Der israelische Präsident Reuven Rivlin hatte Glück, dass er Präsident in Israel ist. Wäre er ein amerikanischer Politiker, hätte man ihn schon längst als Antisemiten registriert und er wäre genötigt worden, aus seinem Amt auszuscheiden. Der israelische Präsident hat bei einem öffentlichen Akt in der israelischen Akademie der Wissenschaften zugegeben, dass die Gesellschaft seines Landes „krank ist“ und die Epidemie der Gewalt „in alle Bereiche eingedrungen“ ist.
„Es ist Zeit ehrlich zuzugeben, dass die israelische Gesellschaft krank ist und es unsere Pflicht ist, diese Krankheit zu behandeln“, sagte Rivlin und bezog sich dabei auf den blutigen vergangenen Sommer und die Spannungen zwischen Juden und Arabern, die ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht hätten. „Die Epidemie der Gewalt ist nicht auf die eine oder andere Gruppe beschränkt, sie ist in alle Bereiche eingedrungen“, heißt es im Kommuniqué seines Büros, das betont, dass es „Gewalt gebe in Fußballstadien, akademischen Zirkeln, in Krankenhäusern und Schulen“.
Rivlin fragt sich, und wird von der Tageszeitung The Jerusalem Post zitiert, „Ich frage nicht ob wir vergessen haben, was es heißt, Jude zu sein, sondern ob wir vergessen haben, was es heißt, Menschlich zu sein“. „Haben wir vergessen, was es heißt zu sprechen?“ fragte er und bat die Akademie inständig die Herausforderung anzunehmen und die Gewalt auszumerzen, „die drohe, Schrammen am Image Israels zu hinterlassen“. Rivlin macht sich wegen des Image Israels Sorgen. Es darf keine Schramme bekommen.
Um sich vorzustellen, was passiert wäre, wenn ein amerikanischer Politiker diese Worte gesagt hätte, lohnt es sich zum Beginn des vorigen Jahres zurückzukehren, als Präsident Barak Obama Chuck Hagel zum Verteidigungsminister ernannt hatte. Seine Kritiker fanden heraus, dass er Jahre vorher, als Hagel noch Senator war, gesagt hat, dass „die jüdische Lobby hier viele Menschen einschüchtert. Elliot Abrams, ein prominenter Vertreter der George W. Bush Regierung, kommentierte das und sagte, Hagel hört sich an wie ein Antisemit und Abraham Foxman, Vorsitzender der Liga gegen Diffamierung sagte: „Das, was er über die jüdische Lobby gesagt hat, grenzt an Antisemitismus.“
Wenn man Rivlins Worte nach diesem Maßstab beurteilen soll, dann waren seine Worte voll mit Judenhass. Er sagte, dass die jüdische Gesellschaft „krank“ sei – und damit benutzte er antisemitische Stereotypen, wonach die Juden ideologische und gesellschaftliche Krankheiten verbreiten. Danach zweifelte er an der Menschlichkeit der Juden. Dennoch wird ihm nichts passieren, und er wird nicht in die Liste der Top-Ten Antisemiten aufgenommen werden. Diese Doppelmoral ist nicht neu.
Ehud Olmert und Ehud Barak warnten, dass die Gefahr besteht, dass sich Israel in einen Apartheid-Staat verwandelt würde, aber das regte niemanden auf, nicht einmal einen Bruchteil von dem Zorn, den Jimmy Carter erregte, als er eine ähnliche Warnung ausgesprochen hatte. 1988 sagte Ehud Barak im Fernsehen, dass, wenn er ein junger Palästinenser wäre, er sich sicherlich einer Terrororganisation angeschlossen hätte. Falls ein amerikanischer Senator ähnliches gesagt hätte, hätte man ihn mit Schimpf und Schande aus dem Amt gejagt.
Rivlin hat bei einer Gedenkfeier für die vom israelischen Grenzschutz ermordeten 45 Bewohner des israelischen Dorfes „Kfar Kassam“, die aus den von ihnen bearbeiteten Feldern zurückkamen, ohne zu wissen, dass die Armee kurz vorher Ausgangssperre verhängt hat, noch mehr Öl ins Feuer der rechtsgerichteten Siedler und deren Anhänger gegossen, als er die arabischen Israelis „Fleisch von unserem Fleisch“ nannte. Er versucht mutig, konsequent und ehrlich seinen Weg zu gehen und die Apartheid-Atmosphäre zu beseitigen. Da kommt ihm aber Israels Verteidigungsminister Moshe Yaalon in die Quere, der just dieses Wochenende beschlossen hatte, dass Palästinenser die öffentlichen Verkehrsmittel in Israel nicht benutzen dürfen. Es handelt sich da hauptsächlich um Einwohner der Westbank, die zur Arbeit nach Israel fahren müssen und natürlich auch zurück.
Von dieser Entscheidung des Ministers „steigt der Gestank der Apartheid“ auf, schreibt die Tageszeitung Haaretz. Eines der Symbole der rassistischen Apartheid in Südafrika waren u. a. getrennte Buslinien für Schwarze und Weiße. Jetzt kommt Yaalon und etabliert dieses System auch in den besetzten Gebieten. Damit gibt er all denjenigen Recht, die Israel als einen Apartheid-Staat bezeichnen.
Was lernen wir daraus? Die Feststellung, dass eine bestimmte Aussage antisemitisch oder anti-israelisch ist, hängt meistens von der Identität des Sagenden ab und nicht vom Inhalt. Deshalb wird die Wahrheit in den Aussagen meistens als irrelevant angesehen. Einige Menschen dürfen über Israel sagen, was sie wollen, ohne in die Gefahr zu geraten, deshalb als Antisemiten diffamiert zu werden, andere nicht. Das erklärt, warum viele nicht jüdische amerikanische und auch deutsche Politiker und Journalisten davon Abstand nehmen, sich kritisch über Israel zu äußern. Sie wissen, dass, wenn sie etwas schreiben oder sagen würden, was den Zorn eines Abrams oder Foxmans, oder in Deutschland der Graumanns oder Broders erregen wird, sie ihren Job los werden können. Dieser Doppelmoral und diesem Unfug sollte sowohl die deutsche als auch amerikanische Öffentlichkeit und veröffentlichte Meinung massiv entgegentreten.