folgendem Ergebnis: „Viele dieser Maßnahmen verstoßen gegen das Völkerrecht, da sie die gesamte Bevölkerung von Gaza ohne Rücksicht auf die individuelle Verantwortung treffen und somit einer kollektiven Bestrafung gleichkommen. Darüber hinaus hat die Blockade schwerwiegende Auswirkungen auf die Menschenrechte der Bevölkerung in Gaza, insbesondere auf ihr Recht auf Bewegungsfreiheit sowie auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.“ Im Völkerrecht gibt es auch kein Recht auf Rache. Wie brutal und niederträchtig die Angriffe der Hamas auf Zivilisten auch waren, sie bilden keine Legitimationsgrundlage für ein Bombardement von Zivilisten und die Zerstörung der Infrastruktur einer der am dichtesten besiedelten und ärmsten Regionen der Welt.

Wenn sich nun der Kanzler ohne jede kritische Distanz hinter Israels Regierung stellt, dann lässt er das Völkerrecht hinter sich und macht sich zum Komplizen einer illegalen Vergeltungsaktion, die schon jetzt verheerendere Auswirkungen hat als die Verbrechen der Hamas. Zwar hat Außenministerin Annalena Baerbock inzwischen eingeräumt, dass Israels Recht auf Selbstverteidigung nur „in dem Rahmen, den das Völkerrecht für solche Ausnahmesituationen vorgibt“ gelte. Doch forderte sie weder eine Beendigung der Bombardierungen Gazas noch eine Aufhebung der völkerrechtswidrigen Blockade.

Es stellt sich auch die Frage, welche Lehren die hiesige Politik denn aus der deutschen Vergangenheit gezogen hat. Wenn es eine Lektion aus der Geschichte zu beherzigen gilt, dann doch wohl diese: dass Menschen ungeachtet ihrer Nationalität, Herkunft, Hautfarbe und Glaubensrichtung vor Gewalt und Menschenrechtsverletzungen zu schützen sind. Das gilt für israelische Bürger ebenso wie für die Bewohner des Gazastreifens oder der Westbank. Doch von einem Recht auf Schutz, Verteidigung und Solidarität, das den Bürgern Israels vollkommen zu Recht zugestanden wird, ist in Bezug auf die Palästinenser keine Rede. Nationalität und Hautfarbe entscheiden einmal mehr in Deutschland darüber, wem welche Rechte zuerkannt werden.

„Operation gegossenes Blei“

Deutsche Politiker betonen gerne, dass die Sicherheit Israels „deutsche Staatsräson“ sei. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn diese Sicherheit nicht auf Kosten anderer hergestellt werden soll. Die Politik von Besatzung, Blockade und Bombardierungen, die Israel seit Jahrzehnten praktiziert, hat die Sicherheit der palästinensischen Bürger erheblich untergraben. Sie hat außerdem Israel selbst unsicherer gemacht. Wenn man wie in Gaza mehr als zwei Millionen Menschen auf unabsehbare Zeit einsperrt, ihnen elementare Rechte verwehrt und sie immer wieder durch Bombenangriffe traumatisiert, wie etwa in der „Operation gegossenes Blei“ im Winter 2008/09 mit 1400 palästinensischen Toten (Israel hatte 13 Opfer zu beklagen), dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass irgendwann einige Tausend von ihnen zu massiver Gewalt greifen werden. Wem Israels Sicherheit und die der Palästinenser am Herzen liegt, sollte daran mitwirken, die Spirale der Gewalt zu stoppen und ihre Wurzeln zu beseitigen. Und das bedeutet, die Politik von Besatzung und Blockade zu beenden und den Palästinensern die volle Selbstbestimmung über ihre gesamten Territorien zurückzugeben, so wie es das Völkerrecht vorsieht. Auch wenn dies im Moment schwieriger denn je erscheint, so ist es doch der einzige Weg zum Frieden für Israel und Palästina.

Fabian Scheidler studierte Geschichte und Philosophie und arbeitet als freischaffender Autor für Printmedien, Fernsehen und Theater. 2015 erschien sein Buch „Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation“, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Zuletzt erschien im Piper Verlag „Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen“. Fabian Scheidler erhielt 2009 den Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus.