von Rolf Verleger
Deligitimiert, dämonisiert, doppelter Standard: Was anderen als Antisemitismus vorgeworfen wird, macht Israel mit den Palästinensern schon lange. Noch schlimmer wird das Ganze, wenn noch ein viertes „d“ hinzu kommt: Deutschland.
Ist Kritik an Israels Politik antisemitisch? Die Frage ist seltsam. Ab wann ist kritisches Denken antisemitisch, mithin nicht mehr statthaft? Kritisches Denken ist immer statthaft!
Israel ist eine ethnisch abgestufte Demokratie. Die meisten Rechte haben jüdische Bürger, dann kommen nichtjüdische Bürger und dann nichtjüdische Jerusalemer. Danach kommen die Rechtlosen: Über die vielen nichtjüdischen Bewohner des besetzten Westjordanlands herrscht Israels Militärdiktatur. Die Bewohner Gasas hat Israel seit 2006 eingekerkert und bringt sie alle paar Jahre wieder zu Hunderten um.
Die wesentliche Frage ist allein, ob diese Beschreibung den Tatsachen entspricht. Was zählt, sind Fakten. Die Person, die diese Fakten nennt, einen „Antisemiten“ zu nennen, wäre ein reines „ad hominem“-Argument, also Herabsetzen der Person, um nicht sachlich argumentieren zu müssen.
Die „drei Ds“
Es wird manchmal behauptet, man könne antisemitische Kritik daran erkennen, dass Israel „d“eligitimiert und „d“ämonisiert und mit „d“oppeltem Standard (= zweierlei Maß) gemessen werde. Fällt denjenigen, die das behaupten, nicht auf, dass Israels Politik seit eh und je diese „drei Ds“ auf die Palästinenser anwendet?
- Delegitimierung: „Es gibt kein palästinensisches Volk“; „*Wir* brachten die Wüste zum Blühen“; „sie wurden nicht vertrieben; ihre Muftis haben ihnen befohlen zu gehen.“ „Gott hat uns dieses Land gegeben.“
- Dämonisierung: Die gewählte Hamas-Regierung (wie früher die PLO) wird grundsätzlich mit herabsetzenden Beinamen versehen wie „radikalislamistisch“, „terroristisch“, „fundamentalistisch“. „Sie heiligen den Tod, wir heiligen das Leben“ (Netanjahu). „Die Araber zwingen uns, ihre Kinder zu töten“ (Golda Meir). Nicht wenige nationalreligiöse Juden sehen in den Arabern „Amalek“ (das mythische Bibelvolk, das Israel vernichten wollte).
- Doppelter Standard: Wie oben im ersten Absatz eingeführt, misst Israel seine jüdischen und nichtjüdischen Bewohner mit zweierlei Maß in ihren materiellen Rechten (Aufenthaltsrechte, Immobilienbesitz, staatlich Zuschüsse u.a.).
Fazit: Wenn die „3Ds“ ein Merkmal von Antisemiten sind, dann ist Israels Politik schon lange antisemitisch – aber nicht gegen Juden, sondern gegen Palästinenser.
Es bleibt auch unklar, was unter Delegitimierung und Dämonisierung Israels zu verstehen ist. Soll es antisemitisch sein darauf hinzuweisen, dass Israel zu seiner Staatsgründung 700.000 Einwohner Palästinas vertrieb, ihnen die Rückkehr verweigerte und sie entschädigungslos enteignete und dass diese Enteignungen und Verdrängungen bis zum heutigen Tag weitergehen? Immerhin gibt es dazu gültige UN-Resolutionen?!
Soll es antisemitisch sein zu verlangen, dass sich Israel an solche Resolutionen und an Völkerrechtsnormen wie die Genfer Konvention halten soll und die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs akzeptiert? Es wäre schon ziemlich viel gewonnen, wenn sich Israel in dieser Hinsicht wie ein durchschnittliches europäisches Land verhielte, z.B. wie Serbien. Aber dazu bräuchte es klare Vorgaben von außen und gegebenenfalls Sanktionen. Im Moment wird hier international in der Tat mit zweierlei Maß gemessen, zum Vorteil Israels, nicht zum Nachteil.
„Ja aber wir Deutschen haben doch …“
Vorfahren der heutigen Deutschen haben das deutsche und europäische Judentum umgebracht und beraubt. Ist es deswegen moralisch vertretbar, dass heutige Deutsche sagen „Ach, tut uns schrecklich leid. Ihr geht am besten ins ein anderes Land und schmeißt dort die Leute raus“?
Die Zurückhaltung deutscher Offizieller, Israels heutiges Unrecht anzusprechen und zu sanktionieren, mag verständlich sein. Sie ist aber falsch: Sie ist schlicht Beihilfe zu neuem Unrecht. Dass dies aus schlechtem Gewissen geschieht, macht es nicht besser. Was hier passiert, ist die Fortsetzung einer weit verbreiteten, früher als „typisch deutsch“ beschriebenen Einstellung: des Mitläufertums und Mundhaltens.
Unser jüdisches Selbstbild
Zwischen Israel und Judentum kann und soll man deutlich unterscheiden. (Nebenbei: Judentum ist nicht „jüdisches Volk“; Judentum ist eine Religion wie Christentum und Islam, also nicht etwas, das ein „Volk“ konstituiert.) Aber kann man im Ernst Kritikern der israelischen Rechtsverletzungen vorwerfen, dass sie diesen Unterschied nicht sehen?
Wie lässt sich dieser Unterschied zwischen Israel und Judentum erkennen, wenn unsere Politiker und Medien und die Repräsentanten des Judentums fast unisono Israels Maßnahmen rechtfertigen und Kritik an dessen Menschenrechtsverletzungen als gegen Juden gerichtet („antisemitisch“) denunzieren? Das Beschweigen und Rechtfertigen der israelischen Rechtsverletzungen produziert am Ende die Abneigung gegen Juden, die angeblich bekämpft werden soll.
Das Judentum war etwas und soll etwas sein, worauf wir Juden stolz sein können. Ein Staat, der auf jüdischen Grundwerten basiert, muss nach Gerechtigkeit streben. Er muss Leben, Besitz, Kultur und Würde all seiner Bewohner und Nachbarn achten. Israels Politik und Ideologie beschädigen das Judentum in seiner Substanz. Früher erlittenes Unrecht berechtigt nicht dazu, anderen Unrecht zu tun. Im Geiste des Judentums sollte der Staat Israel als erstes die Palästinenser für jahrzehntelang ihnen angetanes Unrecht um Verzeihung bitten. Bis dahin muss das Ausland Israel bewegen, Rechtsnormen einzuhalten. Scharfe Kritik mit ernsthaften Konsequenzen, als Sanktionen und Boykottmaßnahmen, ist daher wünschenswert.
Zuerst hier.
Werter Herr Prof. Dr. Verleger,
waren es tatsächlich „Vorfahren der heutigen Deutschen, die das deutsche und europäische Judentum umgebracht und beraubt haben“? Es ist genau diese – auch wenn vielleicht nicht im kollektivistischen Sinn so gemeinte – Sicht auf die Geschichte, die in der Gegenwart daran hindert, sich als prominenter Deutscher bezüglich der Politik zionistischer Eliten freimütig zu äußern! Es ist eben nicht nur eine „früher als „typisch deutsch“ beschriebenen Einstellung: des Mitläufertums und Mundhaltens“, sondern einem Gebot der Klugheit folgend.
Die prozionistische Armada in und außerhalb Deutschlands lauert sprungbereit um den zu zerfleischen, der auch nur einen falschen Zungenschlag in seine „Israel-Kritik“ hineinbrächte. So gilt das Gebot, das Reden nur Silber, doch Schweigen Gold ist.
Kritik an Israel bleibt Juden vorbehalten, da nur Juden zu unterscheiden vermögen, wann von Judentum und wann von einem jüdischen Volk gesprochen wird. Die Doppeldeutigkeit des Wortes „Jude“ ist immer Auslegungssache.
Entsprechend dem zionistischen Selbstverständnis der Moderne sind israelische Politiker stets gehalten, auf Missetaten der Palästinenser zu reagieren – auch wenn diese aus Gasa ein „Freiluftgefängnis machen. Ein „gutes“ Beispiel dafür liefern „Erklärungen“ von M. Wolffsohn oder der bekannten BILD und Welt Autoren. Israelkritische Autoren der ARD wie Richard Chaim Schneider berichten nun aus den Abruzzen; sicherlich nicht nur eine Entscheidung der ARD-Oberen.
Wenn Juden auf das Judentum stolz sein wollen, dann ist dies keine Angelegenheit der Deutschen. Angelegenheit deutscher Politiker sollte sein, dass Deutsche auf ihr Land und ihre Kultur stolz sein können – und da hapert es auch in erheblichem Ausmaß.
„Wer in Deutschland mit dem Vorwurf des Antisemitismus beworfen wird, hat ein ernstes Problem.“, sagt KenJebsen u.a. und bringt dazu weitere Erläuterungen
hier:
http://www.nachdenkseiten.de/?p=35640#more-35640
Ich bin gerne eine ‚Antisemit‘, wenn ich Apartheid, Rassismus in Israel verurteile und anprangere.
Sobald rechtsextreme bzw braune Zionisten (AJC, aipac, IKG, ZOA, ADL, und die restlichen ca. 50 #ZionGroups) nicht mehr ‚Antisemit!‘ nennen, wäre ich enttäuscht.
Außerdem liegt hier auch ein misnomer, eine Falschbezeichnung vor, weil Millionen von Juden keine Semiten sind und auch Millionen von Arabern zu den Semiten (Kinder des Sem) zählen.
Die braunen Zionisten können mir vorwerfen, was Sie wollen. Ich protestiere dennoch gegen demolitions, Nakba und Vertuschen von Deir Jassin, Lydda, Ramla, Ikrit, Bir Am, etc. Und #IsraeliApartheid wie auch #IsraeliRacism darf man nicht fördern oder verteidigen! Das sollte für rechtsextreme bzw braune Zionisten auch gelten.
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Verleger,
mit meiner Zustimmung zu Ihren Äußerungen verbinde ich eine Frage (, die möglicherweise überflüssig ist, weil Sie die Antwort schon praktizieren):
Warum verwenden Sie Ihre Ausführungen nicht dazu, gezielt und direkt einzelne hochrangige Personen unserer Politikerkaste oder auch unserer Kirchen zu kritisieren und ihnen persönlich vorzuwerfen, dass sie mit ihrer unaufrichtigen und feigen Einstellung gegenüber Israel seit Jahrzehnten kräftig zum schleichenden Genozid an den Palästinensern beitragen? Hochrangige Personen sind für mich BP Gauck, BK Merkel (die sich für eine wertegeleitete Außenpolitik ausspricht), Landesbischof Bedford-Strohm und Kardinal Marx; und einzelne Bundesminister wie z.B. Bundesjustizminister Maas (der überzeugt ist (und nicht nur er), dass Israel und die BRD den gleichen Wertekanon teilen); oder auch in diesem Zusammenhang die neue Menschenrechtsbeauftragte der deutschen Bundesregierung, Frau Kofler.
Solange hier niemand diese Personen (sprachlich zwar sanft, aber ansonsten) schonungslos mit den eigenen ungeheuerlichen Ansichten in Fragen der Mitmenschlichkeit und Menschen- und Völkerrechtsverletzungen konfrontiert, wird es in Deutschland keinen Paradigmenwechsel geben.
Hinzu kommt, und das ist das Gefährliche für die deutsche Gesellschaft selbst: Bezogen auf den Nah-Ost-Konflikt, schwindet das Recht auf freie Meinungs-äußerung immer mehr, ein Wert, der zu den höchsten Gütern einer offenen und demokratisch aufgestellten Gesellschaft gehört. Aus dem viel gelobten Recht, in der BRD frei seine Meinung äußern zu dürfen, ist inzwischen so etwas wie ein Maulkorb-Erlass geworden. Soweit sind wir also schon: Durch die unehrliche Freundschaft mit dem israelischen Terror-Regime geht uns in Teilen bereits unser Demokratieverständnis verloren. Das könnte der Anfang sein für eine totalitär immer stärker eingefärbte Demokratie bei uns.
Beste Grüße,
Ihr Dr. Torsten Kemme
Daß Israel eine Demokratie ist, ist sehr umstritten und die oftmalige Aussage ‚Israel ist die einzige Demokratie in Nahost‘ eine der Propaganda-Meldungen rechtsextremer Zionisten.
Man braucht sich bloß bei Petra Wild oder Shlomo Sand orientieren: Shlomo Sand weist detailliert nach, daß Israel keine Demokratie ist, sondern eine zionistische Ethnokratie, falls man israelische Juden als Ethnie definiert, wie es Zionisten tun und andere nicht.
Sieht man sich die israelischen Parteien in der israelischen Regierung an, so kann man auch von einer Theokratie sprechen und nicht mehr von Mißbrauch der Religion u Alten Testament für politische Zwecke.
Jedenfalls ist Israel keine normale Demokratie wie in Europa, Kanada, USA, … Denn bei uns gibt’s keine jew-only-Straßen, jew-only-Wohnungen oder das Diskriminieren von Nichtjuden und Misrachim-Juden.
Die BRD als „normale Demokratie“ zu bezeichnen, betrachte ich als die Realitäten ignorierend. Die BRD ist schon lange kein „sozialer Rechtsstaat“ mehr, sondern ein kapitaloligarchisches System zur Plünderung der „Resource Mensch“. Stellen „wir“ also, bitte, nicht unser „Glanzlicht“ gegen die Theokratie Israels, sondern sehen wir -endlich- ehrlich auf die Realitäten (in denen ein hochqualifizierter Gesellschaftswissenschaftler Berufsverbot erhält – natürlich ohne das so zu benennen; das ist nur ein! Beispiel).
was ist mit der arabischen Liga, die mit 12 Sitzen in der Knesset vertreten ist?
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Endlich kann man wieder über den Juden herziehen. Es ist kaum zu ertragen.
Leseempfehlung: Tuvia Tenenbom, „Allein unter Juden“
Wer sich mit dem Thema weiter beschäftigen möchte, sei aufmerksam gemacht auf das neueste Buch von NOAM CHOMSKY: Wer beherrscht die Welt?
Viele Kapitel sind geschrieben mit detailliertester Faktenkenntnis, einer völlig nüchternen Argumentation, einer gelassenen Ironie und einer großen moralischen Kraft, die immer noch auf eine Änderung der amerikanischen Politik hofft, ohne die Israel weiter auf die bekannt zynische und brutale Weise mit den Palästinensern umgehen wird. Ich kann mich noch erinnern, mit wie viel Hoffnung ich seinerzeit auf den Oslo-Prozess geblickt habe. Chomsky blickt auch hier hinter die Kulissen!!
Danke für diese klaren Zeilen. Endlich lese ich die Unterscheidung „Jüdischer Glaube (Judentum oder Judenheit in Anlehnung an Christenheit) in Abgrenzung zum völkischen Begriff Juden“. In Shlomo Sands Arbeit „Die Erfindung des jüdischen Volkes“ ist dieser Unterschied fein herausgearbeitet. Die europäischen Völker sind in der Mehrheit christlich orientiert. Aber keines nennt sich „Christlicher Staat“. Das Jüdische ist halt eben „nur“ die religiöse Definierung und kennzeichnet nicht Staatlichkeit oder Völkisches. Das haben wir hier zum Glück überwunden. –
Der Vorwurf „Antisemitismus“ gegen all jene, die die Politik Israels gegenüber den palästinensischen Arabern kritisieren – wozu es weiß Gott genug Anlässe gibt -, erzeugt hoffentlich nur Aversionen und Abneigung, wenn nicht gar Hass und Wut. Damit ist keinem gedient. Insofern muss fein säuberlich getrennt werden zwischen dem, was eine rassistisch orientierte Clique in Israel plant und dem, was immer wieder jüdisch-religiöse Menschen dort und in aller Welt verlangen: Gerechtigkeit mit ganz konkreten Ergebnissen für die nicht-jüdischen Menschen in der Region. Drittens der Aufruf zur Unterstützung (u.a. auch von Desmond Tutu) des Boykotts gegen Produkte aus Israel.
Vielen Dank für die wunderbaren Worte von Herrn Rolf Verleger. Sie sind, wie immer, bewegend, aufklärend und ermutigend. Sanft im Ton aber hart in der Sache. Ja, die „typisch deutschen“ Eigenschaften des „Mitläufertums und Mundhaltens“ machen uns wieder schuldig. Die Deutschen haben den Holcaust begangen, nicht die Palästinenser. Deswegen tragen wir besondere Verantwortung, für gleiche Rechte von Juden und Palästinensern zwischen Mittelmeer und Jordan zu kämpfen. Vorbild: Südafrika. Wer für gleiche Rechte eintritt, ist weder „antisemitisch“, noch „antiisraelisch“. Lesetip: Ali Abunimah „One Country“, Salman Abu-Sitta „From Refugees to Citizens at Home“, Uri Davis „Apartheid Israel. Possibilities for the Struggle within“. Darin unterscheidet Uri Davis vier Arten von israelischem „citizenship“: Class A as „Jews“, Class B as „non-Jews“ (namely, as „Arabs“), Class C as „present-absentees“ (die durch das „Absentees` Property Law“ von 1950 als „anwesende Abwesende“ gelten), Class D as the denied citizenship to the Palestinian refugees of 1948 (die gemäß UNO-Resolution 194 ein Recht auf israelische Staatsbürgerschaft haben). Vorbild ist für Uri Davis das US-amerikanische einheitliche Staatsbürgerschaftsrecht für alle Bürger. Deutschland (und Südafrika) könnte vor der UNO einen solchen einheitlichen Staat mit gleichen Rechten vorschlagen und zur Abstimmung bringen. Und dem mit Boykott und Sanktionen, wie bei Apartheid Südafrika, Nachdruck verschaffen. Nach dem Scheitern der 2-Staaten-Lösung ist es dafür höchste Zeit. Nur ein gemeinsamer Staat löst die Probleme der Flüchtlinge, der Siedlungen und Jerusalems.