Bibi Netanjahu im Interview

Wer das Interview Netanjahus gelesen hat, erinnert sich vielleicht an das Foto vom Platz des Himmlischen Friedens; ein Student stellt sich einem Panzer in den Weg; der Panzerfahrer versuchte, an dem Studenten vorbeizukommen. Man stelle sich vor, ein Student aus Gaza, eine schwangere Palästinenserin oder ein kleines Kind würde diesem Vorbild folgen und sich in den Weg eines israelischen Panzers stellen. Wenn man den Gedankengang nachvollzieht, den Netanjahu im Interview offenbarte, wäre das Kind selbst schuld, wenn es überrollt werden würde. Der chinesische Panzerfahrer sah in dem Studenten letztlich einen Mitbürger, das kleine Kind in Gaza ist seit seiner Geburt ein Feind.

Netanjahus Interview ist simultan eine Einlassung eines wegen schwerster Verbrechen verfolgten Beschuldigten. Nach gängiger Praxis der Staatsanwaltschaften in Deutschland hat er zugegeben, den Tod von 40.000 Zivilisten billigend in Kauf genommen zu haben und weitermachen zu wollen. Natürlich begeht auch der Hamas-Kämpfer ein Kriegsverbrechen, indem er seine Kampfstellung im Schutz und Schatten geschützter Personen bezieht. Aber der IDF – Kämpfer weiß darum und schießt trotzdem. Der Irrsinn besteht darin, dass er seine Kollateralschäden für rechtens hält.

Es gab einst einen polnischen Fluch: „Die Deutschen sollen dich besetzen und die Russen dich befreien“. So ist es: Israel ist kein westlicher Staat, sondern eher eine verselbstständigte politische Einheit der russischen Föderation. „Die Russen“ hatten ein Geiseldrama in einem Moskauer Theater beendet, indem sie es stürmten, wobei die Hälfte der als Geisel genommenen Zuschauer ums Leben kam.

Von den Geiseln des 7.10. (Jahrestag der Schlacht von Lepanto) wurden ca. 100 ausgetauscht, einige Ostasiaten einfach freigelassen, etwa 10% der übrig gebliebenen durch israelisches „friendly“ Feuer getötet und ca. 100 sind immer noch ihrem Schicksal überlassen.

Kann ein Normalo-Jude diesem Staat als dem Seinen trauen?  Das Leben von 40.000 Arabern allen Alters und Geschlechts wiegt nichts im Verhältnis zu den inzwischen 800 Gefallenen IDF-Wehrpflichtigen. 1 Israeli wiegt 50 tote Araber auf, scheint die Rechnung des Generalstabs zu lauten. 100 Geiseln jüdischer Abstammung haben nicht den Wert von 5.000 Arabern. Das war ungefähr die Zahl der in israelischer Haft schmachtenden Palästinenser, die freigelassen werden sollten. Sie werden wohl weiterschmachten müsen.

Ein „Deal“ ginge  gegen den Strich der israelischen Staatsraison.  Wie hieß es bei der Hitlerjugend? „Du bist nichts, dein Volk ist alles“. Ein Israeli kann daraus folgern, dass er außerhalb seines Volksverbandes ein Nullum sein könnte.

Wenn man nicht zu den im Westen wenig geschätzten Ostjuden zählt, dann erinnert man sich, dass das Projekt einer „jüdischen Heimstatt“ in Palästina von England und den USA aufgenommen wurde, nachdem diese Länder die Zuwanderung von Ostjuden beschränkt hatten (Alien-Act). Die USA hatten 3.500.000 russische Juden reingelassen, die Briten das Londoner Eastend jüdisch bevölkert. Weitere Millionen russischer Juden wollten das Zarenreich verlassen; da kam die Herzl-Idee gerade recht. Das Witzige ist nur, dass die größten Propagandisten dieser Idee nicht nach Israel „zurückkehrten“. Nahum Goldmann (in: Mein Leben als deutscher Jude) meint, „die Juden“ hätten ihre mittelalterliche Sprache mitgenommen, als sie nach Osten wanderten; wie dem auch sei, sie haben offenbar ihre russische Moral und ihr zaristisches Verständnis vom Wert menschlichen Lebens nach Palästina mitgenommen.

Vielleicht ist dies der Grund, warum auch viele Menschen im Westen instinktiv den „einzigen jüdischen Staat“ ablehnen. Man will auch nicht die Russen an Rhein und Seine haben, und gewinnt an Verständnis, dass auch den Arabern trotz ihres mohammedanischen Aberglaubens und ihrer orientalischen Despotie eine russisch geartete Gewaltherrschaft Missvergnügen bereiten muss.

Netanjahu versteht das nicht. Israel ist der einzige jüdische Staat auf der Welt. Das soll rechtfertigen, dass der Staat keine geschriebene Verfassung westlicher Art mit Gewaltenteilung, Grundrechten und Tralala braucht. Es gibt noch andere ähnliche Einzelexemplare solcher Staaten wie Tibet als buddhistischer Staat, die Mönchsrepubliken am Berg Athos, jesidische Gemeinden im Libanon und im Irak, kommunale Einheiten wie Drusen in Israel, und in den USA Mormonen, die seit 1895 als Unionsstaat Utah hingenommen werden. Man könnte auch Japan hinzuzählen mit seinem Shintoismus. Nur der Teufel weiß, in welchem Gebetbuch die Schotten heutzutage blättern (aus Lilli Bolero). In welcher Zeit leben wir eigentlich? In einer des Rückfalls in die der Katharina von Medici? Alles okay, aber fördern muss man als weltanschaulich Neutraler solche Sonderstaatsexistenzen doch nicht.

von Lobenstein

 

 

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