Von Abraham Melzer
Irgendwann stellt sich jeder Israeli die Frage: Müssen wir zigtausende Menschen in Gaza töten? Objektiv fehlen für die Fortsetzung des Krieges die rationalen Gründe, emotionale Beweggründe haben längst deren Platz eingenommen. Bei den einen sind es Gelüste nach Rache oder, wie es viele Kommentatoren in Israel behaupten, Netanjahus Angst, dass ein Friedensvertrag sein politisches Ende bedeuten könnte. Dieser Krieg entwickelt sich immer mehr in Richtung eines Genozids am palästinensischen Volk. Längst spielt es keine Rolle mehr, ob israelische Politiker und einige Intellektuelle es nicht zulassen wollen, dass dieser Krieg so genannt wird. Er hat sich längst zu einem Kriegsverbrechen entwickelt, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen das Völkerrecht. Es hilft der Kriegspartei der Israelis nicht mehr, die Kriegsgegner in Israel als Antisemiten zu diskreditieren. Die Diffamierung als Antisemit wirkt nicht mehr. Das böse Wort hat seine Schärfe verloren und wird von vielen nicht mehr ernst genommen. Es ist eben nicht jeder Antisemit, der sich gegen Israel ausspricht, weil zu viele Menschen reale Gründe hätten. Juden zu hassen, zumindest die Juden, die in Israel leben und den verbrecherischen Krieg fortführen wollen.
Während andere Völker ein, zwei oder vielleicht drei Generationen in den Verlauf ihrer Geschichte zurückblicken, scheinen die Juden in der Retrospektive Weltmeister zu sein. Sie blicken zurück bis hin zur Erschaffung der Welt und vergleichen zeitnahe Ereignisse mit Situationen, in denen Juden unter den Pharaonen ausgesetzt waren. Der Judenhasser Haman im antiken Persien und der Judenmörder Chemelnietzky in der Ukraine im 17. Jahrhundert sind präsente Zombies. Die gesamte Weltgeschichte wird für sie zu einer Geschichte des Antisemitismus. Die Nazis erschienen nur eine als eine Re-Inkarnation des biblischen Volkes Amalek, das die unschuldigen und friedfertigen Juden, als sie aus der ägyptischen Knechtschaft entflohen waren, in der Wüste überfallen hatte. Immer sind wir die Opfer und immer sind die anderen die Täter.
Das hat sich allerdings in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Gründung des Staates Israel verändert und die Juden drehten den Spieß um: Jetzt wurden sie die Täter und ein anderes Volk das Opfer. Mit der Macht aller Propagandamittel bis hin zur Geschichtsfälschung versuchen die Israelis und die zionistischen Juden ihre Legende als ewige Opfer fortzuspinnen.
Der Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 ist für die Israelis und für viele Juden wieder der ultimative Beweis, dass die ganze Welt die Juden hasst. Für sie ist klar, dass sie heimtückisch und grundlos überfallen und ermordet wurden, und dass dies wieder ein Versuch des Genozids an allen Juden der Welt, von Moskau bis New York war. Natürlich wurden die unschuldigen Israelis ermordet, nur weil sie Juden waren und, wie der jüdische Pulitzer-Preisträger Joshua Cohen schreibt, „man könnte das noch weiterspinnen und sagen, die Hunde, die an jenem Tag starben, wurden getötet, weil sie jüdische Hunde waren. In vielen der Kommentare israelischer und jüdischer Intellektueller stieß ich nicht auf ein einziges Wort über das, was die Israelis seit mehr als 75 Jahren den Palästinensern angetan hatten und immer noch zufügen. Stattdessen wurde der 7. Oktober als aktuelles Eintreffen des uralten Geschichtsverlaufs jüdischen Leidens betrachtet. In der Zeit, in der nationalistische Religiosität und jüdischer Extremismus auf dem Vormarsch sind, wurde an Juden ein Massaker verübt. Und Joshua Cohen vergisst nicht zu erwähnen, dass es am 7.10.23.säkulare Juden waren, die betroffen wurden. Er betont noch in vollkommener Selbstgerechtigkeit, die ihn naiv erscheinen lässt, dass „Juden getötet wurden, weil sie Juden waren“.
Im Massaker vom 7. Oktober sieht Cohen wie viele andere Israelis und Juden in der Diaspora, die Wiederkehr der ewigen Geschichte des alten Amalek, die vor 3000 Jahren stattgefunden haben soll. Sie müsste den Menschen des 21. Jahrhunderts wie ein Märchen aus 1001 Nacht vorkommen. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vergaß in seinen Ansprachen Zum Kriegsbeginn nicht, den biblischen Satz zu wiederholen, „was Amalek euch angetan hat….“ Jedes Jahr, wenn ein Jude die Geschichte von Amalek liest, soll ihm das Gefühl kalt den Rücken hinunterlaufen, er „sei selbst von den blutrünstigen Amalekiten angegriffen und nur durch ein Wunder errettet worden“. Die Erinnerung eines Juden reicht nicht 3000 Jahre zurück, sondern es ist die Erinnerung an den Geschichtsunterricht, der 3000 Jahre zur Gegenwartsgeschichte verdreht. Als Beispiel für solche Erinnerungspflege verweise ich auf Marek Halter (in: Abraham : Wege der Erinnerung.und ähnliche Werke ) . Alle jüdischen Opfer von Amalek sind präsent, aber die Opfer ihrer eigenen Gewalt, die nicht so alt sind, sind bereits aus dem Kurzzeitgedächtnis entschwunden. Sie, die Juden, nennen den 7. Oktober den tödlichsten Tag für die Juden seit dem Holocaust. Sie stellen damit die Terrortat vom 7. Oktober auf derselben Stufe wie den Holocaust, bei dem ein Drittel des jüdischen Volkes vernichtet wurde. Wenn der Tag des Massakers nicht traurig wäre, wäre seine Einstufung lächerlich.
Fast alle Israelis und Palästinenser unserer Generation wurden in diese Atmosphäre der Gewalt hineingeboren. Trotz mehrerer Versuche einer Befreiung aus dieser Zwangslage hält dieser Zustand seit bald 100 Jahren unverändert an. Auf jede Aktion der Palästinenser folgt eine Vergeltung der Israelis oder vice versa. Ein Problem ist dabei, dass auf israelischer Seite eine hoch gerüstete Armee gegen weit unterlegenen Widerstand auftritt.
1983 schworen sich Rabin und Arafat „nie wieder Krieg“: „Wir kommen aus einem gequälten Land, trauernden Land…Wir wollen versuchen, den Feindseligkeiten ein Ende zu bereiten. Es reicht mit Blut und Tränen. Es reicht!“ Offensichtlich reichte es doch nicht. Israelis und Palästinenser sind derart traumatisiert, dass sie nicht mehr miteinander können. Sie wollen das Land wie eine Pizza teilen, und während sie darüber verhandeln frisst die israelische Seite inzwischen Stück Land für Stück Land. Am Ende bleibt für die Palästinenser nichts mehr übrig.
Lee Yaron rekonstruiert in Ihrem Buch Israel – 7. Oktober den Tag, der in die Geschichte Israels und des Nahen Ostens als schwarzer Sabbat eingehen wird. Sie zeichnet die Porträts der Ermordeten und geht in der Geschichte ihrer Familie zurück bis ins 15. Jahrhundert, als ob die Vertreibung der Juden aus Portugal irgendeinen Einfluss auf die desolate heutige Situation zwischen Israelis und Palästinenser haben könnte. Sie will uns belehren, dass das Massaker eng mit dem Holocaust verbunden sei. Das lässt sich nicht darstellen, auch wenn sie es sich wünscht. Das Massaker vom 7. Oktober hat keinen Bezug zum Holocaust, aber Bezüge zu Gaza und zu allem, was in Gaza seit Jahren passiert, Das Massaker hat auch einen Bezug zur Nakba, der Katastrophe der Palästinenser, die für letztere immer noch keinen Abschluss gefunden hat. Im Gegenteil zu den Juden, deren Shoa ultimativ abgeschlossen ist, und mit der es nichts auf der Welt Vergleichbares gibt, stellt der Aufstand der Palästinenser vom 7. Oktober 2023 etwas Eigenes dar. Dies nicht nur wegen der unvergleichbaren Zahl der Opfer an nur einem Tag, sondern vor allem wegen der unvergleichbaren Motive zu dem Anschlag. Während die Nazis keine rationalen Gründe hatten die Juden zu hassen und zu ermorden, so kann man solches von den Palästinensern nicht behaupten. Sie hatten jede Menge rationale und erst recht emotionale Gründe, angefangen mit ihrer Vertreibung aus ihrer Heimat durch die Juden bis zu ihrer Behandlung durch die Israelis, die sie zu Menschen zweiter und dritter Klasse gemacht haben.
Vielleicht war der Überfall der Hamas zu brutal und vielleicht auch erschreckend barbarisch. Sicherlich war er eine Tragödie. Aber muss Israel derart brutal und selbst mörderisch antworten und in Kauf nehmen, dass Gaza nicht nur zerstört wird, sondern total ausgelöscht wird. Ist das nicht auch menschengemachter Terror gegen unschuldige Zivilisten, Frauen, Kinder und Säuglinge, die nicht nur durch Bomben, sondern auch an Hunger und Kälte sterben? Der Auftrag Israels bestand darin, die Juden aus der Opferrolle zu befreien. Die Politik Israels, nicht erst seit dem 7. Oktober 2023, treibt die Juden aber aufs Neue in diese Rolle zurück. Israel ist schon lange nicht mehr das sicherste Land für Juden. Und die Israelis werden inzwischen weltweit verachtet, nicht weil sie Juden sind, sondern weil sie eine völkerrechtswidrige Politik treiben. Israelis wurden am 7. Oktober 2023 getötet, nicht, weil sie Juden waren, sondern weil ihre Regierung seit Jahrzehnten eine palästinenserfeindliche Politik macht. Es ist das in der Charta der Menschenrechte verbriefte Recht der Palästinenser, sich dagegen zu wehren. Die Autos, die an diesem Tag angezündet wurden, verbrannten nicht, weil sie jüdische Autos waren, schon weil Autos nur Autos keine Menschen sind. Es gibt keine jüdischen Autos wie es auch keine katholischen oder protestantischen Autos gibt. Aber für Autoren wie Joshua Cohen gibt es nur Juden, oder nichts.
Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll.
Vielleicht analog zu Müllers Milch Werbung:
Alles Antisemiten, oder was?
Zufällig lese ich gerade in der „Jüdischen Allgemeinen“ ein Interview deren Redakteure mit 4 aus Israel nach Berlin verzogenen Juden; einige Passagen passen so gut zu meinen Ausführungen, dass ich diese aus dem Gespräch von Joshua Schultheis und Mascha Malburg über jüdische Identität und wachsenden Antisemitismus mit Roy, Shay, Tal und Hila hier anfügen möchte:
Frage der „JA“:
Berlin war lange ein Magnet für junge Israelis. Ist das noch so? Ihr habt Israel verlassen und seid in die deutsche Hauptstadt gezogen.
Roy: Ich wollte etwas aus meinem Leben machen, und in Tel Aviv ging das einfach nicht. Dort musste ich wie verrückt arbeiten, um meine Rechnungen bezahlen zu können. Manche brauchen drei Jobs, um in Tel Aviv über die Runden zu kommen. Man kann die Stadt nicht genießen.
Hila: Ich wollte Israel einfach nur verlassen, weil es in jeder Hinsicht ein schreckliches Land ist. Es ist rassistisch, es wird mehr und mehr religiös, es ist wirtschaftlich instabil. Es gab nichts, was ich wirklich mochte, außer das Essen. Ich habe erkannt, dass die Besatzung die israelische Gesellschaft von innen heraus ruiniert. Ich wollte kein Teil davon bleiben. ….
Shay, warum hast du Israel verlassen? Als Israel immer teurer, immer nationalistischer und religiöser wurde, bin ich endgültig nach Berlin gezogen. Ich fühle mich in Berlin jüdischer. In Israel konnte ich nichts mit den Religiösen anfangen. Wenn ich in Berlin jemanden sehe, der eine Kippa trägt, freue ich mich. Ich feiere auch Chanukka Hila: Man wird jüdischer außerhalb Israels. Shay: Ich bin überzeugter Atheist. Aber ich bin in Deutschland damit konfrontiert, dass mich Leute als Juden sehen. Roy: Ich hatte aschkenasische Freunde, die sagten, ich würde jetzt ins »Reich« ziehen. Meine Familie hatte gar kein Problem damit und ich auch nicht. Aber wenn ich dauernd daran denken würde, was hier passiert ist, wenn ich durch Berlin laufe, würde ich verrückt werden. Man muss nach vorn blicken. Tal: Für meine Eltern war das absolut in Ordnung. Nur meine Mutter meinte, dass mein Großvater das gar nicht gut gefunden hätte. Tal: Ich wollte schon lange nach Berlin ziehen. 2023 fiel dann aber meine Entscheidung, wegzugehen.
Der 7. Oktober war auch eine Zäsur für Israelis im Ausland. Wie hat sich euer Leben in Berlin seitdem verändert?
Hila: Mein Blick auf Israel ist noch kritischer geworden. Ich lehne die Reaktion des Landes auf den 7. Oktober ab. Viele Leute in Berlin sind nicht in der Lage, beide Seiten zu sehen: Sie interessieren sich nur für das Schicksal der Juden oder nur für das der Palästinenser. Ich habe mein ehrenamtliches Engagement aufgegeben. An meinem Sicherheitsgefühl hat sich aber nichts geändert. Ich habe keine Angst, in Neukölln auf die Straße zu gehen und Hebräisch zu sprechen.
Es gab in Neukölln aber Angriffe auf Israelis, nur weil sie Hebräisch gesprochen haben.
Hila: Ich verstehe Arabisch und weiß, was die Leute um mich herum reden. Sie geben mir keinen Anlass, Angst zu haben. Ich habe kein Problem damit, Taxifahrern zu sagen, woher ich komme. Mit palästinensischen Fahrern, die ich in diesem Jahr getroffen habe, hatte ich ein verständnisvolles Gespräch. Wenn ich in einen arabischen Supermarkt gehe, fühle ich mich besser, als wenn ich zu Netto gehe. Ich fühle mich mit den Menschen in Neukölln verbunden: Sie sehen aus wie ich, sie haben eine ähnliche Kultur. Ich teile nicht die Vorstellung vieler Israelis, dass alle Palästinenser Juden töten wollen. Wenn ich in den israelischen Nachrichten sehe, wie Menschen eine Flasche Champagner öffnen, um den Tod des Hamas-Chefs Sinwar zu feiern, dann bin ich angewidert. Man empfindet keine Freude, dass jemand getötet wurde. Roy: Leider habe ich Freunde verloren und mich isoliert. Früher bin ich immer zu einer türkischen Frau zum Haareschneiden gegangen. Am 7. Oktober hat sie dann auf WhatsApp gepostet: »Free Palestine!« Das war’s für mich. Ich habe keine Kraft, Leute über die antisemitischen Wurzeln der palästinensischen Bewegung aufzuklären. Ich bin enttäuscht von den Deutschen. Wir hatten ein rotes Dreieck an unserem Nachbarhaus, »Intifada« stand darunter. Mein Mann hat es überstrichen. Diese Hilfe hätte ich mir von allen Deutschen gewünscht. Es scheint mir, dass es vielen Deutschen einfach egal ist. Ehrlicherweise hoffe ich mittlerweile auf die AfD, damit sich etwas ändert. Die AfD sollte vielleicht nicht stärkste Kraft werden, aber doch Teil einer Koalition. Sie sind die Einzigen, die endlich durchgreifen wollen: Kriminelle rausschmeißen und Leute abschieben, die nicht loyal zu Deutschland sind. Ich weiß zwar nicht, ob die AfD wirklich etwas unternehmen könnte. Aber was wird passieren, wenn wir weiter nichts tun? Hila: Das ist doch das israelische Narrativ, dass du hier hineinbringst. Immer harte Kante zeigen. Das funktioniert dort schon nicht. Wir müssen demokratische Wege finden, zum Beispiel in Bildung investieren.
Tal: Ein Taxifahrer hat mich rausgeschmissen, weil ich am Telefon Hebräisch gesprochen habe. Ich gehe nicht mehr nach Neukölln. Wenn du Angst um dein eigenes Leben bekommst, dann ändert sich die Perspektiven.
Überlegst du, nach Israel zurückzuziehen?
Shay: Nicht jetzt. Ich bin viel zu kritisch gegenüber dem, was in Israel passiert. Aber wenn es in Deutschland wirklich so schlimm wird, wie ich befürchte, könnte Israel irgendwann der einzige sichere Hafen sein. Ich werde also nicht zurückkehren, weil ich es will, sondern weil ich es vielleicht tun muss, um zu überleben.
Gibt es irgendetwas, dass dich überzeugen könnte, nach Israel zurückzuziehen?
Hila: Frieden, Mietendeckel, öffentlicher Nahverkehr am Schabbat …
Roy, was ist mit dir – hast du einmal überlegt, zurück nach Israel zu ziehen?
Roy: Nein, niemals. Ich fühle mich Deutschland so verbunden. Ich liebe dieses Land. Und ich habe mehr als nur die Hauptstadt gesehen. Die Seen rund um Berlin! Die grünen Felder! Rügen! So wunderschön! Nein, ich will nicht zurück. Ich vermisse zwar dieses Grundvertrauen in Israel: Wenn etwas Schreckliches passiert, unterstützen wir uns gegenseitig. In Deutschland weiß ich nicht, wer zu mir. Das ist höllisch beängstigend. Dass mir ausgerechnet das Zusammengehörigkeitsgefühl fehlt, ist schon komisch. Genau vor dieser Enge bin ich damals weggelaufen.