Deutschland muss mit Israel Tacheles reden

von Daniel Barenboim

Wegen Deutschlands Geschichte ist Deutschland zurückhaltend, (politischen) Druck auf Israel auszuüben. Aber wenn es Israels bestes Eigeninteresse zugrunde legen würde, dann sollte Deutschland seinen Einfluß ausüben, um Frieden zu ermöglichen.

Fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer sieht sich die internationale Staatengemeinschaft einem Bündel von nie dagewesenen Herausforderungen gegenüber.

Die großen Schlagzeilen und unsere kollektive Aufmerksamkeit werden von Hungersnöten, Krisen wie der Ebola Epidemie und zahllosen Konfliktzentren im Mittleren Osten, Afrika und Osteuropas dominiert. Wie eh und je scheint die Welt hilflos zu sein, und unsere Regierungen sind sich nicht einig, wie die Probleme gelöst werden können. Weltweit sind Millionen von Menschen in Bewegung geraten und fliehen vor Krieg, Hunger, Unterdrückung und Armut; Europäische Länder, speziell Deutschland, erscheinen ihnen eine letzte sichere Zuflucht. Die Herausforderung, welche reiche westliche Nationen sich gegenübersehen, ist sowohl eine moralische als auch eine soziale.

Die 25. Wiederkehr des Falls der Berliner Mauer ist ein geeigneter Anlaß, über die heutige Weltlage gründlich nachzudenken, sowie über die jeweilige Verantwortung, die Europa insgesamt, und speziell Deutschland, das seit einem Vierteljahrhundert wieder eine vereinigtes Land ist, zu tragen hat. 

Der Kollaps der Sowjetunion und die sich daraus ergebende Möglichkeit einer neuen Weltordnung markieren das Ende eines prekären Gleichgewichtes und den Beginn einer offensichtlich westlich-dominierten Unipolarität –in erster Linie dominiert durch die USA und nachgeordnet durch die Länder Europas.

Im Zuge des Sieges westlich-demokratischer und kapitalistischer Systeme hätte dies zu einer klaren und allgemein anerkannten Hegemonie führen können, die eine neue Ära in der internationalen Politik geprägt hätte. Jedoch der Westen vermochte seinem Anspruch auf Weltführerschaft nicht gerecht zu werden. Wegen Uneinigkeit, einem unangemessenen ideologischen Triumphalismus und moralischem Fehlverhalten in internationalen Krisen wie dem Völkermord in Ruanda, der Invasion des Iraks und den mit dieser verbundenen Skandale in Abu Ghraib und Guantanamo, haben insbesondere die USA ihre moralische und politische Glaubwürdigkeit / Autorität verloren, die sie sich so erfolgreich nach dem zweiten Weltkrieg in Europa mit dem Marshallplan erarbeitet hatten.

Auch das kapitalistische System hatte seine Schwächen, und die Gelegenheit wurde nicht genutzt, ein neues funktionierendes System zu schaffen, das die positiven Elemente des Sozialismus, Kapitalismus und Demokratie miteinander integriert hätte. Die Angriffe des 11.September und der sich anschließende Krieg gegen den Terror, der eine ganze Region in eine endlose Krise stürzte, waren ein Zeugnis dafür, daß sich die Machtposition des Westens drastisch geändert hatte.

Die Welt heute erscheint ohne Steuermann. Selbst kleine und scheinbar lokale Konflikte schaukeln sich hoch und geraten außer Kontrolle. Der 11. September und seine Folgen, die Kriege im Mittleren Osten, der Ukraine Konflikt, all diese Entwicklungen wären undenkbar gewesen, wenn der Westen eine neue Balance gefunden hätte und seiner Verantwortung nach dem Kalten Krieg gerecht geworden wäre. Statt dessen herrscht nun ein internationales Machtvakuum. Ich bin davon überzeugt, daß in diesen schwierigen Zeiten Europa im allgemeinen und speziell Deutschland viel mehr (politische Verantwortungs-)Lasten übernehmen sollten.

Für lange Zeit – und zweifellos aus guten Gründen – hat Deutschland sich gegen die Übernahme einer Führungsrolle gesträubt und eine Politik des Konsens und der Kooperation, insbesondere im Rahmen der Europäischen Union vorgezogen. Auch in Zukunft sollte Deutschland keinen Sonderweg gehen; dennoch kann Deutschland eine aktivere außenpolitische Rolle übernehmen als bisher.

Nur mit internationaler Hilfe war der so erfolgreiche Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg möglich. Dies verpflichtet – und kein Land ist sich dessen so sehr bewußt wie die Bundesrepublik. Heute ist Deutschland in der Lage, den vielen leidenden Flüchtlingen der Welt langfristig und substantiell zu helfen, und genau dies sollte es auch tun. Die junge deutsche Geschichte ist ein Demokratie-Erfolgsmärchen und (deswegen) ist es eine Pflicht dieses Landes, anderen Staaten und Menschen zu helfen, ihre Nationen und ihr Leben wiederaufzubauen.

Ich habe als Jude in den letzten 23 Jahren in Berlin gelebt, was nicht möglich gewesen wäre, wenn ich nicht der Überzeugung gewesen wäre, daß die Deutschen lange und gründlich über ihre Vergangenheit nachgedacht haben. Niemand hat solches in vergleichbarem Masse getan wie die Deutschen, und ich bewundere sie dafür. Aber, dieses Kapitel deutscher Selbstreflexion sollte sich auch auf seine Außenpolitik auswirken.

Deutschlands Herangehensweise an den Israel-Palästina Konflikt ist minimalistisch. Es will bezüglich seiner Beziehungen zu Israel keinen Anlaß geben, Sensibilitäten zu entfachen. Jedoch, wenn es eine Lösung für den Konflikt geben soll, dann muß Deutschland eine Rolle spielen und auf irgendeine Weise Einfluß auf die Politik Israel’s ausüben. Deutschland kann und sollte politischen Druck auf Israel ausüben. Schließlich geht es hier um die intellektuelle und politische Zukunft des Staates Israel.

Die Begründung ist einfach:

Deutschland ist der Sicherheit des Staates Israel verpflichtet; aber dies ist langfristig nur möglich, wenn auch die Zukunft der Palästinenser in ihrem eigenen souveränen Staat gewährleistet ist. Ohne diese werden sich die Kriege und Geschichte dieser Region ständig wiederholen und sich der unerträgliche status quo-Stillstand nur fortsetzen.

Es gab jemand, der diesbezüglich ohne Illusionen war – der israelische Premierminister Yitzak Rabin:

„ Ich war Soldat und ich weiß, daß Israel Kriege gegen Syrien, Libanon und Ägypten gewinnen kann und möglicherweise sie alle auch gleichzeitig besiegen. Aber, einen Krieg gegen das palästinensische Volk kann Israel nicht gewinnen. Meine Verantwortung Nummer 1 ist der Schutz der Sicherheit der israelischen Bevölkerung, und dieser Verantwortung kann ich nur gerecht werden, indem wir mit den Palästinensern Frieden schließen.“

Es war diese öffentlich geäußerte  Überzeugung, die bedauerlicherweise Rabin sein Leben kostete.

Es ist Deutschlands Aufgabe als einem der führenden Länder der Welt, eben dieses Faktum der israelischen Regierung klarzumachen – nämlich, daß Israel’s Zukunft von der Bereitschaft seiner Regierung abhängt, ein wirkliches Friedensabkommen mit den Palästinensern zu schließen.

Daß Gleiches selbstverständlich auch für die Palästinenser gilt, die sich um die Hamas gruppieren, muß hier nicht extra betont zu werden. Beide Seiten müssen wissen, daß sie zusammen leben müssen – was auch immer – und daß Haß, Terror und territoriale, ethnische und religiöse Trennung niemals zu Frieden, sondern nur zum Töten und mehr Toten geführt haben.

Auch dies ist eine Lektion, die Deutschland – mehr als viele andere Länder –aus bitterer Erfahrung gelernt hat. Dies ist eine Lehre, welche die Außenpolitik der Bundesrepublik prägen kann und sollte.

Übersetzung aus dem Englischen: N. P. Jost.

Zuerst erschienen hier.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert