Judentum und Islam – die Schönheit des Anderen

Im Dialog: Iskander Ahmad Abdalla und Yuval Ben-Ami

Kritik lässt sich leicht formulieren und es ist kein Problem sich Ängsten hinzugeben. Doch was gibt es zu entdecken, wenn der Blick auf das Andere fällt? Iskandar Ahmad Abdalla aus Ägypten und Yuval Ben-Ami aus Israel haben das Andere kennengelernt. Sie sind eingetaucht in eine andere Welt und berichten von den Erfahrungen, die sie begeistern und ebenso überrascht haben.

Iskandar Ahmad Abdallas Einblicke in die geistige und religiöse Welt des Judentums haben dem jungen ägyptischen Übersetzer und Publizisten in mehrfacher Hinsicht die Augen geöffnet. Zum einen stieß er auf Dinge, mit denen er nicht gerechnet hätte. Zum anderen wurde ihm aber auch seine sprachliche und geistige Nähe zum Hebräischen klar, ebenso wie die Tatsache, dass der Islam, dem er angehört, auf denselben monotheistischen Ursprung zurückgeht wie das Judentum.

„Alle Welt hatte nur eine Sprache und dieselben Laute“ (Genesis 11,2)

So heißt es in der Thora über die Anfänge der Menschheit. Die Kommentatoren schlussfolgern daraus, dass Hebräisch die erste menschliche Sprache gewesen sein soll. Fest steht, dass das Hebräische für die Juden eine heilige Sprache ist, und zwar nicht nur, weil Hebräisch als Sprache der ersten Menschen, sondern hauptsächlich, weil es als Sprache der Schöpfung gilt. Auf Hebräisch hat Gott die Welt geschaffen. Auf Hebräisch sprach er: „Es werde Licht“, und er nannte das Licht Tag, die Finsternis aber Nacht (Genesis 1,5). Und nachdem Gott die Welt geschaffen hatte, sprach er auf Hebräisch zu Adam. Adam gab wiederum allem, was Gott geschaffen hatte, hebräische Namen.

Die unter dem Namen „Kabbala“ bekannte jüdische Mystik geht sogar noch einen Schritt weiter und misst den Buchstaben des hebräischen Alphabets eine verborgene symbolische Bedeutung zu. Die Anhänger gewisser kabbalistischer Strömungen gehen sogar von einer magischen Wirkung der einzelnen Buchstaben aus. Ihnen zufolge kann jemand, der die göttliche Gabe besitzt, die Geheimnisse der Buchstabenmystik zu durchschauen, durch entsprechende Buchstabenkombinationen sich selbst und die Seinen vor bestimmten Übeln bewahren. 

Das Althebräische, das für Theologen nach wie vor unverzichtbar ist, hat Blütezeiten erlebt und Zeiten des Niedergangs. Erhalten blieb es über die Jahrhunderte nicht nur in Form von Thora-Texten, sondern auch in Form von Gebeten und religiösen Formeln. Eine wichtige Rolle spielten in diesem Zusammenhang auch die so genannten Chadarim (von Hebräisch cheder = „Zimmer“). Der Cheder ist eine zur Synagoge gehörende, religiös geprägte Schule, die man mit den Koranschulen im Islam vergleichen kann. Im Cheder wurde den jüdischen Knaben beigebracht, Hebräisch zu lesen und zu schreiben. Später lernten sie dann Thora-Verse auswendig und übten die Rezitation für religiöse Zeremonien und für den Gottesdienst. Auf Betreiben jüdischer Philosophen und Rabbiner erlangte das Mittelhebräische im Mittelalter, insbesondere im muslimisch beherrschten Teil der iberischen Halbinsel, nicht nur als Sprache der Gläubigen und der Theologen, sondern vorübergehend auch als Sprache der Denker und Literaten, eine gewisse Bedeutung. Einen weiteren Aufschwung erfuhr das Hebräische durch seine Wiederbelebung im 19. Jahrhundert und der daraus resultierenden Entstehung des israelischen Hebräisch, das inzwischen von etwa sechs Millionen Menschen als Muttersprache gesprochen wird.

Entdeckung der hebräischen Sprache

All diese Fakten waren mir nicht bekannt, als ich nach Deutschland kam, um dort Orientalistik zu studieren. Meine allererste Veranstaltung im ersten Semester – um genau zu sein: meine allererste Veranstaltung an einer deutschen Hochschule überhaupt – war der Hebräisch-Unterricht. Der Dozent kam aus Israel und war Jude. Ich erinnere mich daran, dass ich damals mit gemischten Gefühlen zur Uni ging. Erstens fühlte ich mich noch reichlich fremd, als ägyptischer Student in einem Land, das ich kaum kannte. Zweitens war ich natürlich Araber. Ich brachte – ob ich wollte oder nicht – eine bestimmte Vorgeschichte mit, auf die ich zwar keinen Einfluss gehabt hatte, sie auf mich dafür umso mehr. Meine Denkweise war jahrzehntelang von einer nicht enden wollenden Flut von Zeitungsberichten und Nachrichtensendungen über einen ewigen Konflikt geprägt worden, und von der hochgradig politisierten Rhetorik der Konfliktparteien, so dass ich kaum eine Chance gehabt hatte, mir kritisch und vorurteilsfrei ein eigenes Bild zu machen. Zu massiv wirkten nationaler Stolz und religiöser Chauvinismus von beiden Seiten auf mich ein. Zu wenig Spielraum erhielten Toleranz und der Gedanke an die Brüderlichkeit der Menschen untereinander.

Doch das flaue Gefühl in meinem Magen hielt nicht lange an. Für Klischees und ein ideologisch gefärbtes Geschichtsbewusstsein ist an der Hochschule kein Platz. Die Wissenschaft zeigte sich erhaben über Vorurteile und politischen Opportunismus. Ich konnte nur staunen, zum Beispiel über die Ähnlichkeit meiner Muttersprache mit dem Hebräischen. Selbst im Neuhebräischen, mit seinen zahlreichen Entlehnungen aus dem Jiddischen, Deutschen und Englischen, sind noch viele Parallelen zum Arabischen zu erkennen. „Er las“ heißt beispielsweise auf Hebräisch kara’, auf Arabisch qara’a, „er schrieb“ heißt auf Hebräisch kataw, auf Arabisch kataba, und der „Vater“ heißt auf Hebräisch ‚aw, auf Arabisch ‚ab. Selbst bei abweichenden Vokalen, wie etwa in den Wörtern für „Mutter“ (Hebräisch: ‚em, Arabisch: ‚umm) ist immer noch eine deutliche Verwandtschaft zwischen den beiden Sprachen sichtbar, um nur ein paar wenige aus einer ganzen Fülle von Beispielen zu nennen. Mein Hebräisch-Dozent und ich fanden im Laufe der Zeit immer größeren Gefallen an einer Art Frage-und-Antwort-Spiel: Er gab ein hebräisches Wort an, das wir Studenten noch nicht kannten, und ich sollte dann versuchen, aus dem Klang und dem Schriftbild dieses Wortes das arabische Pendant herzuleiten. Das gelang mir nicht immer, aber doch erstaunlich oft. Mitunter hatten das hebräische und das arabische Wort sogar exakt dieselbe Bedeutung. Dann gab es wieder Wörter, zwischen denen in beiden Sprachen zwar eine offenkundige Verwandtschaft besteht, die aber in ihrer Bedeutung mehr oder weniger stark voneinander abweichen, wie zum Beispiel das hebräische Wort simla („Kleid“) und das arabische Wort samal („abgetragenes Kleidungsstück“). Ein paar kuriose Entdeckungen machten wir bei diesem Ratespiel natürlich auch. So heißt z. B. „Kuchen“ auf Hebräisch ’uga. Tatsächlich gibt es bei uns in Ägypten eine Speise mit ähnlich klingendem Namen, die man jedoch eher als ein Omelett mit Zwiebeln und Petersilie bezeichnen könnte.

Am besten lernt man eine fremde Sprache bekanntermaßen, indem man viele Texte in dieser Sprache liest. Ich vertiefte mich am allerliebsten in die Thora, die die Juden der Menschheit als monotheistisches Erbe vermacht haben. Von diesen fünf Büchern, die auf hohem literarischen Niveau verfasst und mit zahlreichen epischen und mythischen Elementen versehen sind, mag ich wiederum die Genesis, also das 1. Buch Mose, am liebsten. Besonders gut gefällt mir, im Vergleich zum Koran und zum Neuen Testament, die große Ähnlichkeit zwischen Gott und Mensch, wenn Gott sich beispielsweise am siebenten Tag von seinem Werk ausruht (Genesis 2,2), wenn er unzufrieden damit ist, dass Adam allein lebt und daraufhin Eva erschafft, wenn Adam und Eva dann seine Stimme im Garten vernehmen (Genesis 3,8) und wenn er schließlich zu ihnen spricht, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gekostet haben: „der Mensch ist jetzt wie einer von uns geworden“ (Genesis 3,22).

Bei einem Muslim, der mit dem Koran vertraut ist, regt das Studium der Thora Geist und Phantasie an. Viele Geschichten, die er aus dem Koran kennt, tauchen auch in der Thora auf. Manche dieser Geschichten stimmen, wenn man Thora und Koran vergleicht, inhaltlich nahezu überein und unterscheiden sich, bis auf Kleinigkeiten, kaum voneinander. Andere haben inhaltlich zwar nur wenig gemeinsam, sie gleichen sich jedoch in Hinblick auf die Personen, die in ihnen vorkommen. So gesehen sind alle diese Geschichten wie kleine Flüsse, die alle von derselben Quelle gespeist werden: Es handelt sich um erzählerische Varianten der monotheistischen Lehre, die sowohl dem Judentum als auch dem Islam zugrunde liegt.

Abgesehen von den gemeinsamen sprachlichen Wurzeln und der gemeinsamen monotheistischen Glaubensgrundlage, auf der Thora und Koran basieren, finden sich noch zahlreiche andere Berührungspunkte zwischen Judentum und Islam, unter anderem auch im Bereich der religiösen Vorschriften, die das alltägliche Leben der Gläubigen regeln, und zwar bis ins kleinste Detail, angefangen von der Reinlichkeit, über die Ernährungsgewohnheiten, bis hin zu den richtigen Aussprüchen in bestimmten Situationen, beispielsweise beim Betreten des Aborts.

Feierliche Ramadan-Stimmung in einem jüdischen Haus

Betrachtet man all die bisher genannten Gemeinsamkeiten, so erscheint es nur wenig verwunderlich, dass ich mich an die Stimmung bei uns daheim während des islamischen Fastenmonats Ramadan erinnert fühlte, als ich am Vorabend des Sabbat zu einer jüdischen Freundin nach Hause eingeladen wurde. Verwandte und Freunde, egal ob groß, ob klein, hatten sich um den Sabbattisch versammelt, auf dem die Kerzen und das mit einem Tuch zugedeckte, zopfförmig geflochtene Sabbatbrot standen. Das warme Kerzenlicht ließ die ohnehin schon sehr intime Atmosphäre besonders intensiv erscheinen. Der Vater kehrte vom Gottesdienst in der Synagoge zurück, gemäß Überlieferung in Begleitung zweier Engel, die mit shalom aleichem („Friede sei mit Euch“) begrüßt werden sollten, was mich natürlich an die Art und Weise erinnerte, wie wir Muslime, zum Abschluss des Gebets, die beiden Engel zur Rechten und zur Linken mit as-salaam aalaykum anreden. Anschließend sprach der Vater den Segen über den Kidduschbecher und die Sabbatbrote und wünschte seinen Angehörigen Segen, ähnlich wie wir Muslime es im Ramadan beim Fastenbrechen nach Sonnenuntergang tun.

Parallelen zwischen den religiösen Bräuchen in Islam und Judentum fielen mir auch bei anderen jüdischen Feiertagen und Festen auf, wie zum Beispiel beim Chanukka-Fest, auch Lichterfest genannt. Bei diesem Fest wird an acht Abenden in Folge jeweils eine Kerze des Chanukka-Leuchters angezündet. Gegessen werden in dieser Zeit traditionsgemäß vor allem in Öl gebackene Speisen, wie zum Beispiel Kartoffelpuffer oder Krapfen. Während des Pessach-Festes, zum feierlichen Gedenken an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten, wird hingegen zunächst über einen Zeitraum von einer Woche hinweg ungesäuertes Brot („Matze“) gegessen. Am ersten Abend des eigentlichen Pessach-Festes, dem so genannten Sederabend, wird im Familienkreis dann ein Festmahl, bestehend aus ganz bestimmten Speisen, eingenommen, die alle eine symbolische Bedeutung haben. Dazu werden, bisweilen von mehreren Familienmitgliedern in oftmals sehr lebendig dargebotener Form, Auszüge aus der Haggada vorgetragen, einem Buch, das Texte und Lieder über die Knechtschaft des Volkes Israel im pharaonischen Ägypten und die anschließende Flucht unter der Führung Moses enthält. Neben den Texten und Liedern aus der Haggada sollen am Sederabend auch die Speisen vom Sederteller das Leid und die Befreiung des Volkes Israel möglichst lebendig ins Gedächtnis rufen. Bitterer Meerrettich erinnert beispielsweise an die bittere Zeit in Ägypten, ein gesottenes Ei steht für Trauer und Vergänglichkeit, usw.

Das Schöne an diesen und anderen Bräuchen und Traditionen ist, dass sie nicht allein streng gläubigen Juden vorbehalten sind, sondern auch von zahlreichen Juden praktiziert werden, die es sonst zwar nicht so genau mit ihrer Religion nehmen, die aber in diesen Bräuchen und Traditionen ein kulturelles Erbe sehen und sie dementsprechend ehrfürchtig aufrecht erhalten. Selbst wenn sich die Angehörigen dieser breiten Masse nur bedingt nach den Geboten und Verboten der Thora richten, verstehen sie das Judentum, wenn schon nicht als religiöse, so doch wenigstens als kulturelle Identität, die sich als kollektives jüdisches Gedächtnis manifestiert, und als Religion für alle, die keine Religion haben, zumindest im Sinne des Begriffs vom „faith of the fallen Jews“, den der Historiker Yosef H. Yerushalmi geprägt hat. Was bleibt, ist ein Bewusstsein, das die Juden zum festen Bestandteil der Menschheitsgeschichte gemacht hat, das als enges Band zwischen den Vorvätern und deren Nachkommen erhalten blieb, das, trotz schlimmster Verfolgungen, über Jahrhunderte hinweg überleben konnte, so dass man sich, wie einst Mark Twain, fragen muss:

„Alle Dinge sind sterblich, nur der Jude nicht […]. Was mag das Geheimnis seiner Unsterblichkeit sein?“

***

Yuval Ben-Ami arbeitet als Journalist in Tel-Aviv. Noch heute kann er sich gut an das Gefühl der Entfremdung erinnern, das er als Kind seinen muslimischen Nachbarn in Jerusalem gegenüber empfand. Arabische Musik und Sprache waren ihm fremd. Im Laufe der Jahre änderte sich das. Entfremdung wurden von Staunen und Bewunderung abgelöst und entwickelten sich zu einer echten Liebe für islamische Architektur, Kultur und Religion: Allah ist groß, allmächtig und golden, während der Mensch, ganz gleich ob Millionär oder Prinz, wieder zu Asche und Staub wird.

Ein Gespräch über Schönheit ist immer so eine Sache… . Das klingt leicht trivial, manchmal sogar dumm. Aber meine erste Begegnung mit der islamischen Kultur war nun einmal von Ästhetik bestimmt, die sich bei genauerem Hinsehen als gar nicht so banal und stumpfsinnig entpuppte. Denn Formvollendung und Anmut, die der menschlichen Seele entspringen, haben durchaus Tiefe, Größe und Gewicht.

Als Kind brauchte ich bloß das Fenster zu öffnen. Wir wohnten damals in einem der jüdischen Viertel, die nach dem Sechstagekrieg im Ostteil Jerusalems errichtet worden waren. Im Grunde war es eine Siedlung, selbst wenn ihre Bewohner nicht aus ideologischen Gründen hierher gezogen waren. Die Menschen, die hier lebten, waren größtenteils Akademiker, die an der nahe gelegenen Hebräischen Universität unterrichteten oder dort studierten und sich nicht sonderlich für den politischen Status von Ostjerusalem interessierten. Wie bei so vielen Israelis war auch meine Haltung gegenüber der arabischen Kultur, sofern sie überhaupt mit ihr in Kontakt kommen, von einem Gefühl der Entfremdung geprägt. (Viele Israelis haben sich in homogenen Küstenstädten verschanzt und kommen erst gar nicht in diesen Genuss).

Diese Distanz artikulierte sich unter anderem in Form von ästhetischer Beklommenheit. Unser Weg zum Einkaufen im Westen der Stadt führte durch palästinensische Wohnviertel. Die arabischen Ladenschilder, die ich aus dem Autofenster erblickte, machten mir Angst. Arabisch war die Sprache des Feindes, weshalb ihre Buchstaben für mich wie Lanzen und Schwerter aussahen. Die ägyptische und libanesische Musik mit ihren Maqam-Tonschleifen, die aus Cafés und vorbeifahrenden Autos drang, empfand ich als unmelodisch. Sie war mir fremd und hatte für mich keinen künstlerischen Reiz, sondern flößte mir Angst ein. Es war mir unverständlich, wie man diese Musik genießen kann.

Der Felsendom – unbestrittene Formvollendung und Pracht

Wenn ich abends aus meinem Fenster blickte, trug die Kuppel des Felsendoms einen glänzenden Schimmer. Inmitten der Altstadt thronte dieses goldene, prunkvolle Gebäude seit nunmehr über 1.300 Jahren. Selbst wenn ich das Alter des Doms nicht kannte, bestand an seiner Schönheit kein Zweifel. Damals wie heute ist der goldene Dom ein religiöses und politisches Symbol und verkörpert einen nicht enden wollenden Konflikt. Doch gleichzeitig ist er, damals wie heute, eins der schönsten Bauwerke der Welt.

Bei Beginn der ersten Intifada war ich gerade einmal elf Jahre alt, und die Altstadt wurde gefährlich. Alles, was ich aus meinem Fenster sah – einschließlich des zauberhaften Doms – war für mich nunmehr verbotenes Terrain. Nachts färbten Leuchtkugeln die engen Gassen orange. Die goldene Kuppel, vor der ich noch nie gestanden hatte, schien zu brennen. Sechs Jahre später gewann meine Neugierde die Überhand und besiegte meine Angst. Mit Siebzehn wagte ich mich erstmals in die Altstadt und auf den Tempelberg.

Bei meinen Besuchen in der Altstadt traf ich feinfühlige, gute Menschen. Ich entdeckte, dass die Gefahr längst nicht so groß war, wie man mir weisgemacht hatte. Ich fühlte mich zunehmend sicherer und lernte die Buchstaben, die mir einst wie Lanzen erschienen waren, zu lesen. Ich begann die Klänge einer einst unverstandenen Musik zu erschließen. Ich entwickelte ein Bewusstsein für die paradoxale Situation, in der die Palästinenser leben und für Ungerechtigkeiten, für die meine Bevölkerungsgruppe verantwortlich war. Mit den Palästinensern sprach ich aber auch über Missstände in ihrer Gesellschaft und über Herausforderungen für uns alle.

Ein fünffacher Dank für die geschenkte Zeit

Schönheit hat mich umdenken lassen – die überwältigende, keineswegs triviale Anmut der islamischen Architektur, deren Ästhetik von tiefen Werten zeugt. Inmitten eines bescheidenen Wäldchens verkörpert der noble, stolze Felsendom hoch oben auf dem Tempelberg eine zauberhafte Verbindung von Himmel und Erde. Allah ist groß, allmächtig und golden, während der Mensch, ganz gleich ob Millionär oder Prinz, wieder Asche und Staub wird. Gegen Asche und Staub ist an sich nichts einzuwenden. Vom Sommerstaub weiß getünchte Pinien spenden Schatten und werfen ihre schwarzen Silhouetten auf den Dom, Olivenbäume lassen träge ihre Früchte vor ihm fallen, Frauen sitzen hier auf Plastikstühlen und hören den Hadith, den Überlieferungen des Propheten Mohammed, zu.

Die Schönheit der Al-Aqsa-Moschee erzählt von der Güte und Weitläufigkeit unserer Welt. Uns Menschen wurde Zeit geschenkt, um in diesem Garten zu verweilen, wofür wir uns fünfmal am Tag bedanken. Wir bedanken uns für Sonnenaufgang und Nacht. Einen amorphen Nachmittag lassen wir mit Hilfe eines Lieds Gestalt annehmen.

Nun ließe sich durchaus behaupten, dass der Tempelberg vom Wesen her gar nicht islamisch sei. Seit dem Altertum ist er für Juden der zweitheiligste Ort. Seine gegenwärtigen Dimensionen hat der gesamte Komplex von Herodes schon 600 Jahre vor Geburt des Propheten erhalten. Die Architektur des Felsendoms ist von Oktagonen byzantinischen Kirchen inspiriert, aber Dinge entstehen nun einmal nicht im Vakuum. So hat auch die islamische Kunst tiefe, weitverzweigte Wurzeln, die zum Teil bis zu antiken Religionen und noch älteren Kunsttraditionen zurückreichen, die sich von den Landschaften des Nahen Osten, dessen Klima und – mögen einige behaupten – Gott haben inspirieren lassen.

Kairo – ein Erlebnis, das unter die Haut geht

Meine jugendliche Begegnung mit der islamischen Ästhetik hat mich zu weiteren islamischen Schönheiten in Ägypten, der Türkei und an anderen Orten unseres Umfelds in all die Länder geführt, die ein israelischer Staatsbürger trotz der vielen Beschränkungen besuchen darf. In Kairo haben mich selbstverständlich die Pyramiden stark beeindruckt, doch wirklich unter die Haut sind mir die mamlukischen Moscheen in der Gegend des Khan el-Khalili gegangen mit ihren in Stein gehauenen Spitzenkuppeln. Die großen Eingangstore der Madāris mit ihren schattigen, wie feine steinerne Stalaktiten hängende Kuppeln und die dünnen Türme der osmanischen Moscheen hoch oben auf der Festung flößten mir Ehrfurcht ein.

Den Werten der islamischen Ästhetik begegnete ich in der Lebensweise der Muslime, die ich überall auf der Welt traf, in ihrer Haltung gegenüber Zeit und Raum, ihrer Gastfreundschaft und dem Gehör, das sie mir schenkten. Welche Verbindung besteht zwischen den Kairoer Moscheen und der Nacht, in der meine Freundin und ich in der Stadt Marsa Matruh von einem Taxifahrer aufgelesen wurden, der darauf bestand, uns kostenlos mitzunehmen. Er lud uns zu sich nach Hause ein, stellte uns seine Frau und seine Kinder vor, bereitete uns ein wunderbares Essen und zeigte uns gegen 3:30 Uhr morgens das Hochzeitsvideo seiner Tochter. Beides – Ästhetik und Lebensweise – sind zutiefst miteinander verbunden, selbst wenn sich dies nur schwer in Worte fassen lässt. Man muss sich nur die einladenden, von Gärten umgebenen Gebäude, die Kuppeln und Pinien nur sehr genau ansehen. Die Verbindung ist da.

Der Nahe Osten – eine Region voller Spannungen, Hass, aber auch voller Optimismus und Liebe

Die tiefere Bedeutung des Nahen Ostens lässt sich nicht in Worte fassen. Aber jahrhundertealte Steinarbeiten und atemberaubende Kachelornamente sagen zumindest etwas über diese Gegend aus. Es ist keine einfache Gegend. Uns, aber auch unseren Nachbarn, fällt das Leben hier schwer. Die Frauen dieser Region werden unterdrückt und Gruppierungen, die sich für Veränderungen engagieren, laufen ständig Gefahr, die Wut von Fanatikern zu wecken. Dennoch gibt es unendlich viel Anlass zu Optimismus und Empathie, selbst in harten Krisenzeiten.

Ich bin Jude. Deshalb weiß ich, dass der Islam die toleranteste und fortschrittlichste Religion der Welt sein kann. Offenbar haben mir dies meine Vorfahren ins Gedächtnis gebrannt, die sich einst mit ihren muslimischen Freunden über die Bewässerungskanäle der Orangenhaine hinweg unterhielten.

© Goethe Institut 2014

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