Ich bin wohl auch ein Republikflüchtling wie alle diejenigen, die seinerzeit die DDR verlassen haben, weil es ihnen dort nicht gefallen hat und sie in Freiheit leben wollten. Ich habe Israel nicht aus diesen Gründen verlassen, aber aus diesen Gründen kehre ich nicht wieder nach Israel zurück. Die Unfreiheit, die dort herrscht, ist eine geistige und seelische Unfreiheit, die dich erwartet, wenn du, Gott behüte, gegen den politischen und gesellschaftlichen Strom schwimmen willst oder gar musst, weil du mit der dort praktizierten egozentrischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Politik nicht leben kannst. Jeder, der anders denkt, als die herrschende Clique um Benjamin Netanjahu, ist ein potentieller Verräter, ein jüdischer Selbsthasser oder sogar ein „koscherer Antisemit“, wie mich einmal Henryk Broder nannte. Ein gewisser A. Bundy nennt mich im Netz einen „durchgeknallten Judenhasser“ und meint, ich sei „scheinheilig“, weil ich nicht um ermordete Israelis, die er fälschlicherweise Juden nennt, weine. Ich weine auch um unschuldige Israelis, wenn es solche gibt, aber ich werde nicht um tote Siedler weinen und ermordete Rassisten, weil ich in der Tat keine Krokodilstränen vergießen möchte.
Wenn man von Menschen spricht, die die Religion missbrauchen und schänden, um andere Menschen zu verfolgen, unterdrücken und aus niederen Motiven aus ihrem Land vertreiben, die Terror ausüben und Menschen im Namen Gottes töten, dann sollte man nicht immer nur von Muslimen sprechen, sondern auch an die extremistischen, fanatischen jüdischen Siedler, bzw. israelischen Siedler, denken, die Tag für Tag Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen das Völkerrecht verüben. Für diese Menschen gilt allerdings das Völkerrecht nicht, sondern nur die jüdische Scharia, die Halacha, die sie engstirnig und dumm interpretieren. Ich sage „israelisch“, weil ich mich als Jude mit diesem rassistischen Pack unter gar keinen Umständen identifizieren kann und will. Für mich sind sie so fern vom wahren Judentum, wie ein Fleisch verzehrender Mensch vom Vegetarier oder Veganer.
Das Wesen des Judentums ist Rabbi Hillels Forderung seinem Nächsten nicht das anzutun, was man selbst nicht ertragen will und kann. Alle anderen Gebote und Verbote sind Nebensache und nicht so wichtig. Von dieser Maxime sind die israelischen Siedler, aber vor allem auch die israelische Regierung und das Gros der israelischen Gesellschaft sehr weit entfernt. Im Gegenteil, wer das fordert, nämlich Menschlichkeit und Toleranz, gilt in Israel als Schwächling, als „Humanist“, was in Israel ein verächtliches Schimpfwort ist. Für den ehemaligen Generalstabschef Rafael Eitan war nur ein „toter Araber ein guter Araber“. Und Israels früherer Außenminister und jetzige Oppositionspolitiker Avigdor Lieberman sprach vielen Israelis aus dem Herzen, als er die Ermordung eines verwundeten palästinensischen Attentäters kommentierte: „Lieber ein Soldat, der sich irrt, als einer, der tot ist.“ Ein toter Araber ist eben ein guter Araber.
Als Kritiker dieses Systems und dieser Denkschule ist man in Israel ziemlich einsam und von allen möglichen Repressionen bedroht. Wenn du als Kritiker bis heute trotzdem in Ruhe gelassen wurdest, dann nur deshalb, weil du vom System benutzt und missbraucht wurdest. Mit Hilfe solcher Kritiker und all der NGOs, die man neuerdings bekämpft, ist es Israel gelungen, mehr oder weniger sein Image als Demokratie aufrechtzuerhalten. Man macht im Land diesen Organisationen das Leben schwer, aber im Ausland argumentiert man gegenüber Kritikern, dass Israel schließlich „die einzige Demokratie im Nahen Osten sei“. So haben Organisationen wie „Breaking the Silence“ oder „Gusch Shalom“ von Uri Avnery, oder Uri Avnery selbst zusammen mit anderen regimekritischen Journalisten wie Gideon Levy, Amira Hass u.a., ungewollt dafür gesorgt, dass Kritik an den Verhältnissen in Israel immer wieder damit beantwortet wurde, dass man schließlich Kritikern wie die erwähnten in Ruhe lasse.
Das ist aber mit der jetzigen Netanjahu Regierung zu Ende. Netanjahus Politik richtet sich jetzt massiv und immer massiver gegen Gruppen, die gegen die Besatzung sind. Sie sollen jetzt endgültig durch eine gesteuerte Hetzkampagne fertiggemacht werden , die von der Regierung gesteuert wird.
Auf breiter Front werden solche Organisationen und Einzelpersonen von jüdisch-nationalistischen Gruppen und radikalen Einzelpersonen, aber auch von rechtsgerichteten Politikern angegriffen. Auf die Kritik der NGOs hat die Regierung keine andere Antwort als: „Weiter kämpfen, weiter besetzen“ oder, wie es Benjamin Netanjahu erst kürzlich im Parlament gesagt hat: „Wir werden ewig auf unser Schwert angewiesen sein.“
Seit bald 50 Jahren leistet sich Israel jenseits der Grünen Linie, der Grenze von 1967, in den besetzten Gebieten, eine Militärdiktatur, ein Apartheid-Regime, eine unmenschliche, grausame Besatzung und unterdrückt ein ganzes Volk. Wie konnte man in Israel glauben, dass man diese Grausamkeiten jenseits der Grenzlinie lassen und in Israel weiter Demokratie spielen kann. Demokratie in Israel bedeutet doch nur, dass man in Israel über Palästinenser sprechen darf, nicht aber mit Palästinenser. Das Schicksal der Palästinenser ist eine rein und ausschließlich israelische Angelegenheit, und zwar eine des Militärs und der Regierung. Und bisher waren sich alle israelischen Regierungen, ob links oder rechts, in dieser Frage einig. Die Sichtbarmachung des Problems in allen seinen tragischen Dimensionen, auch tragisch für die israelische Gesellschaft, ist in all den vielen Jahren immer wieder bewusst und erfolgreich in der israelischen Gesellschaft ausgeblendet worden. Das System der Entrechtung und Diskriminierung, der Landnahme durch Raub und der Vertreibung mit Gewalt – all das hat die israelische Gesellschaft gesehen, dazu geschwiegen und verdrängt. Und wenn ein israelischer Historiker schreibt: „Pogrome, Attentate, Hass und Angst – das sind die Begriffe, die heute den jüdisch-arabischen Narrativ beherrschen. Es war aber nicht immer so und dabei müssen wir nicht bis zum „Goldenen Zeitalter“* im spanischen Andalusien zurückblicken. Früher herrschte auch in Palästina eine arabisch-jüdische Brüderlichkeit, auch wenn es keine heißblütige Liebe war, und diese Brüderlichkeit ist nicht von selbst verschwunden. Vor 1948 gab es viel Sympathie und gegenseitige freundschaftliche Beziehungen zwischen Juden und Araber.“
Und im Blog der angesehenen israelischen Tageszeitung Haaretz antwortet ein Leser, quasi stellvertretend für viele: „Was für eine Brüderlichkeit und was für ein Unsinn. Die Araber wollten schon immer die Juden ermorden. Diejenigen Juden, die vor den Pogromen in Russland geflohen sind, wurden hier mit Messern empfangen.“ Wobei letzteres eine gemeine und primitive Lüge ist. Man muss nur die hebräische Literatur aus dem 19.Jahrhundert lesen, um zu erfahren, wie die Beziehungen zwischen den einheimischen Arabern und den eingewanderten Juden waren. Freundschaftlich, befruchtend und friedlich. Es gab Liebesbeziehungen zwischen Araber und Jüdinnen und sogar Einheimische, die jiddisch gesprochen haben. Die Beziehungen waren von gegenseitiger Achtung geprägt und wenn das alles verloren gegangen ist, dann sind nicht die Menschen daran schuld, sondern die verlogene und habgierige Politik.
Und diese Politik hatte einen Namen: Zionismus. Dieser wurde aber von einer anderen Politik unterstützt, nämlich dem Kolonialismus Englands und Frankreichs, die Schuld tragen an der Zerstörung des Nahen Ostens, indem sie ein falsches, verlogenes Spiel mit den Arabern spielten und sie am Ende betrogen haben. Angesichts dieses Betruges und der darauf erfolgten Ausbeutung des Nahen Ostens durch fremde Mächte, kann und muss man den Zorn der arabischen Welt und ganz besonders den Zorn der Palästinenser verstehen. Europa hat sich an der Ermordung von sechs Millionen Juden schuldig gemacht und die Strafe dafür haben die Palästinenser auszubaden.
Ich will das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen, aber ich denke, dass um weiter zu kommen und nicht weitere 100 Jahre auf der Stelle wie ein Hamster zu treten, ist es notwendig, die ehrliche Seite der Geschichte zu kennen und nicht nur die mythische, vernebelte und von Propaganda verlogene Seite.
Zu Ihrer beeindruckenden und mutigen Erklärung bleibt mir, mich bei Ihnen, wie bei einigen anderen Autoren Ihres Geistes dafür zu bedanken, dass ich keiner jener schweigenden deutschen „Antisemiten“ geworden bin, die sich trotz ihrer zur Schau gestellten Judäophilie klammheimlich darüber freuen, dass „sie ja auch nicht besser sind …“
Eine Anmerkung möchte ich zu ihrem Satz „Europa hat sich an der Ermordung von sechs Millionen Juden schuldig gemacht und die Strafe dafür haben die Palästinenser auszubaden“ dennoch machen. Meines Erachtens wäre dieser Staat mit all seinen bekannten Folgen für jüdische und arabische Israelis und Palästinenser unabhängig vom Dritten Reich, das den Holocaust mit dem Ausbruch des 2. Weltkriegs zu verantworten hat, dennoch entstanden. Der in Europa und den USA bestehende offene Antisemitismus, der in der Konferenz von Evian im Juli 1938 seine eindrucksvolle Bestätigung fand, hätte den Wunsch unter Zionisten weiterhin aufrechterhalten.
Die Bekenntnisse der früheren Zionisten über die Notwendigkeit eines Judenstaates sind eindeutig. Lediglich die Maßlosigkeit, mit der die westliche Welt die Politik Israels nach seiner Entstehung duldete und unterstützte ist mit Hilfe der Instrumentalisierung des Holocaust nach 1960 erst möglich geworden. Den unseligen Beitrag, den Eli Wiesel dazu tat, haben u.a. Uri Avnery wie auch Kenneth M. Lewan wiederholt beschrieben. Eine der fatalsten Auswirkungen bleibt, dass diese Verbrechen an Juden als die schlimmsten der Menschheitsgeschichte angesehen werden – und sich alle anderen Verbrecher problemlos dahinter verstecken können, wenn diese denn der westlichen „Wertegemeinschaft“ angehören.
Wenn ich mit (gebildeten) Arabern spreche, dann schlägt mir die Ratlosigkeit angesichts des politischen Weges, den die israelische Politik eingeschlagen hat, entgegen. Sie wünschen sich endlich ein friedliches Ende des Konflikts , aber genau das scheint heute weiter entfernt zu sein denn jeh. Leider…
Mein Mann ist Palästinenser und ich Deutsche. Wir sind 2000 nach Ramallah gegangen,damit unserer Sohn die arabische Seite kennen lernt. Aus diesen Gründen habe ich mich mit dem Israel/Palästina-Konflikt befasst und viel von Ihnen und dem Palästina-Portal gelesen und möchte mich bei ihnen bedanken,denn dadurch habe ich viel gelernt. Jetzt als Augenzeuge kann ich bestätigen, was sie im Semit schreiben. Vielen Dank.