Der Antisemitismus ist nach der Shoah nicht aus Deutschland, Europa und anderen Regionen der Welt verschwunden, wie wir aus vielen Untersuchungen und Schilderungen wissen. Er stellt in erster Linie eine direkte Gefahr für die betroffenen Jüdinnen und Juden dar und führt gleichzeitig in den Gesellschaften, in denen er virulent werden kann, zur Aushöhlung von Solidarität, Inklusion, Gleichberechtigung, Demokratie und Menschenrechten.
Gleichzeitig haben wir in den letzten Jahren in Deutschland wie in den meisten europäischen Ländern einen Aufstieg rechtspopulistischer und rechtsnationalistischer Parteien erlebt, der oft mit einem wachsenden Rassismus einhergeht. Jüdinnen und Juden in Europa erfahren in den letzten Jahren eine Zunahme von Antisemitismus. Es gibt unterschiedliche Wahrnehmungen und Einschätzungen, aus welchen Motiven, Ideologien und Gruppen sich der gegenwärtige Antisemitismus in Deutschland und Europa speist. Keine politische Strömung, keine gesellschaftliche Gruppe ist vollkommen frei von einer Anfälligkeit für antisemitische und rassistische Klischees. Oft mangelt es zumindest an Empathie für die von Antisemitismus betroffenen Menschen. Insofern haben wir als Rosa-Luxemburg-Stiftung auch sorgsam auf das eigene linke politische Feld zu schauen. Gleichzeitig sind die Hauptträger auch des gegenwärtigen Antisemitismus andere, rechte Gruppen und Ideologien der Ungleichwertigkeit, so, wie sie es auch in der Vergangenheit waren.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung befasst sich seit ihrer Gründung mit dem Antisemitismus, reflektiert antisemitische Phänomene aus unterschiedlichen Blickwinkeln und untersucht unterschiedliche Aspekte in diesem Zusammenhang, wobei ein wichtiger Schwerpunkt die selbstkritische und reflektierende Beschäftigung mit Antisemitismus in linken Zusammenhängen bildete. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Zunahme antisemitischer Phänomene hat sich die Rosa-Luxemburg-Stiftung dazu entschlossen, eine systematische Reihe von Veröffentlichungen und Veranstaltungen zu initiieren, die sich mit Antisemitismus und dessen Bekämpfung befassen.
In einem ersten Schritt soll die Definition von Antisemitismus untersucht werden. Antisemitismus zu bekämpfen bedarf einer breit akzeptierten Definition als Grundlage für Gegenmaßnahmen. Die „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) versucht dies. Gegen ihre Kriterien regt sich jedoch auch Widerspruch, vor allem in Bezug auf Fragen, die eine Kritik an Israel und seiner Politik betreffen. Wie kontrovers und folgenreich dies sein kann, zeigen die Debatten in der britischen Labour Party.
Aus diesem Grund haben die Rosa-Luxemburg-Stiftung und medico international ein Gutachten in Auftrag gegeben, das sich mit dieser Definition auseinandersetzt. Erstellt wurde es vom Soziologen und Kulturwissenschaftler Peter Ullrich, der mit den Schwerpunkten Protest- und Antisemitismusforschung an der TU Berlin arbeitet. Diesem Gutachten werden weitere Studien und Publikationen zu anderen Facetten des Antisemitismus folgen.
Tsafrir Cohen, Katja Herrmann, Florian Weis
Das Gutachten zur „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) können Sie hier lesen.