In die Offensive gehen?

Zum Thema „Antisemitismus“ aus der Tribüne Jüive

Frage:. Was haben Sie am 7. Oktober gedacht oder gefühlt, Herr Val?

Philippe Val:

An diesem Tag dachte ich über die Geschichte Israels nach. Wenn man ein wenig über die Abfolge der Ereignisse seit der Balfour-Deklaration von 1917 Bescheid weiß, dann weiß man, es ist nicht neu, dass es eine arabische Bevölkerung in diesem Land gibt, welche die jüdische Bevölkerung nicht haben  will und die auch Pogrome unternehmen. Die Shoah hat uns vor Augen geführt, zu welcher Tragödie ein Judenhass führen kann. Der 7. Oktober schien mir eine Replik dieser absoluten Tragödie zu sein.

Dennoch bleibt ein Unterschied zwischen dem Antisemitismus der 1930er und 1940er Jahre und dem Antisemitismus von heute. Der Antisemitismus hat sich verändert. Er war schon im 19. Jahrhundert veränder und hatte sich vom christlichen Antisemitismus zum weltanschaulichen Antisemitismus entwickelt, paradoxeweise dank der Einflusses von Karl Marx. In einigen Texten stellt der Enkel eines Rabbiners die Juden als kosmopolitische Kapitalisten dar, die die Armen ruinieren. Seine Verantwortung ist immens. In Frankreich griffen viele sozialistische und anarchistische Theoretiker wie Blanqui oder Proudhon seine Klischees auf, später aber auch Schriftsteller wie André Gide. Dieser Antisemitismus vor dem Nationalsozialismus ist nicht schuldlos, er hat bereits kriminelle Züge, vor allem in einem Land wie dem unseren, in dem Spuren davon bei einer bestimmten kulturellen Elite zu finden sind. Allerdings haben mit der Entdeckung der Vernichtungslager alle französischen Intellektuellen mit dem Antisemitismus gebrochen, mit Ausnahme natürlich einer Handvoll ehemaliger Kollaborateure, die irgendwie Exoten blieben und zu Subjekten massiver öffentlicher Missbilligung wurden. Diese Situation blieb nur kurz bestehen- Schon bald kehrte der Antisemitismus in gewandelter Gestalt auf den Schauplatz der Ideen zurück. Menschen der Linken, die sich während der Besatzungszeit nicht immer korrekt verhalten hatten, entdeckten ein ersatzweises Heldentum, indem sie sich der FLN und sich dem verdeckten Antisemitismus des algerischen Nationalismus anschlossen. Diese Linke ist nicht mehr im Stande, sich religiös oder ideologisch zu artikulieren, sondern hat im Hass auf Israel ihr Manifest gefunden. Die Codierung der Sache hat sich also geändert. Aber die Natur der Sache ist die selbe geblieben. Als Beweis dafür gilt mir  die unglaubliche Schnelligkeit, mit der das Grauen der Ereignisse vom 7. Oktober durch gewalttätige antijüdische Propaganda verschleiert wurde, die vor allem auf die Linke losgelassen wurde. Zum Glück nicht auf die ganze Linke.

In Frankreich hat sich jedoch die gesamte Linke gerade mit der LFI verbündet.  deren ewige Dozenten rufen „Du schließt einen Pakt mit dem Teufel!“, sobald ein rechter Mandatsträger mit einem RN-Mandatsträger einen Kaffee trinkt. Ich betrachtete diese Versimpelung mit Sorge. Als Raphaël Glucksmann bei den Europawahlen gut abgeschnitten hat, habe ich mich gefreut.

Anmerkung von WIKIPEDIA:
Raphaël Glucksmann (* 15. Oktober 1979 in Boulogne-Billancourt) ist ein französischer Journalist, Dokumentarfilmer und Politiker. Von 2008 bis 2012 beriet er den georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili. Seit 2018 ist er einer der Anführer der Partei Place publique (PP). Bei den Europawahlen 2019 und 2024 war er Spitzenkandidat der mit dem Parti socialiste (PS) und dem Parti radical de gauche gebildeten Liste Envie d’Europe écologique et sociale bzw. der aus PS und PP bestehenden Liste Réveiller l’Europe und ist seither Mitglied des Europäischen Parlaments.

Ich dachte, dass die intelligente und liberale Linke die Oberhand gewinnt. Und dann sah ich die Gründung der Neuen Volksfront. Und obendrein François Hollande, der sich vor lauter Scham betrunken mit der radikalen, antizionistischen Linken versöhnt, von der ich weiß, wie sehr er sie hasst. Es ist überwältigend. Glücklicherweise haben sich Manuel Valls und Bernard Cazeneuve von dieser Schande ferngehalten. Sie haben die Ehre gerettet.

Zweifellos, auch wenn sie weiterhin skandieren, dass die Gefahr in erster Linie bei der extremen Rechten liege, und damit eine Fantasie schüren, die die wirklichen Kämpfe verschleiert.

Ich bin mir nicht sicher, ob ein Antisemitismus der  extremen Rechte nicht reine Fantasie ist.

Frage

Vielleicht  sprichst du von Gefühlen. Es ist aktuell vielleicht nicht die extreme Rechte, die die Sicherheit der Juden bedroht. Aber es gibt Prioritäten. Um Hitler zu besiegen, war es notwendig, sich mit Stalin zu verbünden.

Val:

Menschsein besteht nicht darin, zwischen dem Reinen und dem Unreinen zu wählen, sondern darin, inmitten der Tragödie die beste Gelegenheit zu wählen, ihr zu entkommen. Ich bewundere Churchill. Er verabscheute Hitler und empfand einen tiefen Hass auf Stalin. Er wählte das sicherste strategische Bündnis, um sein Ziel zu erreichen: die Niederlage Nazi-Deutschlands. Ich bevorzuge eine Politik des Verräter, und ich halte nicht von Ideologien, die etwas für Idioten sind.

Für Frankreich gilt:: Marine Le Pen hat ihren Vater gefeuert. Ich werde sie zwar niemals wählen, weil ich eine tiefe philosophische Abneigung gegen radikale Parteien überhaupt habe, egal ob sie rechts oder links stehen. Aber das hindert mich nicht daran, zu sehen, dass das massive Problem des Antisemitismus nicht mehr in der RN, sondern auf der Linken liegt. Nicht nur aus historischen Gründen, sondern auch, weil die extreme Linke aus Opportunismus auf den angeblichen Antisemitismus der muslimischen Gemeinschaft setzt, der sich in den europäischen Ländern und gerade in Frankreich etabliert hat.

Das ist kein „vermeintlicher Antisemitismus“! Alle Studien zeigen, dass etwa die Hälfte der europäischen Muslime von Antisemitismus infiziert ist.

Das bedeutet nicht, dass die andere Hälfte nicht antisemitisch sei.

Wenn man in die Provinz geht, sind die Leute nicht antisemitisch, Juden sind ihnen egal; Antisemitismus ist nur eine Manie innerhalb einer kleinen Lehr- und Medienelite. Heute denke ich zum Beispiel, dass die Positionierung von Le Monde ein großes Problem ist. Wenn es nicht die Referenzzeitung wäre, wäre es mir gleichgültig. Aber ihr Einfluss ist erheblich. Die Zeitung diktiert dem Rest der Presse viele Dinge, besonders den öffentlich-rechtlichen Kanälen. Ihre geopolitische Positionierung ist sehr anti-israelisch. Sie veröffentlichten praktisch nichts über die jüdischen Geiseln, die ermordet aufgefunden wurden, nachdem sie gefoltert worden waren! Ich denke, dass General de Gaulle die Dinge mit dieser Formel gut zusammengefasst hat: „In Le Monde ist alles falsch, sogar das Datum.“ Es ist so wahr… Abgesehen davon lese ich Le Monde jeden Tag, weil es auch qualitativ hochwertige Artikel gibt, die wahrscheinlich von sehr unglücklichen Redakteuren geschrieben wurden.

Die extreme Linke gerät leicht in Panik. Wir können sie verstehen. Als Charlie Hebdo 2006 die Mohammed-Karikaturen veröffentlichte, waren die Redakteure ziemlich isoliert. Heute gilt das nicht mehr. Ein sehr großer Teil der französischen Gesellschaft und sogar viele Medien stehen hinter Charlie Hebdo. Ich habe den Eindruck, dass wir uns dem Ende eines Zyklus nähern. Ich denke, dass die Antizionisten, die sich selbst als Avantgarde betrachten, in Wirklichkeit eine konformistische Nachhut sind.

Frage

Steht Präsident Emmanuel Macron auf Ihrer Seite?

Val:

Emmanuel Macrons Software funktioniert so, dass er sich zuletzt dem intellektuellen Dogma der extremen Linken anpassen wird. Was für eine Enttäuschung! Zumal die meisten Franzosen dieses Dogma ablehnen. Daher ihr Misstrauen gegenüber Politikern, die es nicht wagen, sich mit dem Problem des Islamismus auseinanderzusetzen. Sie wagen es nicht nur aus intellektuellem Konformismus nicht, sondern auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht, weil unser Land mit der arabischen Welt Handel treibt. All dies ergibt einen besänftigenden, angenehmen und lauwarmen Überguss. dessen sich die Führungskräfte bedienen, sobald es zu simmern beginnt. Ich habe zehn, fünfzehn Jahre lang über die ganze Welt berichtet und bin überall intelligenten Menschen begegnet, die mich anflehten: „Warte, denn Europa ist unsere einzige Hoffnung. Wir wollen so sein wie du! Sie wollen frei reden dürfen, sie wollen den Sex haben, den sie wollen, die Bücher lesen, die sie mögen, reisen und trinken, was ihnen schmeckt. Für mich existiertn europäisches Volk: Mozart, Fellini, Chaplin, Proust, Goethe, Dante, Cervantes, Erasmus, Kundera. Ich habe keine Skrupel zu verkünden, dass wir den europäischen Geist verteidigen müssen, der mit der Art und Weise zu tun hat, wie wir seit der Antike über unseren Kontinent witzeln konnten. Der 7. Oktober markierte eine Pause. Der Ton muss sich ändern. Wir dürfen uns nicht mehr nur verteidigen, wir müssen angreifen. Wir müssen sagen: „Wir wollen kämpfen“ – intellektuell natürlich. Es ist nicht mehr an der Zeit, zu beschwichtigen, sondern voranzumachen. Es gilt, unser gemeinsames Erbe nicht zu verlieren. Europa wurde mit jüdischem und griechischem Denken gegründet, gebaut, erfunden. Antisemitismus ist immer ein europäischer Selbstmord, eine Form des Selbsthasses. Es wird immer wieder wiederholt werden müssen, dass „ein Angriff auf einen Karikaturisten von Charlie, einen Pariser, der auf einer Terrasse etwas trinkt, einen Rockfan, einen Juden, der in einem koscheren Supermarkt einkauft, ein Angriff auf Frankreich ist“. Wir haben den Kanal voll! Um den intellektuellen Kampf zu führen, fangen wir  mit dem Thema an, das die Leute beschäftigt: mit der Einwanderung. Das ist der erste Teil des Kampfes. All das müssen wir wieder in die Debatte einbringen, sonst ist es nutzlos. Ich kann keine Argumentation mehr hören wie: „Islamismus ist nicht gut, aber er hat nichts mit dem Islam zu tun.“ Der Islamismus hat alles mit dem Islam zu tun. Es gibt ein Problem innerhalb dieser Religion: Wenn man es nicht sagt, sagt man nichts. Ich sage nicht, dass alle Muslime Terroristen sind, sondern dass alle Terroristen Muslime sind. Keinesfalls dürfen wir aufgeben. Und dann möchte ich mit einer Note der Hoffnung schließen. Wir sollten mehr von dem beobachten, was im Iran passiert. Ich denke, wenn das Mullah-Regime zum Segen aller zusammenbricht, würde das alles verändern, denn es ist die wahre Hochburg der Muslimbruderschaft. Es mutet seltsam an, das zu sagen, weil der Iran schiitisch ist, während die Muslimbruderschaft sunnitisch ist. Aber Khomeinis Revolution war in Wirklichkeit viel sunnitischer, als wir denken. Dabei steht uns und Israel das iranische Volk viel näher als wir annehmen. Wenn der Iran morgen die Mullahs loswerden würde, würde sich eine ganze Sektion des Antisemitismus in Luft auflösen, da bin ich mir sicher.

Philippe Val

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert