von Arn Strohmeyer
Der Zentralrat der Juden in Deutschland rät deutschen Juden davon ab, die Kippa zu tragen. Ist es schon wieder so weit? Ist die SA schon wieder unterwegs auf deutschen Straßen? Der Antisemitismus sei stark im Ansteigen, heißt es. Die Muslime sind für den Zentralrat der Stein des Anstoßes, von dieser Seite kommt angeblich die Bedrohung. Nun mag es dumme Anpöbeleien, stupide Schmähungen gegeben haben, von schweren Anschlägen ist in Deutschland bisher glücklicherweise nichts bekannt. Wirkliche Aggressionen solcher Art haben sich in den letzten Jahren eher auf Muslime verlagert, die eigentlich viel mehr Grund haben, sich in diesem Land bedroht zu fühlen – siehe PEGIDA und seinen Anhang. Islamophobie ist viel verbreiteter als Antisemitismus.
Wie ernst sind die Warnungen vor neuem Antisemitismus zu nehmen oder handelt es sich hier lediglich um eine propagandistische Panik-Kampagne? Vor einem Monat gab eine Bertelsmann-Studie über das Verhältnis der Deutschen zum Holocaust auch Aufschluss über das Verhältnis der Deutschen zu Juden bzw. zu Israel. Dass die Mehrheit der Deutschen einen Schlussstrich unter das Kapitel Nationalsozialismus und Holocaust ziehen will, ist seit langem bekannt, aber sehr bedauerlich, denn Schlussstriche sind meistens eine Weigerung, sich mit einer schlimmen Vergangenheit auseinanderzusetzen – und Verdrängung macht niemals frei. Interessant sind aber auch andere Zahlen: Die Sympathiewerte für Israel sinken in Deutschland dramatisch. Im Jahr 2014 hatten nur noch 36 Prozent der Deutschen eine positive Meinung von diesem Staat, 2007 waren es noch 57 Prozent. Das ist eine deutliche Aussage, und der Hintergrund ist klar: Der Nahost-Konflikt, also Israels unrechtmäßiges Vorgehen gegen die Palästinenser hat seine deutlichen Spuren hinterlassen.
Zwischen der ersten und der zweiten Befragung lagen zwei Gaza-Kriege (2008/09 und 2014), in denen eine wehrlose Bevölkerung einem furchtbaren Beschuss und Bombardement ausgesetzt war, wobei Tausende Palästinenser getötet wurden, bei kaum eigenen israelischen Verlusten. Und auch die Besatzungspolitik in der Westbank mit permanenten Landraub, Siedlungsbau, Unterdrückung der Menschen dort, der Zerstörung von Häusern, Brunnen, Feldern und Olivenhainen (Polizei und Armee schauen zu und greifen nicht ein) – wen kann ein solches Vorgehen gleichgültig lassen, wenn er sich sein Empfinden für Gerechtigkeit und Moral bewahrt hat?
Täglich überfallen jüdische Siedler Dörfer der Palästinenser, Brandanschläge auf Moscheen sind an der Tagesordnung, Sprechchöre und Graffitis wie „Tod den Arabern!“ oder „Araber in die Gaskammern!“ oder Schmähparolen an christlichen Kirchen gehören inzwischen zum Alltag. Moslems in Deutschland registrieren solche Vorgänge sehr genau, die moderne Medienwelt bringt diese Ereignisse bis ins Wohnzimmer. Und da Israel vorgibt, für alle Juden in der Welt zu sprechen und der Zentralrat rückhaltlos hinter Israel steht, darf man sich nicht wundern, dass der Hass bei Moslems und Bürgern aus arabischen Staaten größer wird und sich auch gegen Juden in Deutschland richtet. Ist das aber gleich Antisemitismus? Die sinkenden Sympathiewerte für Israel sind auch deshalb erstaunlich, weil die deutschen Medien – wohl aus Angst vor dem Antisemitismus-Vorwurf – nur sehr zurückhaltend oder gar nicht über Israels Vorgehen in den besetzten Gebieten berichten.
Das Problem eines angeblich neuen Antisemitismus ist ja keineswegs neu. Auch die Vorgänge in Frankreich und Dänemark haben keine neue Situation geschaffen. Schon 2008 hat der jüdisch-amerikanische Historiker und Experte für jüdische Geschichte und Kultur, Matti Bunzl, über den Hass junger Moslems in Frankreich geschrieben, den er vom alten traditionellen Antisemitismus absetzt: „Was den neuen vom alten Antisemitismus unterscheidet, ist das übergeordnete Projekt. Die traditionelle Form des Antisemitismus war darauf ausgerichtet, die Juden aus den Nationalstaaten auszugrenzen. Dies konnte verschiedene Formen annehmen, von der polemischen Behauptung der Inkompatibilität der Juden mit der Nation bis zum Genozid. In all diesen Varianten dieses alten Antisemitismus wurden Juden als Außenseiter in den europäischen Nationalstaaten hingestellt, als Eindringlinge in einer Fantasie von ethnischer Reinheit.“
Und weiter schreibt Bunzl: „Sofern der neue Antisemitismus von Rechtsextremen propagiert wird, ist diese Logik immer noch am Werk. Wenn wir uns jedoch dem Phänomen von seiner islamischen Seite her nähern, sehen wir einen gänzlich anderen Plan. Wenn junge ausgegrenzte Muslime französische Juden angreifen, dann nicht aus dem Interesse heraus, ein ethnisch reines Frankreich zu schaffen. Auch behaupten sie nicht, dass Frankreichs Juden nicht zu Europa gehören. Im Gegenteil, sie greifen Juden eben deshalb an, weil sie sie als Teil einer europäischen Hegemonie begreifen, die sie nicht nur in Frankreich marginalisiert, sondern die in ihrer Sicht auch für das Leiden der Palästinenser verantwortlich ist. In der arabischen Welt wird Israel letztlich vor allem als europäische Kolonie begriffen. Die Gewalt von Muslimen gegen Juden in Europa als Ausdruck antikolonialen Kampfes zu bezeichnen, heißt nicht, sie zu verteidigen. Es macht jedoch klar, wie sehr sich alter und neuer Antisemitismus unterscheiden. Während ersterer darauf angelegt war, Juden aus den Nationalstaaten Europas auszugrenzen, greift letzterer Juden eben deshalb an, weil sie Teil Europas sind.“
Bunzl warnt aber vor falschem Alarm und bezeichnet den „neuen Antisemitismus“ verglichen mit dem alten als „irrelevant“ und „bedeutungslos“. Noch weiter geht der Israeli Uri Avnery, der jetzt in einer Kolumne schrieb: „All diese Gewalttaten [in Paris und Kopenhagen] wurden von jungen Muslimen begangen, die meistens arabischer Abstammung sind. Sie waren und sind ein Teil des fortwährenden Krieges zwischen Israel und und den Arabern. Das hat nichts mit Antisemitismus zu tun. Sie haben nichts mit dem Pogrom in Kishinew [1903] und nichts mit den Weisen von Zion zu tun.“ Er sieht den Grund für die Gewaltbereitschaft junger Muslime im Hass auf ihre Gastländer, weil sie sich dort verachtet, gedemütigt und diskriminiert fühlten. Der zweite Grund sei der fortdauernde arabisch-zionistische Konflikt, der mit der Masseneinwanderung von Juden ins arabische Palästina begonnen habe, sich mit der langen Liste von Kriegen fortgesetzt habe und jetzt in voller Blüte stehe. Praktisch jeder Araber in der Welt und die meisten Muslime seien gefühlsmäßig mit diesem Konflikt eng verbunden. Das alles habe nichts mit Antisemitismus zu tun. Und zur angeblich neuen Antisemitismus-Welle schreibt Avnery: „Warum also besteht die ganze israelische Propaganda-Maschinerie einschließlich aller israelischen Medien darauf, dass Europa einen katastrophalen Anstieg von Antisemitismus erlebt? Um die europäischen Juden nach Israel zu rufen!“ Was der israelische Ministerpräsident Netanjahu in den letzten Tagen und Wochen auch permanent getan hat.
Der Zentralrat und die deutschen Mainstream-Medien stellen keinen Zusammenhang zwischen Israels Politik und dem angeblich zunehmenden Antisemitismus her. Das ist ein absolutes Tabu. Man weigert sich also, die wirklichen Ursachen des Hasses zur Kenntnis zu nehmen, der „Antisemitismus“ fällt also irgendwie ursachenlos vom Himmel. Aufgeklärte Juden bzw. Israelis haben allerdings kein Problem, Ursachen und Gründe zu nennen. So schreibt der israelischen Historiker Moshe Zuckermann in seinem neuen Buch Israels Schicksal. Wie der Zionismus seinen Untergang betreibt über diesen Zusammenhang: „Je mehr sich Israel in der Gewaltausübung der Okkupation verfing desto intensiver steigerte sich die Betonung, selbst Opfer zu sein, mithin die Bezeichnung aller Kritik an Israels Politik als Antisemitismus. Es geht dabei um bewusste ideologische Manipulation, was nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass in der Manipulation auch eine Schuldabwehr angelegt ist.“
Israel kann und darf seine Schuld für das Unrecht, das es den Palästinensern angetan hat und immer noch antut, aber nicht zugeben, will es nicht seinen eigenen Opferstatus und das ganze zionistische Projekt in Frage stellen. Genau dieser Sachverhalt der Aktivierung des Antisemitismus-Vorwurfs trat während des Gaza-Krieges im Sommer 2014 deutlich zu Tage: je brutaler Israel dort Gewalt ausübte, desto lauter tönte dieser Vorwurf, der natürlich vor allem die Funktion hat, jede Debatte über Israels Politik zu unterbinden.
Am Zusammenhang zwischen Israels Politik und der schlechten Meinung über diesen Staat in der deutschen Bevölkerung besteht gar kein Zweifel. Nach dem ersten Gaza-Krieg 2008/2009 veröffentlichte sogar das israelische Außenministerium auf seiner Webseite eine Statistik, die darstellte, wie sehr die Attacke gegen den Gaza-Streifen „antisemitische“ Vorfälle in der Welt hat ansteigen lassen. Aber handelt es sich dabei wirklich um Antisemitismus? Denn was soll an einer moralischen Ablehnung einer solchen brutalen Politik, bei der man sich auf die Menschenrechte und das Völkerrecht berufen kann, „antisemitisch“ sein? Hier werden die israelische Regierung und ihre Vertreter im Ausland zum Opfer ihrer eigenen Ideologie: Wenn jede berechtigte Kritik an einer menschenverachtenden Politik gleich zum „Antisemitismus erklärt wird, dann diffamiert man auch die Gutwilligen und Aufrichtigen, die eigentlich hinter Israel stehen möchten.
Was die Sicherheit der Juden in der Diaspora, also auch in Deutschland angeht, sei hier aus einem Aufsatz des deutsche-jüdischen Historikers Dan Diner zitiert. Er schreibt, dass die Juden, die außerhalb Israels leben am meisten durch die Politik dieses Staates gefährdet seien: „Ein Gemisch von latentem Antisemitismus und den Auswirkungen israelischer Politik verschärft das Problem jüdischer Existenz auch in solchen Ländern, in denen bisher manifester Antisemitismus unbekannt war. Im Unterschied zum traditionellen Antisemitismus, bei dessen lokalem Ausbrechen Juden sich im Prinzip an einen anderen Ort flüchten können, dehnt die israelische Beanspruchung der Juden in der Welt für die Politik des jüdischen Staates ihre Gefährdung weltweit aus.“
Die Gefährdung der Juden in der Welt gehe vom Palästina-Konflikt aus, schreibt Diner weiter, und die Lösung des Dilemmas – also ein Mehr an Sicherheit für die Diaspora-Juden – könne nur in einem Bemühen um Konfliktbereinigung im Nahen Osten im Sinne einer Anerkennung der Rechte der Palästinenser liegen – also in einer Einmischung in die israelische Politik. Nur indem die Juden außerhalb Israels auf Distanz zu dessen Politik gehen und lernen, „sich ein post-zionistisches Dasein vorzustellen“, könnten sie ihre eigenen Sicherheit erhöhen.
Diner schrieb diese Zeilen vor 1983 – also vor 32 Jahren! Sie sind so aktuell, als hätte er sie gestern verfasst – woraus man ersehen kann, welch politischer Stillstand in Israel herrscht und dass auch die ideologischen Verteidiger dieses Staates sich seitdem keinen Schritt nach vorn bewegt haben. Dann darf man sich über die Folgen nicht wundern, aber mit Antisemitismus hat das wenig oder nichts zu tun.