From the River to the Sea, Palestina shall be free, oder doch nicht?

Wie steht es um das „Existenzrecht“ Israels?
Diese Frage würde sich bei uns in Deutschland normalerweise gar nicht stellen können. Jüdische Siedler riefen 1948 den Staat Israel auf ehemals britischem Protektoratsboden aus, verteidigten ihn in mehreren Kriegen mit Waffen gegen andere Prätendenten, und zogen weitere Siedler an, darunter etwa eine Million orientalischer Juden, denen zumindest im Arabischen das Existenzrecht bestritten worden war. Die Leute, die 1948 die Staatlichkeit Israels durchsetzten, sind längstens verstorben. Wer zur Zeit der Staatsgründung Kind war, wankt selbst dem Grabe zu. Inzwischen existiert „from the river to the sea“ die Generation deren Enkel. Wo anders sollten diese existieren als „from the river to the sea“? Die Frage müsste eigentlich lauten,

haben diese Leute Anspruch auf einen „jüdischen Staat“ ?

Israel ist ein Staat, also eine juristische Person des Völkerrechts; können solche abstrakten Figuren ein Recht auf Existenz haben? In der Praxis der amerikanischen Weltherrschaft erhalten abstrakte Provinzen staatliche Qualität, wenn etwa ein Altstaat wie Jugoslawien oder wenn die Sowjetunion aufgelöst werden. Die einmal gezogenen Provinzgrenzen bleiben bestehen. Das ist Praxis, aber nicht unbedingt vernünftig. Der aufgelöste Staat hatte seine Provinzgrenzen nach anderen Gesichtspunkten gezogen, als die Provinzen als souveräne Staaten nach neuen Bedingungen ziehen würden. Auch bei uns in Deutschland hat man die alten preußischen Provinzen zu Bundesländern erklärt, statt auf landsmannschaftliche oder historische Zusammenhänge zurückzugreifen. . Herausgekommen sind dann Missgeburten wie etwa Sachsen-Anhalt, dessen westlicher Teil eigentlich Bestandteil der historischen Mark Brandenburg, der südliche eigentlich zu Sachsen gehören müsste, das Preußen 1814 halbiert hatte.
So gesehen kann kein Staat von Heute ein ewiges Leben gegen den Sinn seiner Bevölkerung haben. Wie es Jesus sagte: Der Mensch ist nicht für den Sabbat, sondern der Sabbat für die Menschen da. Wenn also der Staat nicht mehr für die Menschen da sein kann, dann kann er keine Existenzrecht haben, weil die Menschen nicht für den Staat gemacht sind, sondern umgekehrt.
Es geht in der „Alten Welt“ nicht um Territorien wie in den USA, wo man erst das Gouverneursgebiet festlegte und dieses dann zur Besiedlung freigab. So waer es auch in Palästina. Menschen wanderten ein, auch Araber, um auf jüdischen Plantagen zu arbeiten. Selbst für einen Denker wie Shlomo Sand ist die Genese zu verworren, als dass er eine fixe Position einnehmen wollte.

Das macht dafür die deutsche Bundesregierung, natürlich nicht in Palästina selbst, aber in Deutschland. Sie erklärt, was richtig oder falsch sein und versucht, auch rechtswidrig, ihre Ansicht mit dem Polizeiknüppel und ihrer Strafjustiz als Glaubensbekenntnis durchzusetzen.

Nur hierum dreht sich diese Erörterung.

Die Verhältnisse der amerikanischen Union kann man genauso wenig 1 zu 1 auf die Verhältnisse in Palästina übertragen wie die europäischen Verhältnisse. Die von der Staatengemeinschaft UNO vorgeschlagen Grenzen zwischen einem jüdischen und einem arabischen Staat sind längst Makulatur; die mehr oder weniger anerkannten Grenzen des Camp David Abkommens sind durch eine intensive Besiedlung der „Westbank“ obsolet geworden. Dabei mag der „jüdische Staat“ illegal vorgehen und Verbrechen begehen lassen (vgl. den Film „Staatsauftrag Mord“), was seine ganze Zukunft unter dem Stern der Gewalt stehen lassen mag. Er kann allerdings auch Opfer der Gewalt werden. Das geht „uns“ aber nichts an. Kein Gewaltstaat verliert das Recht auf Existenz. Die Gewalt, die Brutalität Israels und all das, was Israel abstoßend macht, hat eigentlich keine Bedeutung für die Diskussion im Inland. Deswegen ist es unverständlich, wenn gewaltabgeneigten Personen verboten werden soll, einem gewalttätigen Staat das Existanzrecht abzusprechen. Die Negation des Existenzrechts hat keinerlei Einfluss auf den gewalttätigen Staat. Jede Meinungsäußerung ist rein theoretisch.

In der Theorie ist der „jüdische Staat“ ist keine klassisch westliche Demokratie; er hat keine geschriebene Verfassung, die Menschenrechte gelten auch für Juden nicht förmlich, für Araber sind sie nicht allgemein festgeschrieben, und die Gewaltenteilung vollzieht sich anders als nach dem Prinzip von Montesquieu. Als jüdischer Staat ist er eine Mischung von Kirchenstaat und den historischen deutschen Fürstentümern, die sich als „christliche Staaten“ verstanden (cuius regio eius religio), was man in Europa seit 1870 hinter sich hat. Selbst Italien und Irland mussten sich ent-klerikalisieren und auf die Idee einer Staatskirche verzichten. Insoweit könnte man sagen, der Staat hat kein Recht, so zu bleiben wie er ist, und er hat wahrscheinlich die Pflicht, sich in Richtung auf eine Demokratie westlichen Typs hin zu entwickeln. Die Idee einer westlichen Demokratie steht jedoch im generellen Widerspruch zur Idee eines jüdischen Staates. Das wird man wohl noch sagen dürfen, auch wenn jüdische Kreise in Deutschland in dieser Darlegung bereits eine Delegitimierung Israels sehen und unsere verblödete Justiz diese Kritik als Bestreiten des Existenzrechts Israels wertet. „Unsere“ Justiz nimmt solche Aussagen gleich als eine Art Wehrkraftzersetzung auf, als Zersetzung des Bildes eines demokratischen Israels.
Aber warum interessiert dies einen „aufrechten Christenmenschen“ (Martin Luther) einen säkularen, mondänen oder weltlichen Deutschen, Israel überhaupt kritisieren zu dürfen. ER befürwortet schließlich autoritäre Verhältnisse, warum also nicht in Israel auch? Weil der deutsche Gedankenterror inzwischen zu weit geht seit dem 7.10 23. An diesem Tag haben einige Hamas-Leute als Terroristen (angeblich) 1.400 Israelis umgebracht (allerdings nur einen Teil davon auf den Festplatzgelände), und die Israelis haben als Antwort darauf schon 7000 „Hamas-Kämpfer“ (FAZ) aber insgesamt 17.000 Araber getötet. Die Zahl von 10.000 dürften wohl kollateral umgekommene Frauen und Kinder (Michael Lüders) sein. Der gewöhnliche Mensch kann sich kaum vorstellen, was eine Zahl von 7.000 toten Hamaskämpfer bedeutet; Das wären 10 komplett ausradierte Bataillone einer modernen Armee. Konnte es überhaupt so viele Hamsas-Bataillone geben? Selbst im Fall einer totalen Niederlage, wie sie die deutsche Wehrmacht in Stalingrad erlitten hatte, müsste es noch ebenso viele Gefangene gebe. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass die Hamas eine ganze Division aufgestellt hätte. Das erlaubt die Überlegung, dass die Israelis kriegsverbrecherisch keine Gefangenen machen oder dass unter den 7.000 Wenn der Krieg weitergeht, dann müssten es nach den klassischen Verlustzahlen der Weltkriege noch gut 50.000 Hamas-Kämpfer geben in Gaza. Das verlangt Das klingt sehr unwahrscheinlich. Jedes israelische Geschoss, jede israelisch alle getöteten männlichen Zivilisten mitgezählt sind. Unverständige sprechen unverständlicherweise sogar von Genozid. Es geht in Gaza zu wie bei uns während der Mongoleneinfälle von 1240, nur moderner mit der Kriegstechnik. Machen kann man nichts, nicht einmal die üblichen Flutopfersachspenden sammeln, denn es werden nur ganz ausgesiebte Hilfsgüter nach Gaza reingelassen. Auch der UNO missfällt diese Schlachterei, um ein paar „Terroristen“ zu fassen.

Aber eines ist sicher: Die deutsche Wehrmacht, die 1941 drei Millionen russische Gefangene hat verrecken und krepieren lassen, hat damit so viel Abscheu erzeugt, dass der Widerstand der Sowjetbevölkerung zunahm. Der Abscheu vor Israel wird also auch eher zu- als abnehmen.

Vielleicht verhilft Google zu ein paar zusätzlich Durchblicken zum Geschehen; es schreibt:

Der Gazastreifen besteht, wie die Mittelmeerküste von Israel, hauptsächlich aus Sand und Dünen. Lediglich 14 % der Fläche sind für die Landwirtschaft nutzbar. Seine Länge beträgt 40 km, die Breite zwischen 6 und 14 km und die Fläche 360 km². …. Gaza war in der frühen Antike ein bedeutendes Handelszentrum an der Schnittstelle von Afrika, Asien und Europa. Die Philister hatten das Gebiet im 12. Jahrhundert v. Chr. …. von Ägypten übernommen und bauten es zum Kern ihres Siedlungsgebietes aus….. Alexander der Große eroberte die sich ihm heftig widersetzende Stadt 332 v. Chr. …. Nach Eroberung durch die Römer im 1. Jahrhundert v. Chr. Wurde de die Stadt Gaza wieder aufgebaut und ihr zu neuer Blüte verholfen.

In Gaza (Streifen) leben 2 Millionen Menschen; Hamburg, das etwa gleich viel Einwohner hat, ist doppelt so groß an Fläche und München, das etwas weniger Einwohner als Gaza beherbergt, ist ungefähr genauso groß, wenn man den nördlichen Teil des Landkreises München (von Garching bis Aschheim) dazunimmt. Der Unterschied: München ist kein langer Streifen, sondern eine runde Sache.

Warum soll man sich da nicht fragen dürfen, warum man in Deutschland laufend das „Existenzrecht Israels“ bestätigen muss. Vielleicht hätten es die Gazaner mehr nötig, ein Existenzrecht bestätigt zu bekommen. Man kommt sich vor wie zu Zeiten der Christenverfolgung, wo man verpflichtet war, dem Kaiserkult immer neu seine Referenz zu erweisen. Wenn das Existenzrecht Israels das Abschlachten von 17.000 Arabern in 3 Wochen erfordert, kommt einem dieser Staat wie ein Moloch vor. Man müsste sich die Mühe machen, die Leichen zu zählen, die seit dem Camp-David-Abkommen von diesem Moloch verschlungen wurden. Aber es interessiert niemanden niemanden wirklich. Warum interessiert dann die Bundesregierung das Existenzrecht dieses Molochs? Bei uns leben zehn, wenn nicht zwanzig Mal so viele Araber wie Juden unter uns. Die Araber sind echt, von den Juden sagen etwa Deborah Feldman und Avitail Gerstetter, sie seien Bühnenjuden, also eine Art Schauspieler wie konvertierte Alttestamentler oder unhalachische Persönlichkeiten oder nur die Träger jüdischer Namen wie Dreier, Schlesinger, Süßmuth. N#Von den Arabern sind nicht wenige aus Palästina, wo sie auch ein Existenzrecht hatten (oder gehabt hätten), das ihnen Wladimir Jabotinski als Zionist und Karl Kraus als assimilierter Jude historisch bestätigten. Der Zionist meinte nur, dass das Existenzrecht der Juden vorginge, weil die Araber außerhalb Palästinas noch über genug Land verfügten. Es lässt sich also zu diesem Thema diskutieren.

Zur Diskussion gehören zwei Seiten, einmal eine die „ja“ und eine, die „nein“ sagt. Das ist existentiell für unserer Demokratie. Jetzt wird das „nein“ verboten, und das durch eine ganz dümmlich schwatzende, aber genauso aggressiv handelnde, Bundesinnenministerin. Weil aber niemand noch dümmer ist als die Faeserin, dass er (wie ich hier) das Existenzrecht Israels offen diskutieren will, geht Fancy Naeser noch einen Schritt weiter:

wer das Lied vom „Freien Palästina“ sänge oder ein Schild mit sich führe, auf dem der Spruch in Deutsch oder Englisch

„from the river to the sea, Palestine will be free“

aufgeführt wird, der bestreite bereits das Existenzrecht Israels. Er soll sich „strafbar machen“.

Das klingt nach rechtlichem Blödsinn. Bisher ist es nicht strafbar, das Existenzrecht Israels zu bestreiten. Es iust auch nicht strafbar. Antisemit zu sein.

Googlen wir schnell zum ersteren Thema:

Bis zu drei Jahre Freiheitsstrafe für die Palästinenser-Parole „From the River …“

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat Anfang November die Palästinenserparole „From the River to the Sea, Palestine will be free“ verboten. Diese sei ein Kennzeichen der [von ihr] verbotenen Organisationen Hamas und Samidoun. Sie hat damit eine zentrale Parole der palästinensischen Bewegung zu einem Slogan der Hamas und damit für strafbar erklärt, ohne das Strafrecht zu ändern, und ohne den Bundestag oder die anderen Ressorts der Bundesregierung zu beteiligen. Das Verbot wurde jetzt bekannt, weil die Polizei in Berlin (alles Hirnis) und die Staatsanwaltschaft in München (nach Franz Josef Strauß „müssen die Bayern die letzten Preußen sein“, und daher zum Speichellecken gezwungen werden) das Verbot inzwischen anwenden. ….Weil die Formulierung „From the River to the Sea“ den Fluss Jordan und das Mittelmeer meint, …. schließen [Hirnis und Speichellecker] auf eine Verneinung des Existenzrechts Israels … Das Verbot [der Vereine] dürfte aber sicher noch vor dem zuständigen Bundesverwaltungsgericht in Leipzig angegriffen werden [also ist eine Strafbarkeit verfassungsrechtlich noch gar nicht möglich]. Über die Strafbarkeit des Satzes selbst dürfte wohl jeder Amtsrichter in eigener Kompetenz entscheiden müsse). Zuletzt geht der Satz „From the River to the Sea …“ zurück auf die 1960er-Jahre und wurde damals schon von der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO verwendet. Die Parole ist eher gar kein „Kennzeichen“ der Organisationen Hamas (1987 gegründet) und Samidoun (2012 gegründet).

Zur Erinnerung: Als Heino begann, die alten deutschen Volkslieder vorzutragen, wurde er von Hirnis aller Couleur auch in die Schmuddel-Ecke gestellt; die Nazis sangen auch alte deutsche Volkslieder. „Schwarzbraun ist die Haselnuss“ darf man immer noch singen. Sind alte Volkslieder durch die Nazi-Zeit zu nationalsozialistischem Gedankengut mutiert? Es steht nicht gur um die Logik der deutschen Justiz. Googlen wir weiter:

In ihrer Bundestagsrede … zum Gedenken an die Pogromnacht vom 9. November 1938 hatte Faeser zudem weitere Verbotsverfügungen zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland angekündigt. ….. Sie fügte hinzu: „Wir arbeiten schon an weiteren Verboten.“

Das Ganze erinnert an DDR-Verhältnisse: Verboten wurde in der DDR nicht nur der Song „— ist das der Sonderzug nach Pankow—?“, sondern in dieser Verbotslogik auch die viel ältere Melodie vom Chattanooga -Express. Unsere Demokratie ist inzwischen auf DDR-Standard abgedriftet, nicht nur weil drittklassige Leute ihre Elite bilden. Wir sind so kaputt, dass wir die Tötung von 17.000 Arabern durch Bomben als korrekte Kriegsführung begrüßen, die Tötung von 1400 Israelis als Terrorakt verurteilen müssen. Und strafbar per Gesetz soll es werden, wenn man das abstrakte Existenzrecht Israels in Frage stellt, obwohl dort 30% gegen den Staatstrend demonstrieren.
Eines muss klar sein. Ohne die Annexion der Westbank, und ohne die Vertreibung der Araber (ganz oder zum Teil) aus diesen Gebieten wird Israel nach diesem Gemetzel kaum noch sicher und vor allem nicht auf Dauer sicher existieren können. Also wird man alsbald auch die Vertreibung der Araber gutheißen müssen. Fragt sich nur, warum man dann nicht soll sagen dürfen „from the river to the sea, Palestine will be free“, wenn Ganz-Palästina (bzw. Groß-Israel) ein jüdischer Staat und eine jüdische Demokratie sein wird? Die Chancen dazu stehen doch derzeit nicht schlecht unter der entschlossen handelnden Regierung. Zur Strafbarkeit gehört nicht nur der objektive Tatbestand, sondern auch der subjektive. Und da kommt es eben darauf an, was der Chansonneur ausdrücken will: Ein freies und vereintes Palästina als jüdischer Staat unter den Weisen wie Netanjahu, Smotrich und Gallant? Nach der Logik von Angela Merkel wäre das alternativlos gewesen. Jedenfalls braucht man voraussichtlich so oder so keine zwei- Staatenlösung mehr.

Rein theoretisch könnte man ein „Freies Palästina“ auch so konzipieren, dass ähnlich wie im Libanon die Kompetenzen zwischen Juden und Arabern verteilt werden. Wird ein jüdischer Präsident gewählt, wird ein Araber sein Stellvertreter und umgekehrt. Oder man schafft ein Palästina nach Kantonen Schweizer Art, immer ca. 70.000 Bürger wie Jura, Appenzell und Uri. Die Juden hätten dann mindestens 10, die Araber nur 5 Kantone. So bekämen auch die Chassidim einen eigenen Kanton und die haredischen Litwakim müssten sich über diese abergläubischen Mystiker nicht weiter aufregen. Weil Israel selbst noch gar keine geschriebene Verfassung besitzt, sind viele Wege für ein freies demokratisches Leben in Palästina offen.

Umso mehr sollte auch in Deutschland Recht demokratisches Recht bleiben. Also lasse man den Palästinenser bei uns ihre alten Slogans von der PLO. Sie gefährden Israel in keiner Weise.

von Eurich Lobenstein

Wie streicht man den deutschen Staat?

Oft sind in Deutschland Staatsstreiche nicht versucht worden: so rätselt auch die Süddeutsche über die Theorie der Bundesanwaltschaft. Diese ist offenbar groß in das Papiergeschäft eingestiegen:

Ermittlungen gegen „Reichsbürger“: Verschwörer, Waffen, Akten
Wollten die mutmaßlichen Verschwörer den Bundestag erstürmen? Den Ermittlungen zufolge gab es einen solchen Plan – aber womöglich wurde er fallen gelassen.
Mehr als 425 000 Seiten Akten haben die Ermittler zusammengetragen, nun sollen 27 Beschuldigte der „Gruppe Reuß“ vor Gericht. Dabei geht es auch um angebliche Pläne zur Erstürmung des Bundestags. Fragen und Antworten zu einem Mammutverfahren.
Etwa 3000 Polizistinnen und Polizisten waren am 7. Dezember 2022 an einer Großrazzia gegen die „Patriotische Union“ beteiligt. 25 Frauen und Männer wurden an dem Tag unter dem Verdacht festgenommen, einen Staatsstreich geplant zu haben.

Wie ist der Stand des Verfahrens am 6.12.2023?

Der Generalbundesanwalt ermittelt derzeit gegen 69 Personen der „Gruppe Reuß“. 27 davon sitzen in Untersuchungshaft, sie sollen nach Informationen von SZ, NDR und WDR noch vor Weihnachten angeklagt werden – an drei Oberlandesgerichten. Zehn Beschuldigte sollen in Frankfurt vor Gericht, neun in Stuttgart und acht in München. Drei Mammutprozesse, die wohl Jahre dauern werden.

Warum klagt man sie nicht in Berlin an?

Die Menge an Beweismitteln ist immens. Schon bevor der Generalbundesanwalt im September 2022 die Ermittlungen an sich zog, hatten bereits mehrere Landeskriminalämter, Verfassungsschutzbehörden und der Bundeswehrgeheimdienst MAD sich mit einzelnen Beschuldigten befasst. Die Ermittler hörten über Monate Telefonate ab und observierten Treffen. Gegen manche Verdächtigen wurden „Quellen-TKÜ“ (Telekommunikationsüberwachung) und Online-Durchsuchungen eingesetzt. Es wurden also Spähsoftware, sogenannte Trojaner, auf die Smartphones installiert, um diese aus der Ferne zu durchsuchen und Kommunikation mitzubekommen, die über verschlüsselte Apps läuft. Die Ermittlungsakten umfassen insgesamt mehr als 425 000 Seiten, das sind rund 850 Ordner. Die Akten müssen dreimal ausgedruckt werden, damit jedes Gericht einen Satz bekommt. Legte man diese Seiten nebeneinander, reichte die Papierstrecke von Berlin bis nach Hamburg. Ob der schieren Masse hat der Generalbundesanwalt das BKA um Amtshilfe beim Druck gebeten.

Die NZZ schreibt hierzu:

Die Reichsbürger und der vermeintliche Putsch: ein Jahr ohne Anklage in Untersuchungshaft
Am 7. Dezember 2022 wurden in einer Großrazzia 27 Verdächtige festgenommen. Angeblich wollten sie in Deutschland einen politischen Umsturz anzetteln. Doch für eine Anklageerhebung reichen die Beweise bis jetzt offenbar nicht.

Weiter mit der staatstreueren „Süddeutschen“:

Wollte die Gruppe den Bundestag stürmen?

Ehemalige Soldaten der Gruppe haben den Ermittlungen zufolge intern erstaunlich offen über den Plan gesprochen, in das Reichstagsgebäude einzudringen und Regierungsvertreter und Abgeordnete festzunehmen. Die Rede war meist von 30 Angreifern. Angeblich bekamen sie den Auftrag dafür von Heinrich XIII. Prinz Reuß, der als einer der Rädelsführer gilt. Dessen Anwalt teilt auf Anfrage von SZ, NDR und WDR mit: Wenn Reuß in irgendeiner Form an Plänen zur Erstürmung des Bundestags beteiligt gewesen wäre, „bestünde Anlass, ihn auf seinen Geisteszustand untersuchen zu lassen“.
Wie konkret waren die Pläne?

Der mutmaßliche Plan ist dadurch besonders brisant, da die Beschuldigte Birgit Malsack-Winkemann als AfD-Abgeordnete mit ihrem Hausausweis nicht nur den Bundestag ohne Kontrolle betreten, sondern auch Gäste mitbringen konnte – auch noch nach ihrem Ausscheiden. Zweimal hat sie Mitbeschuldigte durch die Gebäude geführt, darunter die beiden Ex-KSK-Soldaten Maximilian Eder und Peter Wörner. Bei Letzterem stellten die Ermittler später eine Liste mit Spitzenpolitikern sicher, unter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz. Die Ermittler haben Fotos und Videos von den Besuchen am 1. und 18. August 2021 sichern können. Darauf sind wenige Menschen zu sehen, aber viele örtliche Details: Hinweisschilder, Treppenhäuser, unterirdische Verbindungsgänge, Parkplätze in der Tiefgarage. Bei einem weiteren Termin Anfang September machte Wörner Fotos von außen, unter anderem vom Eingang zur U-Bahn am Reichstag. Die Ausspähung vor einem Angriff? Malsack-Winkemann hat das in ihrer Vernehmung durch die Bundesanwaltschaft vehement bestritten. Es habe sich damals um touristische Führungen gehandelt.
Es gibt Aussagen von Beschuldigten, dass der Plan im Jahr 2022 fallen gelassen worden sei. Ein beschuldigter Bundeswehrreservist aber sagte dem MAD: Der Militärchef der Gruppe, Rüdiger von Pescatore, habe noch im Juni oder Juli 2022 auf einem Treffen davon gesprochen, dass er direkt den Reichstag stürmen wolle. Ein Mitstreiter habe ihn daraufhin zurückhalten müssen – es sei noch zu früh. Dazu passt, was der hessische Verfassungsschutz im August 2022 in abgehörten Telefonaten mitbekam und die Beamten nervös werden ließ. Mehrere Beschuldigte sprachen davon, dass bald etwas in Berlin passieren werde. Ob sich Rüdiger schon bei ihr gemeldet habe, wird Malsack-Winkemann von Reuß gefragt, was sie verneint. Die Ex-Abgeordnete merkt in einem anderen Gespräch an, dass die Politiker erst wieder am 5. September im Bundestag seien. Schließlich unterhalten sich zwei der mutmaßlichen Verschwörer darüber, dass Pescatore und Malsack-Winkemann „losziehen“ wollten – in den Bundestag.
Waren die Beschuldigten bewaffnet?

Die Ermittler haben bei den Beschuldigten eine größere Menge an Waffen und Munition sichergestellt. Insgesamt waren es mindestens 382 Schusswaffen, darunter Pumpguns und ein Maschinengewehr. 13 der 69 Beschuldigten durften als Jäger, Sportschützen und Waffenhändler legal Waffen besitzen, auf sie waren 73 Pistolen und Gewehre registriert. Die Ermittler schließen nicht aus, dass es noch unentdeckte Waffenverstecke gibt. Mehrmals gruben sie deshalb etwa auf dem KSK-Gelände in Calw.

Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn; aber wer genau ist hier wahnsinnig?

Den letzten Versuch für einen Staatsstreich unternahm ein gewisser Graf Schenck von Stauffenberg; dessen Staatsstreich scheiterte schon daran, dass er den zweiten Sprengkörper nicht in seiner Aktentasche beließ mit der Folge, dass der Führer und Oberste Befehlshaber unverletzt blieb. Damit blieben die Staatsstreichler als untere Befehlshaber unten. Stauffenberg konnte zwar noch die Landwehr in Döberitz in Marsch setzen lassen, in Paris hatten Mitverschwörer sogar Gestapo und SS festgesetzt, aber nachdem einer der führenden Verschwörer, der General Friedrich Fromm gegen Abend den Putsch als gescheitert erkannte und Stauffenberg und seine beiden Hauptkomplizen erschießen ließ, räumte nur noch die Justiz mit den gescheiterten Putschisten auf. Zuvor soll Ernst Röhm geputscht haben wollen; er wurde samt seinen putschverdächtigen SA-Führern gefangengesetzt und allesamt wurden erschossen. Gut 10 Jahre zuvor hatte Feldmarschall Ludendorff mit seinem Gefreiten Hitler in München putschen wollen und war vom Rosenheimer Berg bis zur Feldherrnhalle marschiert, wurde aber von der Polizei gestoppt. Dessen Putsch war ein spontaner Ersatzputsch für einen gedachten Putsch der bayerischen Staatsregierung, die ihrerseits auf Berlin hatte marschieren wollen. Drei Jahre zuvor ließ General v. Lüttwitz die Reichswehr marschieren, um den Landschaftsdirektor Kapp als Reichskanzler einzusetzen. Bennington Moore berichtet (in: Ungerechtigkeiten) noch von Putschversuchen des Spartacus; in gewisser Hinsicht kann man nicht den Staatsstreit Friedrich Eberts in der Liste von Putschen führen, aber dann wird es licht. Wenn man kritisch denkt, dann hatten 1990 noch Bundeskanzler Kohl und Kohlsorten einen Staatsstreich unternommen; sie ließen die um ihre Diäten besorgten Abgeordneten sich zur „Nationalversammlung“ erklären und machten aus der DDR und Berlin 6 besatzungskonforme Zwergländer mit 2-stufigem Verwaltungsaufbau, denen seitdem die Bundesregierung nun als verkappte Landesregierung vorsteht. Sie sicherte sich auf diese Weise 18 Bundesratssitze. Hätte man die DDR legitim angeschlossen, wären ihr nur 12 Sitze zugestanden inklusive der Sitze für Berlin, das als „Bundeshauptstadt“ nicht taugt. Seitdem hängt die Bundesrepublik schief. 60% der deutschen Bevölkerung in den Ländern Bayern, Baden-Württemberg, NRW und Niedersachen werden majorisiert. Von den 69 Bundesratssitzen haben diese vier Länder nur 24 Sitze, während der Länderschrott zusammen mit Bremen, dem Saarland und dem 2-Millionen Land Schleswig-Holstein auf mehr Sitze und Stimmen kommt. Bleiben noch Rheinland-Pfalz und Hessen, die zusammen nur 6 Sitze haben dürften, aber auf 10 kommen. Das war ein geglückter Staatsstreich, und niemand hat es bemerkt.

Das zeigt: Man muss selbst an der Regierung sein, wenn man staatsstreicht; von unten oder gar von außerhalb funktioniert es nicht, nicht einmal von der Position eines Reichswehrministers (Lüttwitz) aus. Kann man aber als Prinz einer abgeschafften Thüringer Herrschaft putschen? Eher nicht. Man könnte vielleicht die Unabhängigkeit ausrufen; aber dann hätten die großdeutschen Sympathisanten kaum mitgemacht.
Also könnte der Prinz H XIII nur so getan haben, als ob er putschen wolle. Alle seine Aktivitäten waren untaugliche Versuche. Und seine Mitverschwörer, was motivierte sie? An einem Fürstenhof zu verkehren. Man hätte dort auch über eine Reform der evangelischen Kirche debattieren können. Auch das wäre so sinnlos gewesen wie den Putsch von Erzbischof Lefevre mit seiner Piusbrüdern gegen Papst Pillenpaule. Es folgt ihnen ja niemand. Insgesamt sollen es keine 25.000 Reichsbürger in ganz Deutschland sein, die nicht wissen, dass die deutsche Staatsbürgerschaft nichts mit dem Reich, sondern mit den Ländern verwurzelt ist. Und 1945, als das Großdeutsche Reich aufgelöst wurde, bestanden die Länder fort, bzw. wurden diese zusammengelegt oder separiert, aber Landesregierungen gab es sofort wieder. Noch im Mai 45 begann der bayerische Ministerpräsident zu amtieren. Die Bevölkerung verhielt sich loyal.
Gibt es denn statt Reichsbürgern heute „Bundesbürger“? Offiziell nicht, nur literarisch. Bundesbürger ist, wer 1945 – (auch als Preuße) als Angehöriger eines deutschen Gliedstaates innerhalb der Grenzen von 1937 niedergelassen war („mit Wissen und Wollen der Behörden“) – jemand, der sich in die Volkslisten der anderen Anschlussgebiete eingetragen hatte, oder der förmlich eingebürgert wurde. Eigentlich können nur die Eingebürgerten nachweisen, Deutsche zu sein; die anderen? Für sie gilt eine nahezu unumstößliche Vermutung, Deutsche im Sinne des Gesetzes von 1934 zu sein, aufgrund dessen sich auch der bayerische Staatsangehörige noch heute „Deutscher“ nennen muss (Affenschande). Reichsbürger gab es nur in der Phantasie; selbst die Nürnberger Gesetze sprachen von „Staatsbürgern“, wobei die deutschen Juden als „staatsangehörige Juden“ gewisse Rechte behielten.

Folglich: die Gefolgschaft von Prinz H XIII hat gar nichts gemacht als geträumt, vielleicht noch einen untauglichen Versuch am untauglichen Objekt vorbereitet; und Herrn v. Pistorius hätte es nur so ergehen können wie seinerzeit dem Kapitän Hermann Ehrhardt: dieser war von der Reichsbank abgewiesen worden, als er für die Putschisten Geld hatte abheben wollen. Damit scheiterte der ganze Kapp-v.-Lüttwitz-Putsch (1920) . Und bei uns? Es ist nichts bekannt, dass Prinz H XIII ein Kommando organisiert hätte, die Bundesbank oder die Europäische Zentralbank auszurauben; und das im Kapitalismus? Nix Staatsstreich. Die Anklage darf gar nicht zugelassen werden. Narrenfreiheit für Prinz H XIII und v. Pistorius. Freiheit für die involvierten Religionslehrerinnen, Ärztinnen und Hebammen des Nicht-Putsches. Free them from the River Isar, from the River Neckar and the River Main to the Nord- und Ostsea. Dreimal “FREE”.

Die Süddeutsche kann es nicht viel anders sehen: und doch hat der Nicht-Putsch zweierlei bewiesen.

Einmal die Lächerlichkeit der Bundesrepublik Deutschland als solcher, die sie gleichsam delegitimiert. Ihr Volk? Idioten in der Masse, die noch arbeiten, statt Bürgergeld zu verlangen. Und….

Dann die Gefährlichkeit geisteskranker Politkommissare der Justiz, die die Leute einfach einsperren lassen können. Die Polizei als Vollstreckungsorgan funktioniert immer, in Thüringen genauso hirnlos wie seinerzeit in Auschwitz: Befehl ist Befehl, der ganze untere Apparat leidet an Befehlsnotstand. Man könnte ihm Gehalt kürzen und die Pensionsansprüche canceln

Ein Hoch auf den Prinzen H XIII, auf seine Religionslehrerinnen und auf die pensionierten Bundeswehroffiziere (Häuptlinge ohne Indianer), die dem Ganzen trotzdem einen theatralischen Anstrich verliehen. Eine Gefahr ging von diesen ebenso wenig aus wie von den tausenden bewaffneten Bundeswehrsoldaten in Afghanistan für die Taliban je ausgegangen war.

von Eurich Lobenstein

Israels Krieg

Aus der Haaretz kann man durchaus pessimistische Stimmungen in Israel erfahren; so schreibt ein Leser,

„…In naher Zukunft werden Säkulare in Israel keine Zukunft mehr haben. Die liberalen Juden sind schon jetzt eine Minderheit, die in großer Zahl auswandert. Die messianischen Siedler, die rechten Nationalisten und Anhänger der Religion, und die Haredim bringen schon heute die Hälfte der geborenen Kinder in Israel zur Welt. Israel ist auf dem Weg, ein Staat der Dritten Welt zu werden, der schwerlich in der Lage sein wird, die Mittel zur Verfügung zu bekommen, um gegen den feindlichen islamischen Ozean, der die Insel Israel umbraust, zu erhalten. Wer sich aus Israel flüchten kann, aber bleibt – übt Verrat an seinen Kindern……“

Antisemitismus mitten im jüdischen Israel? Für Leute wie Michael Wolffsohn vielleicht. Denn er preist ja gerade, dass jährlich 10.000 Juden Frankreich Richtung Israel verlassen, und dass die Gebärfreudigkeit der religiösen Szene den Weg in ein rechtes Israel pflastert. Er ignoriert offenbar den Abgang einer wahrscheinlich ebenso großen Zahl liberaler Juden aus Israel. „Kein Verlust“, war so eine Antwort aus der Kampfzeit bei der SA, wenn sich Liberale abwandten.. Ist in Israel inzwischen eine „Kampfzeit“ ausgebrochen? Innenpolitische Kampfzeit mitten in einem Krieg? „Bibi“ will den Krieg bis zum Endsieg durchfechten. Wen will er besiegen?  In der NZZ wurde ein Kommentar von Andreas Ernst zu dieser Frage veröffentlicht, dass

„…. Israel in die Falle der Hamas tappe. Die Terrorismusforschung habe aufgezeigt, wie Gesellschaften gegen politische Gewalt vorgehen sollen. Doch Israel missachtet im Kampf mit der Hamas wichtige Regeln. … Denn Terror ist nicht blinde Gewalt. Terror ist Gewalt in politischer Absicht: Die Täter wollen Reaktionen im angegriffenen Staat und in seiner Gesellschaft provozieren, die sie ihrem Ziel näherbringen. Das hat auch das Massaker der Hamas Anfang Oktober gezeigt. Die Täter fielen in Südisrael ein, ermordeten 1200 Personen – Männer, Frauen, Kinder und Säuglinge. Nicht genug, sie dokumentierten ihre Brutalität auf Videos, die sie verbreiteten. Erst mit der öffentlichen Inszenierung der Gewalt entfaltet der Terror die volle Wirkung: Angst, Unsicherheit, Hass und den Wunsch nach Vergeltung.

Die Hamas will die Zerstörung Israels. Dafür ist sie militärisch viel zu schwach. Sie ist aber stark genug, um mit ihrem Terror Israel einen Krieg aufzuzwingen. Terror ist eine Methode, die immer die Eskalation im Sinn hat. Die Hamas-Führer hoffen, dass der Krieg sich ausweitet – vom Gazastreifen auf das Westjordanland und wenn möglich auf die ganze Region.

Die Terroristen setzen darauf, dass die Antwort der israelischen Armee zu einer doppelten Mobilisierung führt. Tod und Zerstörung, Hoffnungslosigkeit und Demütigung in Gaza sollen eine neue Generation von Kämpfern und Terroristen für die palästinensische Sache rekrutieren. Gleichzeitig mobilisieren die Nachrichten und Bilder von der humanitären Katastrophe die «Weltmeinung» gegen Israel. Im Informationskrieg ist die militärische Asymmetrie zwischen den Gegnern aufgehoben: Die Hamas und ihre Sympathisanten haben mindestens so lange Spieße wie die israelische Regierung. Seit Kriegsbeginn warnen Terrorismusexperten davor, dass das Kalkül der Hamas aufgehen könnte. Israel sollte die Mahnungen aus der Terrorismusforschung ernst nehmen. Die vielleicht wichtigste lautet: Israel ist auf dem Weg, in die Falle zu gehen, welche die Hamas gestellt hat……..Israel ist nicht in seiner Existenz bedroht …….. Doch die israelische Regierung stellt die Bedrohung durch die Hamas als existenziell dar. Manche Medien vergleichen den Angriff mit dem Holocaust, und Ministerpräsident Benjamin Netanyahu zieht in Interviews eine Parallele zwischen dem Krieg gegen die Hamas und dem Niederringen Nazi-Deutschlands. Auch ausländische Politiker wie der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprechen von einem «Kampf um die Existenz Israels». Das ist falsch und der erste Schritt in die Falle.

Denn die Existenz des Landes war nie wirklich infrage gestellt, weder an dem schwarzen 7. Oktober noch seither. Dieses Narrativ ist vielmehr ein Erfolg für die Hamas, weil es ihr Bedrohungspotenzial überhöht. Damit wächst ihr symbolisches Kapital – und davon profitieren Terrororganisationen mehr noch als von Sprengstoff und Raketen. Dieses Narrativ hat auch die Reaktion der israelischen Regierung auf den Angriff bestimmt. Wenn das Land existenziell bedroht ist, das leuchtet ein, muss es den Gegner vernichten. Doch das wird nicht möglich sein. Denn die Hamas ist nicht nur eine Terrororganisation. Sie hat auch einen politischen Arm und kontrolliert den Gazastreifen. Wer sie ausschaltet, muss sie als Ordnungsmacht ersetzen. Das läuft auf einen «regime change» hinaus – und ist der zweite Schritt in die Falle.

Seit Kriegsbeginn haben angesehene Terrorismusforscher wie Daniel Byman oder Audrey Kurth Cronin genau davor gewarnt. Auch in Israel wird die Strategie der Regierung Netanyahu vom ehemaligen Mossad-Chef Tamir Pardo als «Panikreaktion» kritisiert. Israel, so argumentieren die Experten, hätte mit kühlem Kopf ein realistisches Kriegsziel bestimmen sollen. Stattdessen setzte die unpopuläre Regierung auf Vergeltung und Vernichtung. Damit stellt sie Weichen, die das Schicksal des Landes auf Jahre hinaus bestimmen werden.

Die Amerikaner haben in den letzten zwanzig Jahren Erfahrungen mit Versuchen von «regime change» gemacht, zuerst in Afghanistan, dann im Irak. Der militärisch herbeigeführte Sturz der Taliban und später derjenige von Saddam Hussein zogen die USA in Abnützungskriege, die «forever wars», die sie nicht gewinnen konnten.

Wer ein Regime von außen stürzt, muss entweder als Besatzer vor Ort bleiben oder einen zuverlässigen Stellvertreter installieren. Israel wird also auf die eine oder andere Art wieder zuständig sein für Sicherheit und Ordnung in Gaza. Damit schnappt die Falle zu. Die Amerikaner nennen es «mission creep», das Feststecken im Sumpf eines Konflikts.

Es scheint, dass Israels Kriegsplan tatsächlich in diese Richtung geht. Verteidigungsminister Gallant spricht von einem Dreiphasenplan: 1. Vernichtung der Hamas durch eine Invasion. 2. Liquidierung von verbleibenden Widerstandsnestern. 3. Aufbau eines neuen Sicherheitsdispositivs und der direkten israelischen Verantwortung für Gaza. Es ist die Kopie des Konzepts, mit dem die Amerikaner in ihren Anti-Terror-Kriegen gescheitert sind. Auch dass arabische Staaten oder dass die Uno in Gaza ein Protektorat betreiben werden, erscheint illusorisch.

Selbst wenn es gelingt, den militärischen Arm der Hamas zu vernichten, wird eine Nachfolgeorganisation entstehen. Ohne großen logistischen Aufwand wird sie den Kampf mit Anschlägen und Geiselnahmen führen. Damit wird sie die Besatzer auf Dauer zermürben. Doch anders als die Amerikaner in Afghanistan oder im Irak werden die Israeli keine einheimischen Verbündeten in Gaza finden. In Afghanistan gab es Teile der Bevölkerung, die den Amerikanern dankbar waren, als 2001 das Taliban-Regime fiel. Ähnlich ging es vielen Kurden und Schiiten zwei Jahre später beim Sturz von Saddam Hussein.

Israels Kriegsführung schwächt die Hamas militärisch, stärkt sie aber politisch. In Gaza sind in 7 Wochen mehr Zivilisten ums Leben gekommen als in der Ukraine in 21 Kriegsmonaten. Die Ablehnung der Hamas, die es bei der Bevölkerung durchaus gab, ist im Bombenhagel pulverisiert worden. Israel treibt mit seiner massiven Gewalt die Palästinenser in die Arme der Hamas.

Nicht nur bei den unmittelbar Betroffenen, auch im Westjordanland und in der Diaspora gewinnt die Behauptung der Terroristen an Plausibilität: Die Hamas ist die Widerstandsbewegung Palästinas. Auch das ist eine Lehre der Kriegsgeschichte: Wenn es Bomben hagelt, klammern sich die Wehrlosen an jene, die Waffen tragen. Die Bombardierung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg hat die Bevölkerung nicht gegen das Nazi-Regime aufgebracht. Im Gegenteil…..“

Das ist „Israel“, es sind aber nicht „die Juden“ schlechthin; es sind die Juden, die sich am markantesten als Juden profilieren. Seit diese ihren eigenen Staat haben und nun wirklich beherrschen, setzen sich diese über alle Regeln hinweg. Es wurde schon angekündigt, dass Israel die Hamas-Leute wie die Attentäter von „München 1972“ jagen werde. Soso. Werden auch wieder unschuldige marokkanische Kellner in Norwegen abgeknallt? Man kann sich schon vorstellen, welche Menge an Schlagzeilen diese Herrschaften veranlassen werden. Pech für die deutsche Diaspora; die deutsche Presse ist nicht mehr in jüdischer Hand. Somit nützt diese Aktivität der Diaspora nicht, aber gleichzeitig läuft auch Israel die Gefahr so dargestellt zu werden, dass die letzten Sympathien verloren gehen.

Welche Abhilfe ist denkbar? Vielleicht ein UN- oder US-Protektorat über Gaza, oder nicht gleich eines über Gesamtpalästina „from the River to the Sea“?

von Lobenstein

 

Michael Wolffsohns unsinniger Beitrag zur Antisemitismusdiskussion

Man braucht sich nur die deutsche Bundeswehr anzusehen; dieser Haufen ist nach Ansicht des Verteidigungsministers Pistorius nicht kriegstüchtig; er war schon zu Zeiten von „Kriegsminister“ Franz Josef Strauß nur „bedingt einsatzbereit“ ((Der Spiegel). Da passt es, dass dieser Haufen einen Intellektuellen wie Michael Wolffsohn als Historiker an seinem militärisch-historischen Institut anstellte und ihn bis zur Pensionierung alimentierte. In einem Interview (folgt auszugsweise) sagt er

Die Behauptung, solche Kritik sei in Deutschland nicht möglich, ist ….. kontrafaktisch.“

Der Herr Wissenschaftler meint, die Behauptung widerspreche den Tatsachen; das ist aber nicht „kontrafaktisch“ Er bastelt ein neues Wort und benutzt es gleich falsch. Kontrafaktisch kann von seinen lateinischen Bestandteilen her nur bedeutet, dass jemand gegen konkrete Tatsachen vorgeht. Eine irrige Meinung ist nicht „kontrafaktisch“, sondern falsch, irrig oder eventuell sogar erlogen. Wenn dieser Mensch bereits sprachlich nicht exakt arbeitet, dann kann eigentlich auch seine Analyse als solche nur unbrauchbar sein. Gucken wir also genauer hiin:

Michael Wolffsohn sagte im Dlf: Zu der These [von 60 Intellektuellen in Deutschland], dass Kritik an israelischer Politik unterdrückt werde, könne nur kommen, wer in Wolkenkuckucksheim lebe. Mit der Wirklichkeit in Deutschland habe das nichts zu tun. In den Medien seien 90 Prozent der Beiträge israelkritisch. Die Behauptung, solche Kritik sei in Deutschland nicht möglich, ….. solle sich in den Köpfen einnisten, sei aber kontrafaktisch. Wer die Inhalte von BDS genauer ansehe, der erkenne, dass die Organisation das Ende Israels herbeisehne und durch Politik herbeiführen wolle, nicht mit militärischen Mitteln, sondern durch wirtschaftlichen und politischen Boykott: „Unter anderem wird gefordert, die Rückkehr alle Flüchtlinge (..). Heute ist die („deren Zahl“ müsste es heißen) Zahl auf fünf Millionen anzusetzen. Das wäre für Israel Selbstmord.“…..Mit dem Vorwurf des Antisemitismus werde die Debatte um die israelische Besatzungspolitik erstickt, heißt es in einem offenen Brief. …..„Israel ist die Lebensversicherung der Juden“. Die elementare Kritik an Israel sei antisemitisch, meint Wolffsohn, „weil Israel für die Juden, wo immer sie leben, die Lebensversicherung ist. Das ist die Überlebensgarantie und in der 3000-jährigen Geschichte der Juden hätte man eine solche Garantie sehr oft gebraucht.“ Aus Frankreich beispielsweise seien in den letzten Jahren 100.000 Juden nach Israel ausgewandert, weil auch dort der Antisemitismus zunehme. Selbst in einer der ältesten Demokratien der Welt sei also die Situation so unerträglich, dass sie nach Israel ausgewandert sind, Stichwort Lebensversicherung. Michael Wolffsohn: „Und wer Juden diese Lebensversicherung nehmen will, ist gegen Juden gerichtet. Und was gegen Juden gerichtet ist, nennt man Antisemitismus.“

Was offenbaren diese Worte? dass in einem Land wie Deutschland, zu dessen Politik die Unterstützung Israels „Staatsräson“ ist, und in dem tatsächlich jeder Ansatz einer Parteinahme für „die Palästinenser“ in die Nähe von Antisemitismus (oder mit ihm gleichgesetzt) gerückt wird, noch 90% der medialen Beiträge israelkritisch sein sollen. Entweder dehnt Wolffsohn den Begriff „israelkritisch“ ins Unendliche aus, oder wir haben in Deutschland eine staatliche Israelpolitik, die von der Volksmehrheit nicht mehr getragen wird. Ist es nun „antisemitisch“ wenn man in Wolffsohns Ansicht einen Angriff auf unsere Meinungsfreiheit sieht?

Nach den Straftatbeständen der §§ 81 ff StGB wird nur bestraft, wer Veränderung an den politischen Verhältnissen in Deutschland mit Gewalt vornehmen will. Entsprechend dürften dann nur Demonstrationen von Palästinensern verboten werden, die zur Gewalt gegen Israel aufriefen. Wolffsohn sieht aber schon in allgemeinpolitischen und wirtschaftlichen Maßnahmen ein Verhalten, das von den Behörden in Deutschland unterdrückt werden soll. Ist Wolffsohn ein Verfassungsfeind?

Und noch schlimmer ist eine Offenbarung Wolffsohns, dass

„die Lebensversicherung der Juden [„Israel“] von fünf Millionen [Arabern] bezahlt wird. …. „für Israel wäre es Selbstmord“, für diese „Zahlung“ einen angemessenen Ausgleich zu finden? Wolffsohn hat offenbar keine Alternativen „auf der Platte“.

Mit seinem Antisemitismusgerede schädigt Wolffsohn die jüdische Sache; 3.000 Jahre jüdische Geschichte? Mythologie! Die „jüdische Geschichte“ beginnt mit Esra (Zur Zeit des Perserkönigs Kyros und um die Zeit der Perserkriege der Hellenen) . Sie beginnt bezeichnenderweise mit der Vertreibung von Juden, die mit Frauen fremder Völker lebten. Haben die Juden dafür eine Lebensversicherung gebraucht? Ja, natürlich: hätten sie. Sie brauchten eine Versicherung auch, als sie ihre Kriege und Aufstände gegen Seleukiden und Römer durchzogen. Damals verspielten sie gerade Israel. Und 1492? Lebensversicherung Israel? Kein jüdisches Interesse daran trotz Einladung der Osmanen. Es war Frankreich, wo sich in Bordeaux eine jüdische Gemeinde bildete. Wenn wirklich „in den letzten Jahren“ (wie viele Jahre es sein sollen, sagte Wolffsohn nicht; aber unterstellen wir 10 Jahre) 100.000 jüdische Franzosen nach Israel ausgewandert seien, kann dies durchaus auch seinen Grund in der französischen Finanzpolitik haben. Es gibt viele Gründe, Frankreich zu verlassen. Nur weil 10.000 „Juden“ jährlich aus Frankreich nach Israel gehen, auf „unerträgliche antisemitische Verhältnisse in Frankreich“ zu schließen, ist für einen Militärwissenschaftler ein taktisches wie operatives Armutszeugnis. Solche Propagandisten sind sogar für die eigene Truppe unbrauchbar. Frankreich hat uralte jüdische Gemeinden, Eric Zemmour war Präsidentschaftskandidat mit jüdischer Herkunft, Adolphe Cremieux war 1870 französischer (jüdischer) Justizminister, der allen Juden Algeriens auf Antrag die französische Staatsbürgerschaft verlieh, Leon Blum war Premierminister vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, und George Mandel („Jeroboam“) war Minister der 3. Republik. Präsident Nikolaus Sarközi wurde von der Jüdischen Allgemeinen als Enkel eines Rabbiners bejubelt. Aber es ist vielleicht so, wie im „Fall Henry Kissinger“. Auch ihm wird nachgesagt „kein Teil des jüdischen Volkes sein zu wollen“ (Jüdische Allgemeine), weil er nicht bedingungslos hinter der israelischen Politik steht. Das tut dafür Ursula v. d. Leyen. Genau diese Spezies von drittklassigen Gestalten schaden der jüdischen Sache, gerade weil sie sich für Israel in einer zu plumpen Weise erklären. Auch Michael Wolffsohn argumentiert in erschreckend banaler Art und Weise.

von Lobenstein.

Warum Israel sich nicht ändern wird

Die Tage von Netanjahus konservativer Regierung sind nach dem 7. Oktober gezählt. Doch der Gaza-Krieg wird den Rechtsruck in Israel weiter verstärken.

Als die Hamas am 7. Oktober die israelischen Sperranlagen an der Grenze zum Gazastreifen durchbrach und ihr Massaker begann, kam beinahe sofort das Gefühl auf, Israel werde nie wieder dasselbe Land sein. Innerhalb weniger Stunden mussten die Israelis der Realität ins Auge sehen und erkennen, dass viele Grundannahmen der israelischen Palästina-Politik wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzten. 16 Jahre staatlicher Blockadepolitik gegenüber dem Gazastreifen hatten es nicht vermocht, den Israelis Sicherheit zu bringen.

Das Kalkül der Regierung, sie könne die Hamas zu einem pragmatischen Kurs anstiften, indem sie zuließ, dass Katar die Hamas finanziert, oder indem sie Menschen aus Gaza Arbeitserlaubnisse erteilte, ist nicht aufgegangen. Stattdessen ließ Israel sich durch dieses Kalkül zur Selbstgefälligkeit hinreißen. Dass die Bedrohung durch die Hamas sich mit Hilfe von High-Tech-Überwachung, unterirdischen Sperranlagen und des Raketenschutzschirms Iron Dome neutralisieren ließe, erwies sich als tödlicher Irrglaube.

Die Angriffe der Hamas haben auf grundsätzliche und grauenhafte Weise mit der Vorstellung aufgeräumt, die Palästinafrage lasse sich politisch unendlich vertagen, ohne dass Israel dafür einen Preis zu bezahlen hätte. Von dieser Vorstellung war die politische Führung in Israel so selbstverständlich ausgegangen, dass Kommentatoren sich eigene Vokabeln wie „Konfliktmanagement“ oder „Shrinking the conflict“ dafür ausdachten. Dementsprechend finden seit Jahren keine Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern über ein endgültiges Friedensabkommen mehr statt, obwohl Israel sich zeitgleich um die Normalisierung seiner Beziehungen zu immer mehr arabischen Staaten bemüht. Mehr als 20 Jahre lang hatten die rechten Parteien, die Israels politische Landschaft dominieren, den Wählerinnen und Wählern versprochen, diese Politik beschere dem Land mehr Sicherheit als jede andere – und die Mehrheit der Wählerschaft glaubte an dieses Versprechen. Der Angriff der Hamas am 7. Oktober brachte den Status quo nun zum Einsturz.

Unter einem wesentlichen Aspekt bleibt in Israel dennoch alles beim Alten. Zwar kreiden die Israelis ihrer politischen Führung das katastrophale Sicherheitsversagen im Zusammenhang mit den Hamas-Angriffen an, aber dass sich an ihrer politischen Grundausrichtung etwas ändert, ist unwahrscheinlich. Es ist gut möglich, dass Premierminister Benjamin Netanjahu nach Kriegsende nichts anderes als der Rücktritt übrigbleiben wird – vielleicht sogar schon eher, denn einen klar definierten Endpunkt hat der Krieg nicht.

In den Wochen seit dem Angriff wurde bereits bei mehreren Demonstrationen Netanjahus Rücktritt gefordert.

Israels Geschichte hat jedoch gerade in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gezeigt, dass das Land nach Phasen von Krieg oder extremer Gewalt wie der jetzigen politisch noch stärker nach rechts rückt. Wenn dieses Muster auch jetzt wieder greift, kann es gut sein, dass die Israelis eine neue Regierung wählen und trotzdem an genau jenen irrigen Annahmen festhalten, die für das Abdriften nach rechts maßgeblich waren und die jetzige Krise mitprägen.

Dass viele Israelis das desaströse Sicherheitsversagen ihres Landes Netanjahu persönlich anlasten, weil er an der Spitze steht, ist nicht verwunderlich. Erstaunlicher ist, dass sie ihren Protest mitten in einem Krieg artikulieren, der schwieriger zu führen ist als die meisten anderen Kriege, die Israel in den vergangenen Jahrzehnten ausgefochten hat. In den Wochen seit dem Angriff wurde bereits bei mehreren Demonstrationen Netanjahus Rücktritt gefordert. Dieser Forderung schloss Oppositionsführer Jair Lapid sich ebenso an wie einige Familien, deren Angehörige von der Hamas ermordet oder entführt wurden. Zahlreichen Umfragen zufolge hätte Netanjahu mit einer krachenden Niederlage zu rechnen, wenn jetzt gewählt würde.

Sogar laut einer Umfrage, die am 22. und 23. November unmittelbar nach Bekanntgabe der Einigung auf eine Geiselbefreiung durchgeführt hatte, würde die Regierungskoalition 23 ihrer 64 Sitze einbüßen (insgesamt gibt es in der Knesset 120 Sitze), obwohl durchaus zu erwarten gewesen wäre, dass die erwirkte Geiselbefreiung die Position der Regierung deutlich stärkt. Auch der Rückhalt für Netanjahus eigene Partei schwindet dramatisch: Wenn jetzt Wahlen stattfänden, würde die Likud-Partei fast die Hälfte ihrer 32 Knesset-Sitze verlieren. Der frappierendste Aspekt ist wohl, dass mehr als drei Viertel aller Israelis der Meinung sind, Netanjahu solle nach dem Krieg oder auch schon während des Krieges zurücktreten.

Diese Zahlen stehen in krassem Kontrast zu der Erfahrung, dass die meisten Staats- und Regierungschefs von einer riesigen Welle der Unterstützung getragen werden, wenn ihr Land angegriffen wird oder Krieg führt. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 scharten die Amerikanerinnen und Amerikaner sich schlagartig hinter US-PräsidentGeorge W. Bush. Während des Golfkriegs 1990/91 und während des 2003 begonnenen Irakkriegs verzeichneten die Zustimmungswerte der US-Führung zweistellige Zuwachsraten. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erlebte 2022, nachdem Russland in sein Land einmarschiert war, einen überwältigenden Popularitätsschub.

Netanjahus im Dezember 2022 geschmiedete Rechtsaußen-Koalition wurde schon lange vor dem Angriff der Hamas breit und heftig kritisiert. Fast das ganze Jahr über gingen Israelis massenhaft auf die Straße und protestierten gegen die höchst umstrittenen Pläne der Regierung für eine Justizreform. Es war die längste Protestwelle in der Geschichte Israels; der 7. Oktober hätte die 40. Protestwoche eingeläutet. Schon im April hielten nur noch 37 Prozent der Israelis zu ihrem Premierminister; nach dem Angriff der Hamas ist diese Zahl auf 26 Prozent abgestürzt. Mitte November favorisierten doppelt so viele Israelis – 52 Prozent – Netanjahus wichtigsten politischen Widersacher Benny Gantz, der früher Generalstabschef war und dem von Netanjahu als Notstandsregierung gebildeten Kriegskabinett angehört.

Aufgrund der gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfe steht Netanjahu zusätzlich unter Druck. Angesichts der gegen ihn anhängigen Korruptionsverfahren, der unter seiner Regie erfolgten Sicherheitspannen und des laufenden Krieges wird es für ihn schwierig oder ganz unmöglich werden, sich im Amt zu halten. Doch die grundsätzlichere Frage bleibt: Würde sich durch sein Ausscheiden an Israels politischer Grundausrichtung etwas fundamental ändern?

Trotz der breiten Empörung über die Regierung Netanjahu wegen der geplanten Justizreform ordnet die Mehrheit der jüdischen Wählerschaft sich in Umfragen politisch rechts ein. Nur fünf Tage vor dem Angriff der Hamas ergab eine Erhebung der sozialpsychologischen Forschungsstelle aChord, die an die Hebräische Universität angegliedert ist, dass zwei Drittel der jüdischen Israelis sich dem rechten Spektrum zuordnen (entweder „stramm rechts“ oder „gemäßigt rechts“), während zehn Prozent sich als links bezeichneten. Auf jeden jüdischen Israeli, der für eine linke Partei stimmt, kommen also der Tendenz nach beinahe sieben rechte Wähler. Allein schon angesichts dieser Zahlen wäre es erstaunlich, wenn die israelische Bevölkerung unter dem Eindruck des schlimmsten Gewaltausbruchs gegen Israelis seit Gründung ihres Staates nicht noch weiter nach rechts rücken würden.

Obwohl die Bevölkerung mit Netanjahus Regierung enorm unzufrieden ist, wird die Sorge vor politischer Instabilität es ihm wohl ermöglichen, an der Macht zu bleiben, solange der jetzige Krieg andauert. Auch in diesem Krieg kann noch vieles geschehen – und in welche Richtung die Wählergunst sich neigt, hängt möglicherweise auch davon ab, wie viel Zeit bis zur nächsten Wahl vergeht. Doch wenn Netanjahu am Ende aus dem Amt gedrängt wird, ist keineswegs ausgemacht, dass Israel danach ideologisch einen anderen Weg einschlägt.

Es war die längste Protestwelle in der Geschichte Israels.

Laut aktuellen Umfragen wenden die Wählerinnen und Wähler sich scharenweise Gantz’ Mitte-rechts-Partei „Nationale Einheit“ zu. Würde jetzt neu gewählt, käme die Partei von Benny Gantz nach einer am 24. November veröffentlichten Erhebung auf 43 Sitze – 11 Sitze mehr als die Likud-Partei bei den Wahlen 2022 und deutlich mehr als doppelt so viele Sitze, wie die Likud-Partei derzeit zu erwarten hätte. Ob es bei diesen Zahlen bleibt oder ob sie vielleicht sogar auf eine grundsätzlichere Verlagerung hin zur Mitte schließen lassen, weiß zum jetzigen Zeitpunkt niemand.

Da alle Rechtsaußen-Parteien des Landes der höchst unbeliebten Regierungskoalition angehören, bleibt außerdem abzuwarten, ob die Wählerinnen und Wähler, die sich über Netanjahus ursprüngliches Kabinett ärgern, automatisch ihr Kreuz bei der Partei „Nationale Einheit“ machen, die in seinem Kriegskabinett mit am Tisch sitzt. Im Augenblick profitiert Gantz dank seines hohen militärischen Renommees offenbar auch vom „Rally around the flag“-Effekt, der sich in Kriegszeiten einstellt.

Doch wenn die Israelis über Netanjahu verärgert sind und höchstwahrscheinlich nach rechts rücken – warum halten sie sich dann nicht an die Rechtsaußen-Parteien in der Koalition? Bislang zeigen sich in den Umfragen keine Stimmenzuwächse für die ultranationalistische Otzma Jehudit („Jüdische Stärke“) und für religiös-zionistische Parteien. Paradoxerweise könnten gerade Netanjahus extremistisches Programm, sein Angriff auf die demokratischen Institutionen und die katastrophal schlechte Regierungsführung im Vorfeld des Krieges das Wahlvolk davon abhalten, reflexhaft in eine noch stärker theokratische, antidemokratische und unverbesserlich rechte Ecke zu rücken.

Einer der größten Fehler Netanjahus war, dass er die Palästinafrage ausschließlich als Sicherheitsfrage betrachtete.

Eine naheliegende Reaktion auf die aktuelle Krise wäre ein Wechsel zu einer von Benny Gantz angeführten neuen Regierung. Gantz würde wahrscheinlich von Netanjahus permanenter populistischer Spaltungspolitik abrücken und im Unterschied zu ihm vermutlich keine Korruptionsskandale auslösen. Erst recht würde er wohl den messianischen Drang seines Vorgängers und seiner Regierung vermeiden, den Siedlungsbau voranzutreiben oder die Annexion formell festzuschreiben. Zugleich genießt Gantz, weil er auf eine lange militärische Laufbahn zurückblickt und weil seiner Partei auch ehemalige Likud-Mitglieder beigetreten sind, eine hohe Legitimität im rechten Lager, die er sich wird bewahren wollen.

Zudem liefert die Rhetorik von Gantz wenige Anhaltspunkte dafür, dass er mit dem Palästinaproblem wesentlich anders umgehen würde, als es die Rechte bisher getan hat. Weder als Kandidat noch als Mitglied des Kriegskabinetts hat Gantz sich offen für eine Zweistaatenlösung oder irgendeine andere politische Lösung der Palästinafrage ausgesprochen. Noch im vergangenen Jahr erteilte er dem Gedanken an „zwei Staaten für zwei Völker“ eine Absage: „Ich bin dagegen.“

Einer der größten Fehler Netanjahus war, dass er die Palästinafrage ausschließlich als Sicherheitsfrage betrachtete, als könnte man die politischen Hintergründe des Konflikts ignorieren. Dadurch entstand überhaupt die Schwachstelle, die es der Hamas erleichterte, dermaßen tödlich zuzuschlagen. Wahrscheinlich sieht Gantz als Mann der Armee die Palästina-Problematik mit ganz ähnlichen Augen – als Sicherheitsbedrohung, die es einzudämmen gilt und bei der es nicht um die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser geht. Wenn sich das bewahrheitet, dürfte der 7. Oktober bei allem Horror, den er bedeutet, dazu führen, dass es weitergeht wie gehabt – und Not und Elend auf beiden Seiten auch in Zukunft ihre Kreise ziehen.

Gekürzte Fassung des Beitrags „Why Israel Won’t Change“. © Foreign Affairs.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Ein paar Worte zum Krieg in Gaza

Während die israelische Regierung der Meinung ist, kriegsrechtskonform zu kämpfen, beantragt die südafrikanische Regierung den Erlass eines Haftbefehls gegen Ministerpräsident Netanjahu beim Internationalen Strafgerichtshof wegen Kriegsverbrechen. Erlassen wurde ein entsprechender Haftbefehl gegen Präsident Putin, was aber nichts daran ändert, dass dieser seinen Aggressionskrieg gegen die Ukraine fortsetzen kann. Das zeigt, dass das Recht in den Bereich der Propaganda eingegangen ist. Zwar gibt es genug Vorschriften, die ein Kombattant verletzen kann, aber die meisten sind Theorie. Cäsar ließ Vercingetorix köpfen, andere Besiegte wurden grausam verstümmelt wie Crassus, Rabbi Akiba oder Kaiser Mauritius, heute werden sie „abgeurteilt“. So geschah es schon nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, der dem Vater aller Volkskriege. Die französischen Revolutionäre brachten nur die eigenen Verlierer auf die Guillotine.
Als Legitimation hat man die Haager und die Genfer Konventionen und ein Völkerstrafrecht; präzedentiell hat man, wenn man von den amerikanischen Urteilen nach dem „civil war“ absieht, die noch den Charakter hatten, „Rebellen“ zu strafen, ein paar Urteile des Reichsgerichts in Leipzig, das ein einige Kriegsverbrecher des Ersten Weltkriegs verurteilte. Bekannter sind die Urteile des Strafgerichtshof in Nürnberg, der neben den so genannten Hauptkriegsverbrechern auch noch eine Reihe von Nachfolgeprozessen durchführte. Neuere Urteile verkündete der internationale Strafgerichtshof in Den Haag zu Verbrechen in Bosnien und Ruanda. Kriegsverbrecher sind in erster Linie Militärs. Das Leipziger Gericht verurteilte in seinem ersten Verfahren ein paar deutsche Soldaten, die während des Vormarsches durch Belgien 1914 ganz banal als Räuber auf eigene Rechnung gehandelt hatten. Schwieriger wäre eine Urteilsfindung gewesen, wenn die Soldaten ihre Räubereien auf Weisung eines Kommandeurs begangen hätten.
Dies liegt, vereinfacht gesagt, darin begründet, dass, wie Kurt Tucholsky es formulierte, Soldaten schlechthin Mörder seien. Seit der Regierung von Helmut Kohl gilt schon dieser Satz als Straftat, denn er beleidige jeden Soldaten, dessen Aufgabe es ist, nicht zu morden, sondern Feinde zu töten. Damit sind wir bereits im Propagandawesen. Man redet daher auch nicht mehr vom Töten, das zur untersten Ebene des Kriegswesens gehört (Carl v. Clausewitz), sondern wählt ein Vokabular der höheren Ebenen operativer und strategischer Schicht und sprich davon, Feinde auszuschalten, zu neutralisieren, unschädlich zu machen usw.; für das praktische Abmurksen, kalt machen und abwürgen ist der einfache Soldat zuständig, der die Drecksarbeit macht. Aber wie dreckig darf diese sein? Und wie dreckig muss diese werden, dass das Blut bis auf die Befehlshaber der höheren Ebenen hinaufspritzt?
Sahra Wagenknecht kritisierte (26.11.23) die israelische Kriegsführung als „rücksichtslos“; wie immer eine rücksichtsvolle Kriegsführung ausschauen müsste, lässt sie offen; es fragt sich, auf wen eine Kriegsführung überhaupt Rücksicht nehmen könnte. Theoretisch ist auf Zivilisten Rücksicht zu nehmen, aber diese dürfen den Operationen des Militärs nicht im Weg stehen. Jörg Friedrich (in: Das Gesetz des Krieges) weist an vielen Beispielen nach, dass Zivilisten den Militärs immer im Weg stehen. So z. B. auch den eigenen Truppen, die in einer Festung eingeschlossen sind. Der Feind muss diese nicht abziehen lassen, weil solchenfalls sich das Aushungern für die Belagerer in die Länge ziehen könnte. Krieg geht also an einer Zivilbevölkerung prinzipiell nicht vorbei.

Die Haager Landkriegsordnung von 1909 war schon überholt, als sie formuliert wurde. Gedanklich ging sie von den Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts aus. Ein Fürst dieses Jahrhunderts stritt sich mit einem anderen Souverän, wem das Erbe eines ausgestorbenen Fürstengeschlechts aufgrund welcher dynastischen Verbindungen zustehe. Beide wollten die zu erobernde Provinz gleichermaßen unzerstört übernehmen. Das war im 19. Jahrhundert bereits anders geworden; William Tecumseh Sherman, der im amerikanischen Bürgerkrieg das Shenandoah-Tal verwüstet hatte, kritisierte die preußischen Truppen 1870 in dem Sinn, dass sie nicht begriffen hätten, gegen ein feindliches Volk Krieg zu führen. Er meinte, sie hätten mit ihren Kanonen wesentlich rücksichtsloser auf die Dörfer und Städte feuern sollen. Und tatsächlich dürfte es auch so sein. Wenn man von expeditionellen Feldzügen absieht, wie etwa dem Krimkrieg, dann kämpfen ganze Völker gegeneinander; so hat Casimir Hermann Baer seine Enzyklopädie mit „Der Völkerkrieg“ schon 1914 betitelt. Die Völker kämpfen bis zur Erschöpfung gegeneinander; dies hat der Zweite Weltkrieg „gegen Hitler“ besonders deutlich demonstriert. Es wird so lange gekämpft, bis entweder ein Volk aufsteht (wegen Hungers 1918) oder eben nichts mehr zu verteidigen hat (wie 1945).

In Gaza kämpft „Israel“ gegen ein feindliches Volk. Nach Jörg Friedrichs Gesetz des Krieges kann es keine Rücksicht auf Zivilisten geben, solange gekämpft wird. Deswegen kann die israelische Armee auch die Zivilbevölkerung Gazas in Mitleidenschaft ziehen. Sie hätten sich gegen ihre gewalttätigen Mitbürger früher empören müssen, sich über den Feind zu empören wäre verspätet. Wenn also einzelne israelische Soldaten nicht fremde Wohnungen plündern (wie es von 1948 erzählt wird) oder, wenn nicht gezielt auf Personal des Roten Halbmonds geschossen wird, oder wenn Verwundete nicht abgeschlachtet werden, weil man „keine Gefangenen machen“ will, ist so ziemlich alles legitim, was militärisch geeignet ist, den Gegner in die Knie zu zwingen. In Bezug auf die IDF muss man sogar anerkennen, dass sie sich komplizierte Mörser ausgedacht hat, verschanzte Feinde zielgenau zu treffen. Auch die israelischen Luftschläge sind von erstaunlicher Präzision. A priori kämpfen die israelischen Verbände also „korrekt“.

Man darf auch als unwahrscheinlich abhaken, dass sich einzelne IDF-Soldaten als Räuber betätigen. Dies ist schon deswegen unwahrscheinlich, weil die arme Gaza-Bevölkerung kaum etwas besitzt, oder die Luftschläge übrig gelassen hätten, was für einen IDF-Soldaten mehr als Plunder wäre. Die sowjetischen Soldaten dagegen, die 1945 nach Deutschland eindrangen, stahlen wie die Raben „uri uri“ (an jeder Hand eine). Die ukrainische Führung will dagegen einzelne russische Soldaten drankriegen, die vor intakten Überwachungskameras unbewaffnete Zivilisten abseits von Kampfhandlungen erschossen haben. Von solchen Umständen ist in Gaza nichts bekannt. In der Logik kann daher ein Verbrechen des Krieges nur vom Höchstverantwortlichen begangen worden sein, den Krieg überhaupt zu führen.

Ministerpräsident Netanjahu ist kein Jurist; sein Fehler besteht allein in einer fehlerhaften Diktion. Er verkennt – wie viele im Westen – dass man in der Dritten Welt vieles anders versteht.; es wäre dann ein Propagandafehler, der natürlich kein Kriegsverbrechen ist. Wenn nämlich die Geiselnahme vom 7.10.23 ein Akt von Terroristen gewesen ist, dann hätte er die gewünschten Gefangenen aus israelischen Gefängnissen im Austausch freilassen müssen, und hätte seinen Krieg erst dann beginnen können, wenn „Gaza“, bzw. die Hamas die Täter des Massakers an echten Zivilisten nicht ausgeliefert hätten. Wenn er dies verkennt, dann beginnen einige die Terroropfer zu zählen und setzen sie in mathematische Relation zu den Opfern des Gegenschlags. Das Zahlenverhältnis wird dann zu einem Maßstab. Das ist der Fehler, den „Bibi“ entstehen lässt. Er hat also im Widerspruch zu einer kriegsvermeidenden Vorgehensweise sich gleich zum „Schlag gegen die Hamas“ entschieden, offensichtlich ganz im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung. Damit wird aber auch das Massaker vom 7.10.23 zu einer grausam legitimen Kriegshandlung in der Logik von Menschen, die noch ein Wissen um die kolonialen Methoden der europäischen Mächte haben.

Ein Irrsinn besonderer Art besteht darin, dass die Entscheidung zum Krieg nicht von höchster Hamas-Ebene (politische Ebene nach v. Clausewitz) aus getroffen wurde, sondern ganz unten auf taktischer Ebene: ein paar „Terroristen“ (türkisch: Freiheitskämpfer) hatten von dem Festival erfahren und sich entschlossen, dort auch noch Geiseln zu nehmen. Für die klassische Geiselnahme fehlte es bereits am Überraschungsmoment, und so kam es zu Massakern. Ein paar „Freiheitskämpfer“ der untersten Ebene haben also namens eines ganzen Volkes einem anderen den Krieg erklärt.

Hier offenbart sich der Irrsinn des Konflikts: er wird abseits aller staatlichen Ordnung fortgeführt wie ein Bürgerkrieg, nur zwischen zwei feindlichen Völkern. Von Recht oder Rücksicht zu sprechen, wäre also so oder so absurd. Hier gilt eher Martins Luthers Wort zum Bauernkrieg: Steche, haue drauf und würge hin, wer kann.
Vielleicht gelingt es außenstehenden Mächten, diesem humanitären Irrsinn Einhalt zu gebieten.

von Lobenstein

Menschenwürde für alle: Eine Antwort auf „Grundsätze der Solidarität. Eine Stellungnahme“

Menschenwürde für alle: Eine Antwort auf „Grundsätze der Solidarität. Eine Stellungnahme“
Wir, die Unterzeichnenden, sind zutiefst besorgt über die Erklärung „Grundsätze der Solidarität“, die am 13. November 2023 auf der Website der Forschungsstelle Normative Ordnungen der Goethe-Universität Frankfurt veröffentlicht wurde und von Nicole Deitelhoff, Rainer Forst, Klaus Günther und Jürgen Habermas unterzeichnet ist.
Wir schließen uns den Verfassern an und verurteilen die Ermordung und Geiselnahme israelischer Zivilisten durch die Hamas am 7. Oktober 2023 und stimmen voll und ganz mit der Notwendigkeit überein, jüdisches Leben in Deutschland angesichts des zunehmenden Antisemitismus zu schützen. Wir stimmen auch damit überein, dass die Erklärung diese Positionen mit der Achtung der Menschenwürde aller Menschen als zentralem Bestandteil des „demokratischen Ethos der Bundesrepublik Deutschland“ begründet.
Wir sind jedoch tief beunruhigt über die offensichtlichen Grenzen der von den Verfassern zum Ausdruck gebrachten Solidarität. Die Sorge um die Menschenwürde wird in der Erklärung nicht angemessen auf die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza ausgedehnt, die mit Tod und Zerstörung konfrontiert ist. Sie wird auch nicht auf die Muslime in Deutschland angewandt oder ausgedehnt, die eine zunehmende Islamophobie erleben. Solidarität bedeutet, dass das Prinzip der Menschenwürde für alle Menschen gelten muss. Dies erfordert, dass wir das Leiden aller von einem bewaffneten Konflikt Betroffenen anerkennen und angehen.
In der Erklärung heißt es, dass „die Maßstäbe der Beurteilung völlig entgleiten, wenn den Handlungen Israels völkermörderische Absichten unterstellt werden“. Unter Völkermordforschern und Rechtsexperten wird derzeit diskutiert, ob der rechtliche Standard für Völkermord erfüllt ist. Menschenrechtsgruppen haben vor dem Internationalen Strafgerichtshof und einem Bundesgericht in den USA Klage wegen Völkermordes eingereicht. Omer Bartov, Professor für Holocaust- und Völkermordstudien an der Brown University, hat uns kürzlich daran erinnert: „Wir wissen aus der Geschichte, dass es wichtig ist, vor einem möglichen Völkermord zu warnen, bevor er stattfindet, anstatt ihn erst zu verurteilen, wenn er bereits stattgefunden hat. Ich denke, dass wir diese Zeit noch haben.“ Solidarität zu zeigen und die Menschenwürde zu achten bedeutet, dass wir diese Warnung beherzigen und den Raum für Diskussionen und Überlegungen über die Möglichkeit eines Völkermordes nicht schließen dürfen. Nicht alle Unterzeichner sind der Meinung, dass die rechtlichen Voraussetzungen für einen Völkermord erfüllt sind, dennoch sind sich alle einig, dass dies eine Frage legitimer Debatten ist.
In der Erklärung werden drei „Leitprinzipien“ für militärische Maßnahmen genannt: „Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, die Vermeidung von Opfern unter der Zivilbevölkerung und die Führung eines Krieges mit der Aussicht auf einen künftigen Frieden“. Wir sind besorgt darüber, dass die Einhaltung des Völkerrechts, das auch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie kollektive Bestrafung, Verfolgung und die Zerstörung von ziviler Infrastruktur, einschließlich Schulen, Krankenhäusern und Gebetsstätten, verbietet, nicht erwähnt wird. Da wir uns von den Grundsätzen der internationalen Rechtsnormen, der Solidarität und der Menschenwürde leiten lassen, sind wir gezwungen, alle Konfliktbeteiligten an diesen höheren Standard zu binden.
Wir dürfen nicht zulassen, dass die Gräueltaten uns dazu zwingen, diese Grundsätze aufzugeben.

Unterzeichnerliste:
1. Adam Tooze (Professor of History, Columbia University)
2. Samuel Moyn (Professor, Yale University)
3. Amia Srinivasan (Professor of Social and Political Theory, University of Oxford)
4. Nancy Fraser (Professor of Political and Social Science, New School for Social Research)
5. Jay Bernstein (Professor of Philosophy, New School for Social Research)
6. Alice Crary (Professor of Philosophy, New School for Social Reserach)
7. Juliane Rebentisch (Universität Offenbach/University of Princeton)
8. Chandra Talpade Mohanti (Distinguished Professor, Syracuse University)
9. Diedrich Diederichsen (Professor for Theory of Contemporary Art, Academy of Fine Arts, Vienna)
10. Beate Roessler (Professor of Philosophy, University of Amsterdam)
11. Dirk Moses (Spitzer Professor of International Relations, City College of New York)
12. Quinn Slobodian (Professor of History, Wellesley College)
13. Michael Hardt (Professor, Duke)
14. Franco Bifo Berardi (Philosopher, Napoli)
15. Frederick Neuhouser (Professor of Philosophy, Columbia University)
16. Linda Zerilli (Charles E. Merriam Distinguished Service Professor of Political Science University of Chicago)
17. Paul Preciado (Philosopher, Paris)
18. Dr Scilla Elworthy (Founder, The Business Plan for Peace)
19. Rosalind Morris (Professor of Anthropology, Columbia University)
20. Albena Azmanova (Professor, University of Kent)
21. W. J. T. Mitchell (Professor, University of Chicago)
22. Daniel Loick (Associate Professor of Political and Social Philosophy, Universität Amsterdam)
23. Steven Klein (Senior Lecturer in Political Theory, King’s College London)
24. Robin Celikates (Professor of Philosophy, Freie Universität Berlin
25. Esra Özyürek (Professor, University of Cambridge)
26. Jeanne Morefield (Associate Professor of Political Theory, University of Oxford)
27. Katrin Flikschuh (Professor, London School of Economics and Political Science)
28. Melissa Williams (Professor of Political Science, University of Toronto)
29. Fumi Okiji (Assistant Professor, UC Berkeley)
30. Bruno Leipold (Fellow, The New Institute)
31. Anselm Franke (Professor, University of the Arts Zurich)
32. Tobias Müller (Fellow, The New Institute)
33. Akwugo Emejulu (Professor, University of Warwick)
34. Eva von Redecker (Berlin)
35. Maeve McKeown (Assistant Professor of Political Theory, University of Groningen)
36. William Clare Roberts (Associate Professor of Political Science , McGill University)
37. Henrike Kohpeiß (Postdoc, Free University, Berlin)
38. Matthias Lievens (Assistant Professor, Institute of Philosophy, KU Leuven)
39. John Smith (Professor Emeritus of Fine Art, University of East London)
40. Oreet Ashery (Artist)
41. Mason Leaver-Yap (Postgraduate Studies, Glasgow School of Art)
42. Eyal Weizman (Professor)
43. Angela Dimitrakaki (Art historian and novelist)
44. Yaiza Hernández Velázquez (Lecturer, Goldsmiths, University of London)
45. Marina Vishmidt (Professor of Art Theory, University of Applied Arts, Vienna)
46. Cecile Malaspina (Directrice de programme, College international de philosophie, France)
47. Gabriëlle Schleijpen (Artistic director | head of program DAI Roaming Academy)
48. Larne Abse Gogarty (Head of History and Theory of Art, Slade School of Fine Art, UCL)
49. Peter Osborne (Professor of Modern European Philosophy, Kingston University London)
50. Mirjam Müller (Jun.- Professor of Feminist Philosophy, Humboldt University of Berlin
51. Charles Esche (Professor, University of the Arts, London)
52. Nikhil Pal Singh (Professor of Social and Cultural Analysis and History, Chair of the Department of Social and Cultural Analysis, New York University)
53. Marion Detjen (Bard College Berlin)
54. Sultan Doughan (Lecturer, Goldsmiths)
55. Claire Bishop (Professor, CUNY Graduate Center)
56. David Lloyd (Distinguished Professor of English , University of California, Riverside)
57. Alice von Bieberstein (Humboldt Universität zu Berlin)
58. Paul Apostolidis (Professor, LSE)
59. Aurelia Kalisky (Berlin)
60. Maurizio Lazzarato (Philosopher, Paris)
61. Alberto Toscano (Professor of Critical Theory, Goldsmiths, University of London / Simon Fraser University)
62. Ana Teixeira Pinto (Professor HBK/Dutch Art Institute)
63. William Callison (Postdoc, Uppsala University)
64. Nadim Khoury (Associate Professor, Inland Norway University of Applied Science)
65. Natasha Lennard (Associate Director Critical Journalism, The New School, New York)
66. Zeynep Gambetti (Associate Professor, Istanbul)
67. Volkan Çidam (Assist. Prof, Boğaziçi University, İstanbul)
68. Jacob Blumenfeld (Fellow, Centre for Social Critique, HU Berlin)
69. Anya Topolski (Associate Professor in Political Philosophy, Radboud University)
70. Antke Engel (Institute for Queer Theory, Berlin)
71. Thomas Locher (Artist)
72. Denise Ferreira da Silva (Professor, University of British Columbia)
73. Paula Chakravarttu (James Weldon Johnson Associate Professor of Media Studies, New York University)
74. Alexi Kukuljevic (Assistant Professor, University of Applied Arts Vienna)
75. Giovanna Zapperi (Professor, University of Geneva)
76. Manuela Bojadžijev (Professor, Humboldt-University)
77. Frieder Vogelmann (Professor for Epistemology and Theory of Science, University of Freiburg)
78. James Cochrane (Emeritus Professor, University of Cape Town)
79. Enzo Rossi (Associate Professor of Political Science, University of Amsterdam)
80. Siddharth Soni (Research Fellow, University of Cambridge)
81. Franz Knappik (Professor of Philosophy, University of Bergen)
82. Daniel James (Postdoc, Technische Universität Dresden)
83. Eyja Brynjarsdottir (Professor of Philosophy, University of Iceland)
84. Hanna Meißner (Professor, Technische Universität Berlin)
85. Su Ming Khoo (Associate Professor, University of Galway)
86. Timothy Waligore (Associate Professor Political Science, Pace University)
87. David Welch (Professor of Political Science, University of Waterloo)
88. Alison M Jaggar (Emerita Professor of Distinction, University of Colorado Boulder)
89. Giovanni Mascaretti (Postdoc, University of Bergamo)
90. Peter J. Verovšek (Assistant Professor, History and Theory of European Integration, University of Groningen)
91. Erin R. Pineda (Phyllis C. Rappaport ’68 New Century Term Assistant Professor of Government, Smith College)
92. Amy Reed-Sandoval (Associate Professor, University of Nevada, Las Vegas)
93. John Pringle (Independent Researcher)
94. Assel Tutumlu (Associate Professor in Political Science, Near East University)
95. Alasia Nuti (Senior Lecturer in Political Theory, University of York)
96. Tirdad Zolghadr (Guest professor, University of the Arts Berlin)
97. Mathelinda Nabugodi (Lecturer, University College London)
98. Doriane Zerka (Assistant Professor, University of Cambridge)
99. Sina Kramer (Associate Professor of Women’s and Gender Studies, Loyola Marymount University)
100. Chady Seubert (Actress)
101. Diana Abbani (Researcher, Forum Transregionale Studien)
102. Eddie Bruce-Jones (Professor of Law, SOAS, University of London)

Menschenwürde für alle: Eine Antwort auf „Grundsätze der Solidarität. Eine Stellungnahme“

Wir, die Unterzeichnenden, sind zutiefst besorgt über die Erklärung „Grundsätze der Solidarität“, die am 13. November 2023 auf der Website der Forschungsstelle Normative Ordnungen der Goethe-Universität Frankfurt veröffentlicht wurde und von Nicole Deitelhoff, Rainer Forst, Klaus Günther und Jürgen Habermas unterzeichnet ist.

Wir schließen uns den Verfassern an und verurteilen die Ermordung und Geiselnahme israelischer Zivilisten durch die Hamas am 7. Oktober 2023 und stimmen voll und ganz mit der Notwendigkeit überein, jüdisches Leben in Deutschland angesichts des zunehmenden Antisemitismus zu schützen. Wir stimmen auch damit überein, dass die Erklärung diese Positionen mit der Achtung der Menschenwürde aller Menschen als zentralem Bestandteil des „demokratischen Ethos der Bundesrepublik Deutschland“ begründet.

Wir sind jedoch tief beunruhigt über die offensichtlichen Grenzen der von den Verfassern zum Ausdruck gebrachten Solidarität. Die Sorge um die Menschenwürde wird in der Erklärung nicht angemessen auf die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza ausgedehnt, die mit Tod und Zerstörung konfrontiert ist. Sie wird auch nicht auf die Muslime in Deutschland angewandt oder ausgedehnt, die eine zunehmende Islamophobie erleben. Solidarität bedeutet, dass das Prinzip der Menschenwürde für alle Menschen gelten muss. Dies erfordert, dass wir das Leiden aller von einem bewaffneten Konflikt Betroffenen anerkennen und angehen.

In der Erklärung heißt es, dass „die Maßstäbe der Beurteilung völlig entgleiten, wenn den Handlungen Israels völkermörderische Absichten unterstellt werden“. Unter Völkermordforschern und Rechtsexperten wird derzeit diskutiert, ob der rechtliche Standard für Völkermord erfüllt ist. Menschenrechtsgruppen haben vor dem Internationalen Strafgerichtshof und einem Bundesgericht in den USA Klage wegen Völkermordes eingereicht. Omer Bartov, Professor für Holocaust- und Völkermordstudien an der Brown University, hat uns kürzlich daran erinnert: „Wir wissen aus der Geschichte, dass es wichtig ist, vor einem möglichen Völkermord zu warnen, bevor er stattfindet, anstatt ihn erst zu verurteilen, wenn er bereits stattgefunden hat. Ich denke, dass wir diese Zeit noch haben.“ Solidarität zu zeigen und die Menschenwürde zu achten bedeutet, dass wir diese Warnung beherzigen und den Raum für Diskussionen und Überlegungen über die Möglichkeit eines Völkermordes nicht schließen dürfen. Nicht alle Unterzeichner sind der Meinung, dass die rechtlichen Voraussetzungen für einen Völkermord erfüllt sind, dennoch sind sich alle einig, dass dies eine Frage legitimer Debatten ist.

In der Erklärung werden drei „Leitprinzipien“ für militärische Maßnahmen genannt: „Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, die Vermeidung von Opfern unter der Zivilbevölkerung und die Führung eines Krieges mit der Aussicht auf einen künftigen Frieden“. Wir sind besorgt darüber, dass die Einhaltung des Völkerrechts, das auch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie kollektive Bestrafung, Verfolgung und die Zerstörung von ziviler Infrastruktur, einschließlich Schulen, Krankenhäusern und Gebetsstätten, verbietet, nicht erwähnt wird. Da wir uns von den Grundsätzen der internationalen Rechtsnormen, der Solidarität und der Menschenwürde leiten lassen, sind wir gezwungen, alle Konfliktbeteiligten an diesen höheren Standard zu binden.

Wir dürfen nicht zulassen, dass die Gräueltaten uns dazu zwingen, diese Grundsätze aufzugeben.

 

Unterzeichnerliste:

  1. Adam Tooze (Professor of History, Columbia University)
  2. Samuel Moyn (Professor, Yale University)
  3. Amia Srinivasan (Professor of Social and Political Theory, University of Oxford)
  4. Nancy Fraser (Professor of Political and Social Science, New School for Social Research)
  5. Jay Bernstein (Professor of Philosophy, New School for Social Research)
  6. Alice Crary (Professor of Philosophy, New School for Social Reserach)
  7. Juliane Rebentisch (Universität Offenbach/University of Princeton)
  8. Chandra Talpade Mohanti (Distinguished Professor, Syracuse University)
  9. Diedrich Diederichsen (Professor for Theory of Contemporary Art, Academy of Fine Arts, Vienna)
  10. Beate Roessler (Professor of Philosophy, University of Amsterdam)
  11. Dirk Moses (Spitzer Professor of International Relations, City College of New York)
  12. Quinn Slobodian (Professor of History, Wellesley College)
  13. Michael Hardt (Professor, Duke)
  14. Franco Bifo Berardi (Philosopher, Napoli)
  15. Frederick Neuhouser (Professor of Philosophy, Columbia University)
  16. Linda Zerilli (Charles E. Merriam Distinguished Service Professor of Political Science         University of Chicago)
  17. Paul Preciado (Philosopher, Paris)
  18. Dr Scilla Elworthy (Founder, The Business Plan for Peace)
  19. Rosalind Morris (Professor of Anthropology, Columbia University)
  20. Albena Azmanova (Professor, University of Kent)
  21. W. J. T. Mitchell (Professor, University of Chicago)
  22. Daniel Loick (Associate Professor of Political and Social Philosophy, Universität Amsterdam)
  23. Steven Klein (Senior Lecturer in Political Theory, King’s College London)
  24. Robin Celikates (Professor of Philosophy, Freie Universität Berlin
  25. Esra Özyürek (Professor, University of Cambridge)
  26. Jeanne Morefield (Associate Professor of Political Theory, University of Oxford)
  27. Katrin Flikschuh (Professor, London School of Economics and Political Science)
  28. Melissa Williams (Professor of Political Science, University of Toronto)
  29. Fumi Okiji (Assistant Professor, UC Berkeley)
  30. Bruno Leipold (Fellow, The New Institute)
  31. Anselm Franke  (Professor, University of the Arts Zurich)
  32. Tobias Müller (Fellow, The New Institute)
  33. Akwugo Emejulu (Professor, University of Warwick)
  34. Eva von Redecker (Berlin)
  35. Maeve McKeown            (Assistant Professor of Political Theory,  University of Groningen)
  36. William Clare Roberts (Associate Professor of Political Science , McGill University)
  37. Henrike Kohpeiß (Postdoc, Free University, Berlin)
  38. Matthias Lievens (Assistant Professor, Institute of Philosophy, KU Leuven)
  39. John Smith (Professor Emeritus of Fine Art, University of East London)
  40. Oreet Ashery (Artist)
  41. Mason Leaver-Yap (Postgraduate Studies, Glasgow School of Art)
  42. Eyal Weizman (Professor)
  43. Angela Dimitrakaki (Art historian and novelist)
  44. Yaiza Hernández Velázquez (Lecturer, Goldsmiths, University of London)
  45. Marina Vishmidt (Professor of Art Theory, University of Applied Arts, Vienna)
  46. Cecile Malaspina (Directrice de programme, College international de philosophie, France)
  47. Gabriëlle Schleijpen (Artistic director | head of program DAI Roaming Academy)
  48. Larne Abse Gogarty (Head of History and Theory of Art, Slade School of Fine Art, UCL)
  49. Peter Osborne (Professor of Modern European Philosophy, Kingston University London)
  50. Mirjam Müller (Jun.- Professor of Feminist Philosophy, Humboldt University of Berlin
  51. Charles Esche (Professor, University of the Arts, London)
  52. Nikhil Pal Singh (Professor of Social and Cultural Analysis and History, Chair of the Department of Social and Cultural Analysis, New York University)
  53. Marion Detjen (Bard College Berlin)
  54. Sultan Doughan (Lecturer, Goldsmiths)
  55. Claire Bishop (Professor, CUNY Graduate Center)
  56. David Lloyd (Distinguished Professor of English , University of California, Riverside)
  57. Alice von Bieberstein (Humboldt Universität zu Berlin)
  58. Paul Apostolidis (Professor, LSE)
  59. Aurelia Kalisky (Berlin)
  60. Maurizio Lazzarato (Philosopher, Paris)
  61. Alberto Toscano (Professor of Critical Theory, Goldsmiths, University of London / Simon Fraser University)
  62. Ana Teixeira Pinto (Professor HBK/Dutch Art Institute)
  63. William Callison (Postdoc, Uppsala University)
  64. Nadim Khoury (Associate Professor, Inland Norway University of Applied Science)
  65. Natasha Lennard (Associate Director Critical Journalism, The New School, New York)
  66. Zeynep Gambetti             (Associate Professor, Istanbul)
  67. Volkan Çidam (Assist. Prof, Boğaziçi University, İstanbul)
  68. Jacob Blumenfeld (Fellow, Centre for Social Critique, HU Berlin)
  69. Anya Topolski (Associate Professor in Political Philosophy, Radboud University)
  70. Antke Engel (Institute for Queer Theory, Berlin)
  71. Thomas Locher (Artist)
  72. Denise Ferreira da Silva (Professor, University of British Columbia)
  73. Paula Chakravarttu (James Weldon Johnson Associate Professor of Media Studies, New York University)
  74. Alexi Kukuljevic (Assistant Professor, University of Applied Arts Vienna)
  75. Giovanna Zapperi            (Professor, University of Geneva)
  76. Manuela Bojadžijev (Professor, Humboldt-University)
  77. Frieder Vogelmann (Professor for Epistemology and Theory of Science,  University of Freiburg)
  78. James Cochrane               (Emeritus Professor, University of Cape Town)
  79. Enzo Rossi (Associate Professor of Political Science, University of Amsterdam)
  80. Siddharth Soni (Research Fellow, University of Cambridge)
  81. Franz Knappik (Professor of Philosophy, University of Bergen)
  82. Daniel James (Postdoc, Technische Universität Dresden)
  83. Eyja Brynjarsdottir (Professor of Philosophy, University of Iceland)
  84. Hanna Meißner (Professor, Technische Universität Berlin)
  85. Su Ming Khoo (Associate Professor, University of Galway)
  86. Timothy Waligore            (Associate Professor Political Science, Pace University)
  87. David Welch (Professor of Political Science, University of Waterloo)
  88. Alison M Jaggar (Emerita Professor of Distinction, University of Colorado Boulder)
  89. Giovanni Mascaretti (Postdoc, University of Bergamo)
  90. Peter J. Verovšek             (Assistant Professor, History and Theory of European Integration, University of Groningen)
  91. Erin R. Pineda (Phyllis C. Rappaport ’68 New Century Term Assistant Professor of Government, Smith College)
  92. Amy Reed-Sandoval (Associate Professor, University of Nevada, Las Vegas)
  93. John Pringle       (Independent Researcher)
  94. Assel Tutumlu  (Associate Professor in Political Science, Near East University)
  95. Alasia Nuti (Senior Lecturer in Political Theory, University of York)
  96. Tirdad Zolghadr (Guest professor, University of the Arts Berlin)
  97. Mathelinda Nabugodi (Lecturer, University College London)
  98. Doriane Zerka (Assistant Professor, University of Cambridge)
  99. Sina Kramer (Associate Professor of Women’s and Gender Studies, Loyola Marymount University)
  100. Chady Seubert (Actress)
  101. Diana Abbani (Researcher, Forum Transregionale Studien)
  102. Eddie Bruce-Jones (Professor of Law, SOAS, University of London)

https://www.bostonreview.net/articles/more-than-genocide/

 

 

Der siebte Oktober 2023 – Terror und Herausforderung

Richard Glöckner, Gastautor

Der Terrorangriff von Kampftruppen der langjährigen Widerstandsgruppe Hamas am 7. Oktober 2023 im Grenzgebiet zwischen dem Staat Israel und dem von Israel kontrollierten Gazastreifen war zweifellos ein äußerst gewalttätiger und in den Einzelausführungen barbarischer Terrorakt. Zwischen 1200 – 1400 unbeteiligte israelische Bürger und Gäste Israels wurden grausam ermordet. Besonders abstoßend war, dass man einzelne barbarische Vorgänge auch noch dokumentiert hat. Dass unendliche Trauer und auch Wut die spontane Reaktion und Antwort der Betroffenen sind, ist durchaus nachvollziehbar.
Angesichts dieser verheerenden verbrecherischen Tatsachen drängt sich die Frage auf, wie war so etwas möglich? Wer denkt sich solche Brutalitäten und Grausamkeiten aus und setzt sie auch noch in die Tat um? Dass hier wiederum maßlose Formulierungen in der Schuldzuweisung und krasse Rufe nach einer umfassenden Vergeltung auftauchen, ist menschlich verständlich. Auffallend ist allerdings, dass im Stimmengewirr nirgends der eigentlich übliche Ruf nach gerechter und angemessener Bestrafung der Schuldigen auftaucht.
Er fehlt auch bei denen, die für Rechtssicherheit und gesellschaftliche Ordnung verantwortlich sind und die von daher mäßigend auf die Emotionen einwirken müssten. In einem Rechtsstaat muss es um Gerechtigkeit und nicht um Rache und Vergeltung gehen. Das scheint im Staat Israel offenbar derzeit nicht anzukommen.
Im Gegenteil: Mehr als fragwürdig ist die Reaktion führender Militärs, Politiker und bekannter Personen des öffentlichen Lebens.[1] So sagte Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend.“ Doron Ben David, ein berühmter Schauspieler meinte: „Gaza muss ausgelöscht werden!!!, Ausgelöscht!!! Mit allem, ohne auch nur ein Staubkorn von dem Ort zu hinterlassen, aus dem solche humanoiden Tiere kommen.“ Auch schon früher haben führende Israelis die Palästinenser etwa als »Kakerlaken auf zwei Beinen« bezeichnet. So kann auch Danny Ayalon, ehemaliger stellvertretender Außenminister sagen, „dass Israel die Zivilbevölkerung in Gaza aus Rache aushungert.“ Das Knessetmitglied Merav Ben-Ari sagte: „Die Kinder in Gaza haben sich das selbst eingebrockt.“ Kinder! Schuldig!? Offene Bestrafung? Wo sind wir? Ein israelischer Reservist fordert: „Löscht ihre Familien, ihre Mütter und ihre Kinder aus. Diese Tiere dürfen nicht mehr leben.“
Im allgemeinen Stimmengewirr geht es durchweg um »auslöschen«, »bis auf die Grundmauern zerstören«, »in Trümmer verwandeln«. „Ihr wollt die Hölle, wir werden euch die Hölle geben.“ Ministerpräsident Netanjahu bemüht sogar die Bibel und sieht in den Palästinensern das antike Volk der Amalekiter, für das es schon damals nur eine Zukunft gab: »auslöschen« (Buch Deuteronomium 25,19). „Vernichtung“ war schon bei der ersten Landnahme ca. 1200 vor Christus das Einzige, was die dort lebenden Völker zu erwarten hatten (vgl. Deuteronomium 7,2).
Einem Gegner oder Feind oder auch schlimmsten Verbrechern die Menschenwürde abzusprechen, sprengt den Rahmen einer zivilen Gesellschaft.
Dass Mitglieder in führenden politischen und gesellschaftlichen Schichten sich so äußern und eine pogromartige Stimmung schaffen, dürfte in einem von den „westlichen Werten“ geleiteten Staat, der sich selbst als „einzige Demokratie“ im Vorderen Orient bezeichnet, schwer einzuordnen sein. Diese Äußerungen werden aber von den westlichen Politikern und Medien nicht zur Kenntnis genommen. Lapidar erklärt der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, er sei sicher, dass Israel das Völkerrecht achte und einhalte. Woher mag er diese Sicherheit haben?
Im derzeitigen Stimmengewirr um die Frage, was aus Gaza werden soll, tauchen in der Presse Vermutungen auf, die sich auf Reden von führenden Politikern stützen und unter dem Stichwort Gaza-Nakba kursieren. Konkret schreibt Ariel Kallner, Mitglied des israelischen Parlaments und Vorsitzender des parlamentarischen Ausschusses für die Beziehungen zwischen Israel und der EU: „Nakba! Nakba größer als die 48, die Alternative ist klar. Nakba in Gaza und Nakba gegen jeden, der mitmacht! Ihre Nakba wie die damals 48, die Alternative ist klar“.

Welche Vorstellungen und Wünsche werden damit laut? Die Charakterisierung der Nakba von 1948 kurz vor und nach der Gründung des Staates Israel lässt sich historisch zuverlässig recherchiert mit einigen Passagen aus den Büchern von Ilan Pappe, Die ethnische Säuberung Palästinas, Frankfurt am Main 2007, S. 130f und
Petra Wild, Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina, Wien 2013, S. 17 belegen.

Petra Wild schreibt:
„Die ethnische Säuberung im großen Stil begann im März 1948, nachdem der innerste zionistische Führungsstab die Umsetzung des zu diesem Zweck bereits vorbereiteten »Plan Dalet« [alle den Juden zugesprochenen Regionen „araberfrei“ machen] beschlossen hatte…. Teilweise wurden die Menschen direkt vertrieben, teilweise durch Gräueltaten zur Flucht gezwungen. Massaker an der Zivilbevölkerung spielten eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Furcht und Schrecken. Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand begingen zionistische Truppen mindestens 70 Massaker und Gräueltaten, von denen die bekanntesten in Deir Yassin bei Jerusalem/al-Quds, Tantura bei Haifa und Duwayma bei Hebron/al-Khalil stattfanden.“

Ilan Pappe schreibt zur Situation in Deir Yassin im April 1948.:
„Das »freundliche Hirtendorf« hatte mit der Hagana in Jerusalem einen Nichtangriffspakt geschlossen, war aber dazu verurteilt, ausradiert zu werden, weil es innerhalb der Gebiete lag, die in Plan Dalet für die Säuberung vorgesehen waren… Als die jüdischen Soldaten in das Dorf eindrangen, nahmen sie die Häuser mit Maschinenpistolen unter Dauerfeuer und töteten viele Einwohner. Anschließend trieben sie die übrigen Einwohner an einem Ort zusammen, ermordeten sie, schändeten ihre Leichen und vergewaltigten eine Reihe von Frauen, bevor sie sie töteten. Der damals zwölfjährige Fahim Zaydan erinnerte sich, wie seine Familie vor seinen Augen ermordet wurde: »Sie holten uns nacheinander heraus, erschossen einen alten Mann, und als eine seiner Töchter schrie, erschossen sie sie ebenfalls. Dann riefen sie meinen Bruder Muhammad und erschossen ihn vor unseren Augen, und als meine Mutter sich schreiend über ihn beugte – sie hatte noch meine kleine Schwester Hudra im Arm, die sie gerade stillte –, erschossen sie sie auch.«… Unter den Opfern des Blutbades in Deir Yassin befanden sich 30 Babys…“
Petra Wild:
„In Deir Yassin wurden im April 1948 zwischen 100 und 150 der 750 Dorfbewohner – Männer, Frauen und Kinder – getötet. 25 der überlebenden Männer wurden daraufhin in blutdurchtränkter Kleidung im Triumphzug durch Jerusalem geführt, um dann in einer ruhigen Ecke der Stadt erschossen zu werden.
In Tantura wurden im Mai 1948 vor allem Männer auf den Straßen, in den Häusern und in kleinen Gruppen auf dem Friedhof des Dorfes erschossen. Einige hatten zuvor noch ihre Gräber ausheben müssen.
Die Gräueltaten in Dawayma im Oktober 1948 wurden von einem Soldaten, der direkt nach dessen Besetzung in das Dorf beordert wurde, wie folgt geschildert: Sie töteten etwa 80-100 Araber, Frauen und Kinder. Die Kinder wurden getötet, indem ihre Schädel mit Knüppeln zertrümmert wurden. Es gab kein einziges Haus ohne Tote… In dem Dorf verbliebene Männer und Frauen wurden ohne Essen und Trinken in Häuser gesteckt. Dann kamen die Pioniere, um die Häuser zu sprengen. Ein Offizier befahl einem Pionier, zwei alte Frauen in das Haus zu bringen, das zu sprengen er sich anschickte. Der Pionier weigerte sich… Also befahl der Offizier seinen eigenen Soldaten, die alten Frauen hineinzubringen und die Gräueltat wurde ausgeführt. Ein anderer Soldat brüstete sich damit, dass er eine arabische Frau vergewaltigt und dann erschossen hatte.“

Die hier skizzierten Beispiele ließen sich um viele ähnliche, wie auch die in Filmen dokumentierte, mörderische Vertreibung der Palästinenser aus Haifa erweitern. Sie verdeutlichen eines: Es hat nicht nur eine Massenflucht von etwa 700.000 Palästinensern gegeben. Die war ausgelöst und wurde vorangetrieben durch zahllose Massaker, deren unmittelbarer Zweck die Vernichtung von Palästinensern war; gleichzeitig sollten sie in der Bevölkerung chaotische Ängste auslösen und die Menschen zur Flucht treiben.
Man kann nun sagen: Das ist mittlerweile rund 80 Jahre her und damit Vergangenheit. Diese Vergangenheit ist aber in der heutigen palästinensischen Gesellschaft emotionale Gegenwart. Nimmt man die Gruppe der gewalttätigen Terroristen vom 7. Oktober, so haben möglicherweise die Ältesten von ihnen das Jahr 1948 als Kinder erlebt. Vielleicht waren sie persönlich Zeuge und sind in ihrer Erinnerung und ihrem Erleben immer noch dabei. Es geht um ihre eigene Lebensgeschichte. Vielleicht haben sie selbst erlebt, wie vor ihren Augen Mutter oder Vater erschossen wurden, wie man die Mutter vergewaltigte, bevor man sie ermordete; wie man eine Tante oder Großmutter in ein Haus zerrte, das man dann in die Luft sprengte.
Wie man Babys den Kopf mit Holzknüppeln zertrümmerte, ist zwar nicht gefilmt worden, ist aber mit Sicherheit geschehen und nicht vergessen worden. Kinder und die folgende Generation, die es nicht selber gesehen haben, erlebten es durch Erzählen und Schilderungen in ihren Familien. So oder so wuchsen sie in einer traumatisierten und traumatisierenden Umwelt auf. Die Folge war eine Atmosphäre von Verzweiflung, Wut und Hass. Die erhielt auch in den Jahren nach 1948 immer neue Nahrung durch permanente Entrechtung, Demütigungen, Schikanen und Beraubungen im alltäglichen Leben. Man lese nur einmal bei „Braeking the Silence“ und „Checkpoint Watch“ nach, wie sich der Alltag der Palästinenser nach 1967 abspielte. Und all das, „während die Welt schlief“[2] und für die Palästinenser im kollektiven Bewusstsein der Welt immer noch schläft. Am Rande werden auch heute Hinweise auf den Landraub bei der Staatsgründung, die Massaker von 1948 und den räuberischen Siedlungsbau in der Westbank manchmal zwar gestreift, ohne in ihrer traumatisierenden Wirkung ernst genommen zu werden.
Die Öffentlichkeit ist heute zu Recht fassungslos und empört über die Art, wie das Massaker am 7. Oktober durchgeführt wurde und macht sich Gedanken über die Abgründe von Niedertracht, Bosheit und Brutalität. Wenn man es aber nüchtern analytisch betrachtet, dann haben die Täter der Hamas gemäß ihrem politischen und sozialen Umfeld reagiert und umgesetzt, was sie selbst bei der Nakba und in der folgenden Unterdrückungsgeschichte erlebt haben und was sich ihrem Leben emotional eingebrannt hat. Ihr Tun weist sie nicht als »humanoide Tiere« aus, sondern zeigt, wozu zutiefst verletzte Menschen fähig sind. Sie waren am 7. Oktober nicht aus dem Nichts des absolut Bösen plötzlich da, sondern handelten getrieben von einer von Hass und Wut entstellten Lebensgeschichte. Erlittene Gewalt haben sie ungefiltert in einen Ausbruch von Wut, Hass, Grausamkeit und Verzweiflung umgesetzt. Sie demonstrieren in erschreckender Unmittelbarkeit die Umwandlung von Opfern in Täter. Kann man diese Überlegungen wirklich nur als ein psychologisierendes Mutmaßen oder eine realitätsferne Spinnerei abtun, oder liegen sie bei normalem menschlichem Empfinden nicht einfach auf der Hand?

Es fordert schon Mut gegenüber dem eigenen Erschrecken, die Zusammenhänge so zu interpretieren. Aber die einseitige und ausschließliche Konzentration auf das Leid der Opfer vom 7. Oktober weigert sich, die Problematik in ihrer wirklichen Abgründigkeit wahrzunehmen. Die Ermordeten und die schockierten und trauernden Hinterbliebenen sind Teil einer sie umklammernden Geschichte, die sich nicht in Luft auflösen lässt. Wenn man den Hinweis auf diese Verbindungen als moralisch unangemessen und empörend zurückweist, sollte man nicht vergessen, dass Israelis das Attentat ständig mit dem Holocaust in Verbindung bringen, die Attentäter als geistige Nachfolger der Nazis bezeichnen. Aber die Geschichte Israels und die der Palästinenser ist wesentlich enger miteinander verwoben als palästinensische Beziehungen zum NS-Reich. Die Geschichte Israels hat die Palästinenser wesentlich intensiver geprägt als der behauptete, ideologisch und emotional entlastende Brückenschlag zu Nazideutschland. Die heute oft gezeigten trauernden Familien in Israel verdienen Anteilnahme und Respekt vor ihrer berechtigten Forderung nach Wiedergutmachung. Man darf sie aber nicht einfach trennen von den von der Nakba Betroffenen – von den mittlerweile ein Leben lang trauernden palästinensischen Müttern und Kindern, die über Jahrzehnte nicht wahrgenommen wurden und noch heute leicht aus dem Blickfeld geraten. Die Söhne dieser Mütter wissen um eine äußerst leidvolle Vergangenheit und haben zudem ein Leben ohne jede Perspektive vor sich. Die heutigen Bilder und Stellungnahmen in offiziellen radikalen Verurteilungen und in den Medien fangen nur einen Teil der Wirklichkeit ein und blenden den Blick auf das ganze Geschehen aus. Aber dieser ausgeblendete Teil der Geschichte hat maßgeblich dazu beigetragen, was am 7. Oktober geschehen ist. Die Täter der Hamas haben schreckliche Verbrechen begangen, aber nicht aus Mordlust oder getrieben von tierischen Instinkten. Es ist der aus einer Mischung von Wut, Hass und Verzweiflung geborene Versuch, die hoffnungslose Lage der Palästinenser – besonders im Freiluftgefängnis Gaza – zu ändern; sie wenigstens ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit zu bringen. Die Hamas versteht sich als die einzige Stimme und Kraft, die noch aktiv für die Belange von Gaza und der Palästinenser etwas erreichen kann. Ob dies angesichts ihrer rapide sinkenden Popularität bei der Bevölkerung in Gaza noch gilt, ist fraglich. Zudem kämpfen sie mit äußerst fragwürdigen Methoden für eine Befreiung und die Freiheit Palästinas. Jüdische Brigaden haben 1948 grässliche Verbrechen begangen, um den Staat Israel zu etablieren. Betrachtet man allein ihre Taten, so kann man hier Verbrecher gegen Verbrecher stellen – von ihrer Intention her heldenhafte Patrioten gegen Freiheitskämpfer – nicht einfach gegen Terroristen. Beide Kategorien sollte man gelten lassen.

Wie kann es weitergehen? Wenn heute führende Stimmen in Israel als Antwort auf die Ermordungen eine neue Gaza-Nakba ins Spiel bringen, so macht das fassungslos. Soll die Zukunft der Palästinenser in der Wiederholung eines Schandkapitels jüdischer Geschichte im Umfeld der Gründung des Staates Israel liegen? Anstatt die verständlichen Emotionen der vom Attentat Betroffenen noch anzuheizen, sollte der Staat Israel darüber nachdenken und zugeben, inwiefern er selbst für die Katastrophe verantwortlich ist und ernsthaft nach Möglichkeiten suchen, die politisch und sozial explosive Situation zu entschärfen. Ministerpräsident Netanjahus Worte: „Die Besatzung wollen wir nicht abschaffen, wir wollen sie verwalten.“ zeigte am 7. Oktober ein fürchterliches Zwischenergebnis!
Dem Generalsekretär der Vereinten Nationen Guterres ist zuzustimmen, wenn er sagte, die Katastrophe sei nicht in einem »luftleeren Raum« geschehen. Damit wollte er die Verbrechen und das Leid der Betroffenen weder relativieren noch verharmlosen. Er wollte darauf aufmerksam machen, dass weitere ähnliche Katastrophen nur vermieden werden können, wenn man ehrlich mit der eigenen Vergangenheit umgeht und daraus lernt, dass Gewalt nur neue Gewalt provozieren wird. Auf keinen Fall gibt es die uneingeschränkt Guten auf der eigenen Seite und die unsagbar und deshalb unerreichbar Bösen auf der anderen Seite. Nur wenn Israel bereit ist, mit diesem erlittenen furchtbaren Unrecht im Hinblick auf die eigenen Schwächen maßvoll umzugehen und einen für alle Seiten gerechten Neuanfang sucht, kann es in Palästina Frieden geben.