Fehler in der heutigen Antisemitismusdebatte

Antisemitismus soll zunehmen, wahrscheinlich auch dank des nie enden wollenden Kults in und um Auschwitz herum; vielleicht auch deswegen nicht, weil der Begriff auf alle der amtlichen Politik unliebsame Positionen willkürlich ausgedehnt werden kann. Dabei hat die amtliche Politik eine soziale Bandbreite, dass sie von „den Juden“ wegen der Handelsbeziehungen zum Iran kritisiert wird, aber zugleich so israelfreundlich ist, dass Deutschland wegen Beihilfe zum Völkermord in Gaza angeklagt wird. Deswegen wird die Ansicht von Sandor Rosenfeld (Roda Roda) aktuell bleiben: der Antisemitismus wäre eine feine Sache; aber aus dieser könne (nach Kurt Tucholski) erst dann etwas Rechtes werden, wenn ihn ein Jude in die Hand nähme.

Nur ein Jude oder müssten es eine Handvoll Juden sein?

Tucholski meint, dass das Judentum so viele Wirrnisse und Widersprüche in sich berge, die den Antisemitismus rechtfertigen würden. Nur seien diese Fehler und Narreteien des Judentums für Außenstehende nicht erkennbar. Deswegen müsste ein Jude kommen, den Antisemitismus aufzufrischen. In der Tat gibt es viele Dinge, die einmal diskutiert werden müssten. Problem dabei ist, dass Juden ihre Wirrnisse und Widersprüche nicht diskutieren wollen. Bürgerlich, wie sie sind, klappen sie ihre Fensterläden zu oder lassen die Rollos herunter. Innerhalb der diskussionsfreien Räume haben sich unzählige Fraktionen („Denkrichtungen“) im Judentum gefestigt, die selbst interfraktionell nach keinem Zusammengehen streben (vgl. Erich Grözinger). Tuvia Tenebom (in: Gott spricht Jiddisch) beschreibt die orthodoxen Schulen, von denen jede isoliert von den Schulen orthodoxer Nachbarn ihrem Rabbi folgt. Wie es ein jüdischer Witz kolportiert: Für Juden gibt es mehr Synagogen, in die sie nie einen Fuß setzen würden als solche, in denen sie einen Gottesdienst feiern wollten. Man fragt sich nebenbei, was bei so genannten „christlich-jüdischen Dialogen“ herauskommen soll.

Welcher Jude käme   – rein theoretisch –   in Frage, aus dem Antisemitismus eine rechte Sache zu machen? Theoretisch jeder Jude, der auf eine konkrete Denkrichtung fixiert ist und die anderen verabscheut. Praktisch aber wird er vor dem Begriff „Antisemit“ schon scheuen. Vielleicht hätte ein Mann wie Isaac Deutscher, der über den „nicht-jüdischen Juden“ schrieb, oder eine Frau wie Hannah Arendt, die ihre Philosophie ohne „Ahavat Israel“ zu Papier brachte, den Antisemitismus an den Hörnern packen und ihn analysieren sollen. Else Kroner, die die moderne Jüdin als eine Frau beschrieb, die sich gut in der nicht-jüdischen Gesellschaft mache, dürfte mit ihrer Ketzerei kaum die Schwelle zum Antisemitismus überschreiten können. Nicht jede Ketzerei hat antisemitische Qualität. Wie schon Baruch Spinoza sagte, ist das Judentum ein Aberglaube unter vielen. Man verhängte über ihn zwar das Herem, aber „die Juden“ sind stolz auf ihn und seine Bedeutung.

Erst durch die Übernahme seiner „Bücher Mosis“ als „Altes Testament“ ist Judentum in der christliche Ideologie weltrelevant geworden, und dies auch erst, als Kaiser Konstantin die Nützlichkeit des Monotheismus für die Despotie erkannte. Das ergibt, dass Chinesen oder Japanern nicht zugänglich ist, was die „Judenfrage“ für Europäer sein könne. Sigmund Freud erkannte den Antisemitismus als sublimierte Abwehrhaltung der Völker gegen das allen ihren Instinkten wider den Strich laufende Christentum. Der Antisemit hat zwei Gesichter: das eine ist ein missionarisches, das eine böse Miene macht, weil in der christlichen Hierarchie sich eine eigene Masse bildet, das andere ist das der geistigen Freiheit, das eines Kämpfers gegen die Despotie.

Antisemitismus wäre im ersteren Fall ein Problem der jüdischen Massen, die ihr Eigenleben führen wollen, im zweiten ein Problem des Individuums. Weil auch ein jüdischer Individualist sich nicht den Institutionen unterwerfen kann (vgl. Jakob Brafmann, Das Buch vom Kahal), ist für den Massenjuden der jüdische Individualist schnell ein Antisemit. Selbst Trägern jüdischer Kultur wie Amon Schocken wird ihr Judentum von Massenjuden wie Ives Mamou abgesprochen.

Es wäre also notwendig, dass ein Jude den Antisemitismus in die Hand nähme; er müsste einerseits den Antichrist machen und das Judentum gegen die Vermassungstendenzen von Kahal (damals) und Zionismus (heute).

Ludwig Feuerbach beschrieb mit ketzerischer Feder „das Wesen des Christentums“, aber was das „Wesen des Judentums“ sein könnte, ist nicht abschließend erarbeitet worden. Man könnte vielleicht mit dem Ansatz kommen:

sein Kernelement sei der Individualismus. Dann wäre der Zionismus immer eine antijüdische Angelegenheit, die die Gründung und Expansion eines Staates verfolgt, in dem sich das jüdische Individuum einzuordnen habe. Schon Karl Kraus (in: Eine Krone für Zion) widersetzt sich einer solchen Massenideologie.

Tatsächlich geht auch bei Juden Masse vor Klasse und der einzelne Jude wird als Gegner der Masse (vgl. Bruno Bettelheim in: Aufstand gegen die Masse) zum Antisemiten.

Das ist tragisch. Denn vom rechten Verständnis der Troa her hatte jeder Jude eine persönliche Beziehung zu Gott, so weit er glaubt; glaubt er in unserer gottlosen bzw. gottfreien Zeit nicht , und schließt sich keiner nicht-jüdischen Gruppe an, bleibt er Individualist. Meist bricht er auch ungläubig seine Beziehung zum Judentum nicht ab. David Farbstein nennt diese Leute „Friedhofsjuden“, weil ihnen vom Kult nur das jüdische Begräbnis wichtig ist.

Georg und Friedrich Rosen (in: Juden und Phönizier) haben dargestellt, dass die Juden Spaniens unter der Klammer der jüdischen Religion die Handelsbeziehungen ihrer untergegangenen Staatenwelt fortsetzten. Nach ihrer Vertreibung aus Spanien (1492) bauten die jüdischen Individualisten ihre Handelshäuser in Amsterdam neu auf. Der christlich spanischen Seefahrt erwuchs sehr schnell eine starke Konkurrenz unter holländischer Flagge.

Zur gleichen Zeit hatten jüdische Massen, die ihr Judentum  nach dem Orient gerettet hatten, ganz andere Probleme; die in Marokko angekommen waren, kehrten großenteils nach Spanien zurück und unterwarfen sich der Massentaufe. Im eurasischen Osten fegte der Chmielnicki-Aufstand blutig über sie hin. Die Juden in Amsterdam lebten in hohem Ansehen und im Wohlstand.

Individualistisch geprägt leben Juden in den USA. Diese Nation steht auch hinsichtlich ihrer nicht-jüdischen Volksteile für eine Nation von Individualisten. Bezeichnend für den Charakter der USA ist, dass Individuen bekriegter und besiegter Staaten relativ problemlos Amerikaner werden können, wenn sie ihren Ausgangsnationen den Rücken kehren.

Der amerikanische Individualismus ist den Europäern auf dem Kontinent fremd, in Deutschland erst recht. Hier gilt das Prinzip des Gemeinnutzes, der Gemeinschaft und der Gemeinheit, was alles jedem Eigennutz vorgehe. Das Gemeinschaftsprinzips lässt sogar die individuellen Grundrechte zurücktreten. Für die Deutschen ganz speziell kann es keine Individualisten geben, die in Opposition zur Gemeinschaft stehen. Auch die organisierten Juden formen in Deutschland eine hierarchische Institution: Alle wollen einer Kategorie von Menschen angehören. Die WELT (27.12.24) macht auf ein Buch von Alain Finkielkraut aufmerksam, das entsprechende Erklärungen anreißt:

„….  Alain Finkielkraut hatte schon 1982 die „Zukunft der Negation“ vorausgesagt. ….. Wilhelm Liebknecht, der Vater des KPD-Mitbegründers Karl Liebknecht war Ende des 19. Jahrhunderts eine emblematische Figur der SPD und der internationalen Arbeiterbewegung. ….  Liebknecht senior hatte sich 1899 als „Anti-Dreyfusard“ offenbart. Für ihn, den orthodoxen Marxisten schien es ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, dass die „herrschende Bourgeois-Klasse“ sich grundlos gegen einen der ihren wenden könnte – weil deren einziger Feind die Arbeiterklasse sei…. Alain Finkielkraut zieht eine Verbindungslinie zwischen Wilhelm Liebknecht und dem rechtsextremen Vordenker Maurice Barrés, der erklärte, „dass Dreyfus des Verrats schuldig sei, erschließe sich aus seiner Rasse‘. Indem Liebknecht aus seiner Klasse ableitete, dass Dreyfus nicht unschuldig sein könne, bot Liebknecht die revolutionäre Variante derselben Beweisführung an.“

Unabhängig von der damit dokumentierten Dummheit (der französische Geheimdienst war auf ein vertracktes Spielchen des deutschen Militärattachés v. Schwarzkoppen hereingefallen; der „Borderau“ war auf deutschem Papier geschrieben, über das Dreyfus [und auch Esterhazy] nicht verfügte) verdankte Dreyfus seine Rettung nur seinem Bruder. Die jüdische Gemeinde von Paris hatte Dreyfus Verurteilung „begrüßt“.

Auch wenn Finkielkrauts Analyse nicht immer überzeugt, zeigt sie doch, dass in Europa die individuelle Schuld eher als Derivat kollektiven Handelns gesehen wird, während (z.B.) die Amerikaner in den Nürnberger Prozessen die individuelle Verantwortung der Verantwortlichen suchten. Drer europäische Mensch ist aber immer nur Partikel einer Ordnung, seine Verantwortlichkeit besteht im Funtionieren dass und nicht im Entscheiden, ob er funktionieren soll. Während Stalin als Kenner der europäischen Zusammenhänge die obersten 50.000 „Nazis“ einfach erschießen lassen wollte, bestanden die Anglo-Amerikaner auf individuellen Strafverfahren. Viel anders ist dabei auch nicht herausgekommen, denn die Betroffenen gehörten letztlich geschlossenen Gruppen an, deren Mitglieder sich zwar eher nicht „gegen die Menschlichkeit verschworen“ hatten, die sich aber menschenrechtsfeindlichen Strukturen angeschlossen hatten.

In der DDR negierte man die Existenz von  Kriminalität, weil die sozialen Verhältnisse als gerecht geordnet galten und Kriminalität eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit war.

In den späteren NS-Verfahren in Deutschland wurde der Mordvorwurf gegen die „Täter“ erhoben, weil man den „Rassenhass“ der Organisation dem einzelnen Täter zuordnete. Robert Mulka meinte (z.B.), er habe nie einem Juden etwas zu leide getan. Das wird schon stimmen, aber seine Organisation war auf Mord programmiert. Trotzdem zeigt die deutsche Strafverfolgung in NS-Sachen eine heterodoxe Rechtspflege. Am deutlichsten kann man das bei den KZ-Ärzten im Dienst „an der Rampe“ ausmachen: Diese waren dort nicht „Herr über Leben und Tod“, sondern machten einen vorgegebenen Job. Sie mussten nicht 70% der Ankommenden in den Tod schickten, sondern die erhofften 30% „Verwendungsfähigen“ (vgl. Lea Fleischmann in: Das ist nicht mein Land) zur Zwangsarbeit herausfilterten. Juristisch ist die Frage, ob in den Tod geschickt oder in den Tod gehen zu lassen,  ein gewaltiger Unterschied, auch wenn es auf dasselbe Resultat herausläuft. Man prüft nicht die Handlung des Täters, sondern vom Standpunkt der Opfer her. Das hat einen weiteren Schönheitsfehler: Die Opfer sind Tod. An deren Stelle tritt die jüdische Masse, die um die Ermordeten verkleinert wurde.

Die Maschinerie war auf prinzipiellen Totschlag programmiert, aber der einzelne Arzt sollte (in Majdanek nicht, aber) in Auschwitz gegen das Programm verwendungsfähiges Leben herausfiltern. Alle Urteile ignorieren dieses Problem. Ist der Rampenarzt ein Mörder, wenn er Leute ins Gas gehen lässt, die der Apparat dem Tod geweiht hat? Die wirklichen Mörder im Sinn des $ 211 StGB waren wesentlich höher platziert, speziell in den Institutionen der Wirtschaftslenkung, aus denen unser Bundeskanzler Ludwig Erhard stammt, emblematische Figur der CDU.

Ähnlich beschreibt es Hannah Arendt in „Eichmann in Jerusalem“. Ohne Ende wurden Dinge behandelt, die mit Eichmann an solchen nichts zu tun hatten.

Die hinter der Linienführung Finkielkrauts steckende Idee entspricht der Annahme, dass nicht Klassen- oder Rassenkämpfe die Welt bewegen, sondern die Auseinandersetzung zwischen Individuum und der Mehrheit. Passt sich ein Individuum an oder nicht? Das Individuum mit höheren Geistesgaben hat einen komplizierten Stand gegenüber den Massen mit durchschnittlichen Geistesgaben. Man kann es durchaus so sehen, dass während des ganzen Mittelalters die Juden, auch solche mit geringeren Geistesgaben, dem christlichen Totalitarismus widerstanden. Im Christentum wurde über die Jahrhunderte hinweg mittels Autodafés das Individuum unterdrückt; aber irgendwann bildeten sich auch bei den Juden Massen. In der Endphase des Mittelalters waren nur mehr die wenigsten Juden noch Individualisten. Die Massenjuden versuchten im 14. Jahrhundert, ihre Ketzer auf die Scheiterhaufen zu bringen, mussten sich aber mit der Verbrennung deren Schriften, etwa denen des Moses Narboni in Bagnols sur Cèze, begnügen.

Dem Judentum als lockerer Verband von Individualisten steht heute ein gut gefestigtes europäisches Massenjudentum mit einer zionistischen Affinität gegenüber. Damals waren es die Juden Osteuropas, deren Rabbiner die Schriften des Moses Narboni verbrannten, heute sind ein die Freunde Israels, die jeden Kritiker der Politik Israels des Antisemitismus zeihen. Die moderne Massendemokratie hat ihr Pendant in den jüdischen Massenbewegungen. Zornig fertigte die britische Presse einen offenen Leserbrief von Claude Montefiori gegen die zionistische Bewegung ab mit der Behauptung, dass er nur seine „behagliche“ Stellung in England im Auge hätte und für die Probleme der jüdischen Massen im Zarenreich keinen Sinn habe. Das Massenjudentum übernahm zunehmend die zionistische Idee. Mit der schrittweisen Übernahme Palästinas hat es sich bei den betroffenen Arabern und den antikolonialistischen Gruppen in Europa als Kategorie verhasst gemacht. Ein individueller Jude wird dagegen selten gehasst, aber „die Juden“ (als Masse) werden wieder zu Objekten des Hasses, je mehr Erfolg sie bei ihrer Besitznahme Palästinas haben.

Welche Konsequenzen zieht man nun für den Antisemitismusbegriff in Bezug auf jüdische Individualisten und auf eine Menge von Juden?

Man muss vielleicht andersherum fragen: Nicht, ob ein Antisemitismus israelbezogen oder generell sei, sondern ob etwas vom jüdischen Individuum als Antisemitismus verstanden werden muss, oder ob vom Standpunkt einer jüdischen Massenbewegung etwas antisemitisch erscheint. So wäre jemand kein Antisemit, wenn er die jüdische Religion für Aberglauben hält, wenn er nicht zufällig von einem christlichen Standpunkt aus den Juden missionieren will. In unserer Zeit gibt es kaum Ansatzpunkte, einen individuellen Juden zu verteufeln. Niemand würde heute sagen, das Verhalten eines Danny Dattel oder eines Werner Nachmann sei rassebedingt gewesen. Dagegen macht eine prinzipielle Gegnerschaft zu kolonialistischer Politik aus einem Kritiker Israels einen Antisemiten. Um eine solche Beschimpfung zu vermeiden, muss man die zionistischen Ambitionen „gut“ finden, muss man bestreiten, dass Israel ein Kolonialstaat sei, und muss erklären, dass die Idee eines „jüdischen Staates“ zur Apartheit der nicht-jüdischen (territorialen) Minderheiten nicht führen könne. Das bedeutet, der „Linke“ ist entweder wie Volker Beck glühender Israelverehrer oder er hält die Menschenrechte für alle für erstrebenswert und wird, bezogen auf Israel „Antisemit“.

In unserem Massenzeitalter ist schematisches, gruppenkonformes Denken verlangt und kein individualistisches. Es ist alles ganz schrecklich

von Lobenstein

 

 

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