Von einem 7. Oktober bis zum nächsten.

Aus der Tribüne Jüive

Fast auf den Tag genau, fast ein Jahr nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 fällt eine massive Salve iranischer Raketen – Gott sei Dank ohne allzu großen Erfolg – auf Israel, während ein Terroranschlag 7 Zivilisten in Tel Aviv und an der libanesischen Grenze tötet, läuft die Offensive der IDF gegen die Hisbollah an. Ein düsterer Jahrestag für den düstersten Tag des Grauens, den die Juden seit der Shoah erlitten haben.

„Shluss mit dem Krieg“ verkünden viele, die nicht erkennen oder sehen wollen, dass hinter dem israelisch-palästinensischen Konflikt von Anfang an der Iran steht, der die Hamas und Israel im Gazastreifen gegeneinander aufgebracht hat. Denn ohne den beharrlichen Hass der Mullahs und der Pasdarans hätte die palästinensische Organisation niemals die Mittel gehabt, ihr tödliches Werk über die Jahre hinweg in den Tiefen der Tunnel zu verrichten.

Der für die Offensive gewählte Zeitpunkt war der Zeitpunkt, an dem die Abraham-Abkommen unterzeichnet werden sollten – Vereinbarungen, die den Iran isoliert hätten. Die Al-Aqsa-Sturmflut hatte eine verheerende Wirkung auf diese Vereinbarungen, die sie im Lärm des Krieges vorerst in Vergessenheit geraten ließ.

Mit dem inzwischen offenen Eintritt des Iran in die Konfliktszene manifestiert sich hinter dem Geschrei eines „vom Fluss bis zum Meer befreiten Palästinas“ etwas, das vergessen werden wollte.

Werden die Ereignisse von uns Westlern jetzt durch plötzliche Anfälle von Amnesie und Blindheit vernebelt? Soll unsere Sicht auf das Kommende auf das Angenehme reduziert werden?

Im vergangenen Jahr gab es einen weiteren Moment harter Amnesie, der die Mehrheit der Juden in der Diaspora in einen Zustand schmerzender Hilflosigkeit versetzt: Es ist das fast augenblickliche Vergessen der Gräuel, die am 7. Oktober begangen wurden, zugunsten eines Mitgefühl für die Opfer der israelischen Militärreaktion auf Gaza.

Wir wissen, wie entscheidend dieser Moment für die Konstruktion eines feindlichen Bildes ist. Israelis und Juden der Diaspora werdm sowohl an Universitäten als auch auf den vielen internationalen Bühnen als zionistische Nazis vorgestellt, die  einen Völkermord fortsetzten, der einer Endlösung am palästinensischen Volk entsprach. In vehementen Karikaturen, die durch arabisch-muslimische Judenphobie begünstigt wurden, ist der Stunt der Nazi-Juden nicht neu, aber er hat sicherlich noch nie so wirksam eingeschlagen. Ich werde darauf zurückkommen.

Von der Amnesie bis zur Verwirrung von allem mit allem ist nur ein kurzer Schritt. Den zu tun kann sich in dem asymmetrischen Krieg, den die Krieger des Islam gegen den Westen führen, als sehr effektiv erweisen. So können wir in „Die Bewältigung der Barbarei“, dem radikalsten Brevier des Dschihadismus, diesen prägnanten Text lesen, den zu ignorieren ein Fehler wäre:

„Wir müssen alle Bewegungen, alle Massen, alle Parteien in den Kampf einbeziehen und alle auf den Punkt bringen.“

Ist diese „verdrehte Welt“ nicht diejenige, in der es islamistische Terroristen mit planetarischem Ziel geschafft hatten, uns aufzurütteln? Mit »wir« meine ich all jene, die seit dem »gesegneten Doppelüberfall« vom 11. September 2001 wiederholte und erstaunliche traumatische Erschütterungen erlitten haben, die ihnen in Taten und Bildern von denen zugefügt wurden, die sie durch Terror besiegen wollten.

In welchem mentalen Raum leben wir heute im Westen, um so schnell von den Anfängen eines Mitgefühls zum Vergessen zu wechseln, während sich ein Gefühl des Hasses über diejenigen, die getröstet werden müssten, wie ein gigantisches Feuer ausbreitet. Die Gesichter von Geiseln, die unter unsäglichen Bedingungen gefangen gehalten werden, werden wie Fahndungsbilder von Verbrechern zerrissen? Eine Welt, in der solche psychopathischen Verstümmelungen vorkommen, offenbart sich als eine Welt ohne Bezugspunkte zur Realität, in der die Spuren verschwimmen, in der der Feind vorgibt, ein Freund zu sein, in der der Hass, den wir auf uns selbst haben, mit der Wut derer konvergiert, die uns vernichten wollen.

Wer wird noch in der Lage sein, uns in unseren eigenen Augen wieder lesbar zu machen? Wer hilft uns, die heilsame Distanz einzunehmen, die uns allein von der zwanghaften Faszination für Schreckensbilder lösen kann?

Ich wartete ungeduldig auf das Erscheinen eines Buches von Gilles Kepel, der mit  Mut, Strenge und mit der Breite seines Wissens über die arabisch-muslimische Welt geschrieben hat. Ich werde in „Der Aufruhr der Welt“ mit dem Untertitel „Nach dem 7. Oktober“ eine erschöpfende Analyse der vielfältigen Auswirkungen finden, die durch den „Explosionseffekt“ des 7. Oktober sowie durch die israelische Reaktion verursacht wurden. Unter diesen Folgen taucht ein Narrativ auf – so Gilles Kepel -, das von den Medien der ganzen Welt reichlich genährt wird. Es ist das Narrativ, in dem „Israels Schuld durch die unverhältnismäßig große Zahl palästinensischer Opfer und die Macht seiner Armee bewiesen werden soll. F16 und Merkava gegen mit Matratzen beladene Karren, auf denen verängstigte Kinder saßen; das sind die Bilder, das ist die strukturierte normative Erzählung, die die Herzen und Köpfe der euro-amerikanischen Jugend eroberte und die einen ethischen Riss innerhalb des Westens von gestern verursachte, der als der Norden von heute neu codiert wird.“

Wo aber bleibt die Bösartigkeit antisemitischer Worte und Taten in einer solchen Analyse, die im Laufe des Jahres stetig zugenommen hat, die Einschüchterung, die Schläge, die Gruppenvergewaltigung eines zwölfjährigen Mädchens in Courbevoie im vergangenen Juni durch drei gleichaltrige Kinder, die sie eine schmutzige Jüdin nannten?

Ich kann mich nicht dazu durchringen, mich mit einer so knappen Analyse des fast universellen Hasses zufrieden zu geben, den ich in diesem Jahr von allen Seiten mit gesteigerter Intensität gegen „einen imaginären Juden“ zusammenkommen sah, von dem wir nicht wissen, ob er Israeli, Israelit oder Zionist ist, in dem aber alle Züge zu finden sind, die der Antisemitismus, sowohl der europäische als auch der arabisch-muslimische, in gleicher Weise bewahrt hat: vampirische Grausamkeit, rituelle Kinderopfer, ungezügelte Gier, hinterhältiges Streben nach regionaler und globaler Herrschaft… Was ist der Unterschied zwischen den antisemitischen Karikaturen des Nazi-Stürmers und dem Bild der libanesischen Presse aus dem Jahr 2001? Aber was macht das Datum aus? Wenn ich etwas tiefer schaue, bin ich mir sicher, dass ich heute das gleiche Bild und mit Sicherheit die gleichen Reden finden kann. Denn der Antisemitismus ignoriert die Zeit und wiederholt das gleiche albtraumhafte Antiphon zu jeder Zeit und an allen Orten.

Warum ist es am Ende unmöglich, mit einem Antisemiten zu streiten? Die Antwort scheint mir angesichts des vergangenen Jahres und seiner hasserfüllten antijüdischen Turbulenzen naheliegend: Der Antisemitismus ist eine Produktion des Unbewussten, und das Unbewusste ist kein Momnentum des Dialogs, sondern eine Fabrik von Träumen – guten oder schlechten – oder neurotischen Symptomen, die unter dem Druck der Verdrängung arbeitet, ohne Rücksicht auf Zeit und Realität nach der doppelten Logik von Verdrängung und Verdichtung. wie Freud uns einst gelehrt hat.

Gestatten Sie mir diese Erwähnung, denn ich sehe nicht, wie man sonst den wahnhaften und bedrohlichen Irrealismus verstehen könnte, der – um nur ein Beispiel zu nennen – Mitglieder der LGBT-Gemeinschaft dazu bringt, ein Loblied auf eine Intifada zu singen, die, wenn sie triumphiert, als erstes Ziel hätte, sie von den Dächern der Gebäude zu stürzen.

Wenn wir sehen, wie sowohl an den Universitäten als auch auf der internationalen Bühne Israelis des Völkermords beschuldigt werden, während  der Begriff eigentlich von einem jüdischen Juristen geprägt wurde, um die Schrecken der nationalsozialistischen Vernichtung zu beschreiben. Der „Judeo-Nazi“, eine selbstgefällige Entdeckung hasserfüllter Rachsucht, bleibt das reinste Beispiel für einen Verdrängungsprozess im freudschen Sinne. Er kann nur durch einen Gedanken hervorgebracht werden, der selbst von der Lust zum Mord angetrieben wird. Das Gleiche gilt für die wiederholten Versuche derselben Leute, im Bild Israels und in all seinen Aspekten (wiederum im freudschen Sinne) das zu verdichten, was die intersektionalistische Idiotie des Wokismus, die sich in der gleichen reduktiven Schadenfreude mit den islamo-fundamentalistischen Aufgeklärten und den dunklen Eiferern des globalen Südens verbindet, als das Absolute des Bösen definiert: nämlich das dominante imperialistische und neokoloniale weiße männliche Patriarchat, Was, wie man zugeben wird, für ein so kleines Land etwas viel wäre.

All dies könnte als lächerlich bei Seite geschoben werden, wenn es uns nicht am 7. Oktober und während des ganzen Jahres so heftig vor Augen geführt hätte, wozu der kollektive antisemitische Massenwahn führen kann, der die imaginären Gelüste des Todestriebs erzeugt. Was wir in diesem Jahr gesehen haben und was wir noch nicht zu Ende betrachten konnten, ist die Verbindung zweier Hassgefühle, die miteinander verflochten sind: der Hass auf den Westen, wie der Islam  ihn seit dem 11. September 2001 in die Praxis umsetzt, und der Hass, den der Westen durch die dubiosen Avatare der Woke-Selbstgeißelung gegen sich selbst hegt.

Was haben wir Juden, mit oder ohne Glauben, Israelis oder über die ganze Welt verstreut, dem bösen Wind entgegenzusetzen, den eine beunruhigende globale Neurose gegen uns wehen lässt? Gewiss, die Fluten von hasserfülltem Unsinn, die uns in diesem Jahr an der „Science-Po“ oder an der Columbia überwältigt haben – ganz zu schweigen von den vielen NNarrengerichten der mélenchonistischen Wut – lassen uns ratlos zurück. Aber sie fielen kaum ins Gewicht, wenn wir sie gegen die Erschütterungen abwägen, die die Israelis hinnehmen müssen, die die Geiselnahme zu dem Pogrom hinzugefügt haben, während die Raketen der Stellvertreter ununterbrochen von allen Seiten heranfliegen.

Trotz der Spaltungen, der Spannungen, der innenpolitischen Krisen, trotz der Toten im Kampf, der unerbittlichen Härte des Krieges hält sie etwas zusammen, das meine Bewunderung erzwingt, soweit ich auch von ihnen entfernt sein mag. Was auf dem Spiel steht, ist eine Fähigkeit, um die wir Westler die Israelis beneiden könnten, weil wir sie verloren haben, verstört von der Furcht, unsere köstlichen und bequemen Vorteile verschwinden zu sehen: Es ist die Fähigkeit, ein Volk zu werden, in dem Sinne, dass man seinen Schwerpunkt in sich selbst hat, was auch immer die Prüfungen abverlöangt haben.

Gestehen wir den Juden zu, daß sie die Kunst erfunden haben, sich nur auf sich selbst zu verlassen. Pascal verstand dies, als er in den „Pensées“ schrieb:

Ich sehe zunächst, dass es ein Volk ist, das ausschließlich aus Brüdern besteht, und anstatt dass alle anderen aus der Versammlung einer Unendlichkeit von Familien gebildet sind, ist diese, obwohl sie so seltsam zahlreich ist, alle von einem Mann gekommen; und da sie so alle ein Fleisch und Glieder voneinander sind, bilden sie einen mächtigen Staat einer Familie. Das ist einzigartig.“

Das ist in der Tat einzigartig, und ich bin bereit – so ungläubig ich auch bin – dafür zu beten, dass es so bleibe.

© Thomas Stern

 

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