Hesiod erzählte den Mythos, dass Ouranos, von seinem Sohn Chronos entmannt, gestürzt und auf die Insel der Seligen verbracht wurde. Chronos errichtete mit seinen Geschwistern die Herrschaft des Göttergeschlechts der Titanen, von denen ein Nachkomme, Prometheus, die Menschen schuf. Das Göttergeschlecht der Titanen wurde von Zeus gestürzt, mit dem die Herrschaft der olympischen Göttern begann. Die Menschen wollten die neuen Götter auch gleich wieder von der Erde vertilgen, und schickten ihnen die Büchse der Pandora.
Der klassische Mensch überlebte Dank eigener Intelligenz und Schläue. Er hat ein gänzlich anderes Verhältnis zu den höheren Mächten als es den Orientalen überliefert ist, die Geschöpfe des (ewig) herrschenden Gottes sein wollen. Die Europäer errichteten den ihnen gefährlich erscheinenden Göttern prachtvolle Tempel nahe ihrer Siedlungen im Glauben, dass der geehrte Gott die Kultstätte seiner Verehrung nicht zerstören und nicht zerstören lassen werde. Es ginge auch um seine Ehre als Gott.
Mit Zunahme der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse wussten die Gebildeten, dass es gar keine Götter geben könne. Gegen diesen Atheismus bildete sich eine populäre Opposition (Carl Beloch), die im modifizierten Glauben an die Götterwelt ihre Mysterienkulte um Erlösung kultivierten. Der bekannteste Kult ist der der Demeter von Eleusis. Diogenes, dem man die unentgeltliche Einweihung in den Kult offerierte, wies das Ansinnen als puren Unsinn ab. Wer z. B. in Süditalien die Verehrung der Mutter Gottes mit dem Jesuskind beobachtet, empfindet, dass sich dahinter der Kult um Demeter mit der Kore verbirgt. Wie konnte es also dazu kommen, dass sich über 2000 Jahre lang religiöse Paranoien (William Hirsch) erhalten konnten, die zu einer Erlösung im Jenseits verhelfen sollten, und dass noch heute jeder Zweite Kirchensteuer zahlt wie eine Versicherungsprämie zur Hausratsversicherung für Fernseher und Eisschrank, die er sowieso binnen der folgenden fünf Jahre auf den Sperrmüll wirft? Das ist doch eigentlich die Kernfrage der Massenpsychologie.
Die klassische Theologie entwickelte um die Frage höherer Existenzen eine Theologie. Sie repräsentierte die Rangfolge der Götter und ergab die politischen Verhältnisse der Hellenen. Als die Makedonier und Griechen an 334 den Orient unterwarfen, verbreiteten sie auch ihre Mysterien. Es dürfte genau umgekehrt gewesen sein, als man heute lehrt: Nicht das Christentum ist als jüdische Sekte entstanden (von der ein Flavius Josephus nichts weiß), sondern Jesus dürfte hellenische Erlösungsmythen unter den Juden verkündet haben. Er wies seine Apostel auch an, nicht zu den Heiden zu gehen (Matth 10,5), sondern nach den 10 verlorenen Stämmen Israels zu suchen. Das passt dann auch zur Verurteilung durch Kaifas und uur vorzeitigen Kreuzabnahme durch die Römer. Drr Rest ist bekannt.
Die Moslems wie die Juden kennen nur einen einzigen Gott, von dem sie sich kein Abbild schaffen dürfen. Das Gebot verbietet auch eine gedankliche Skizze. Selbst seinen Namen zu nennen ist den Juden untersagt, die Jüdische Rundschau schreibt daher allenfalls von „G’tt“. Andreas Eisenmenger entdeckte 1694 auch nur einen kabbalistisch geprägten Rabbi, der dank des Bibelverses, dass „Gott die Weltkugel als Schemel nutze“, errechnete, welche Länge der Fuß Gottes von der Ferse zur Zehenspitze haben müsse; von dieser Fußgröße kalkulierte er alle Körpermaße des alten Jahwe. Das ist die logische Sackgasse, in die eine monotheistische Ein-Gott-Theologie führen muss. Im Monotheismus kann es keine Theologie im Sinne einer Wissenschaft von der Gottheit geben.
Der Christianismus kann dagegen wieder mit Theologie aufwarten. Der spirituell einzige Gott gliedert sich dort aus drei Personen, die – oh Mysterium – auch jeder für sich die ganze Gottheit darstellen. Durch dieses Axiom kratzt der Christianismus die Kurve zum Monotheismus. Logisch ist das nicht, denn wie soll Jesus „zur Rechten des allmächtigen Vaters sitzen“ können, wenn er mit diesem eins ist und beide zusammen nur einen Gott ergeben. Schleiermacher sagt daher, der Katholizismus sei überhaupt die profilierteste polytheistische Religion der Welt. Er spricht sterbliche Leute heilig, die dann im Jenseits wie schon bei den Römern unter die Götter (nun „Gemeinschaft def Heiligen“) aufgenommen sind; als „Heilige“, die nicht angebetet werden, zu denen aber der Katholik wallfahrten und beten darf, sind sie wie die früheren niederen Götter für besondere Anliegen unständig. Ricarda Huch ließ Wallenstein die Frage stellen, ob man aus dem Himmel auch eine Republik machen könne. Der Christianismus ist trotz aller Mystik politisch gesehen, sehr realistisch.
Gott, der Vater, also der jüdische Jahwe, wird in der christlichen Kunst in der Regel so dargestellt wie der alte Ouranos der Hellenen, ein Greis mit langem grauen Bart. Jesus, sein Sohn kann von den Umrissen des Turiner Leichentuches her den Menschen als Phantombild vorgestellt werden. Nur mit der Dritten Person Gottes verhält es sich kompliziert. Ein Heiliger Geist ist wirklich höchst abstrakt. Er, als Dritte Person der Gottheit, lebt nämlich seit dem Ur-Pfingsten mitten unter den Christen, aber niemand hat ihn je zu Gesicht bekommen. Folglich stellt man ihn als Taube dar, einen vermeintlich friedlichen Vogel, den es ubiquitär gibt. Trotzdem wird die Taube nicht wie bei Indern und Ägyptern andere Tiere zum heiligen Tier. Tauben werden gezüchtet und profan verspeist.
Die ewige Präsenz der Gottheit in der Person des Hl. Geistes in Staat und Kirche macht aus der christlichen Staatenwelt die Staaten zu abstrakten Göttlichkeiten. Eine extrem streng differenzierte Lehre von den beiden Naturen des Jesus – er sei unvermischt als ganzer Gott und als ganzer Mensch auf Erden gewandelt – muss streng eins zu eins auf den Staat übertragen werden, weil jeder Staat als humane Organisation menschliche Fehler begeht, sündigt, irrt und versagt, aber letztlich den theologischen Anspruch seiner Göttlichkeit nicht in Frage stellen lassen kann. Das macht die westlichen Staaten so stabil, auch wenn sie von degenerierten Monarchen und ausgemachten Dummköpfen geleitet werden. In der moslemischen Staatenwelt und seit 1948 auch wieder bei den Juden, rebelliert der Mensch gegen falsche Kalifen, und schon wackelt deren Staatsgebilde. für Juden ist ihre Obrigkeit nicht von Gott eingesetzt, ihr Staat ist kein Gott. Sie sind – bei aller Frömmigkeit – auf Bande von Sippen, Stämmen und Völkern angewiesen, was derzeit im Irak zutage tritt. Die westlichen Staaten beharren auf dem Fortbestand des Irak, aber die Kurden wollen ihre eigene Republik schaffen. Ebenso konnten unter den ersten Kalifen arabische Stämme ein halbes Weltreich errichten, aber mit der Ermordung der Omajaden zerfiel die Umma in die nationalen Einheiten früherer Zeiten unter autochthonen Herrschern.
„Die Juden“ befanden sich als politisch früh Besiegte in einer wenig komfortablen staatlichen Situation. Die Christen werten dies so, dass Gott Vater, sei es der alte Ouranos oder Jahwe, sie verworfen habe. Die Assyrer hatten 10 ihrer Stämme in Asien verschwinden lassen, und die Römer gaben der jüdischen Staatlichkeit den Rest. Der Tempel, der die Autorität der Denkrichtung Sadduzäer (Peter Beer) begründet hatte, lag in Trümmern, die heiligen Geräte waren nach Rom verbracht und dort bis zur Plünderung durch die Vandalen ausgestellt. Der Zusammenhalt des jüdischen Volkes konnte nur erhalten bleiben, wenn nicht nur die Ge- und Verbote der Mischna, sondern zum Schutz derselben noch weitere Vorschriften vorgeschaltet wurden, die in der Hoffnung, dass der Gott ihnen wieder gnädig werde, äußerst streng zu befolgen waren. Ein Heer von (pharisäischen) Rabbinern tüftelte Vorschriften ohne Ende aus. Der Satz, man dürfe das Böcklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen, wird als Verbot umgesetzt, frühestens nach 4 Stunden nach Genuß einer Fleischspeise Milch zu trinken. Die Regeln gleiten durchaus in den Aberglauben und in eine „kollektive Zwangsneurose“ (Sigmund Freud) ab. Rabbi Eliser ben Abuja verwarf diese allesamt als unnütz. Die so genannten Karäer wollten nur die Tora akzeptieren, aber ihre viel zu lockere Sekte konnte nicht das Judentum bezwingen. Tatsächlich war die Ideologie eines exzessiven Regelwerks die Grundlage für den Erhalt der Volksreste als Religionsgenossenschaft. Die Religionsgenossenschaft schützte vor dem Zwang, den Wunderglauben des Christianismus anzunehmen und ihr kompliziertes Gesetzeswerk schützte davor, vom versimpelten Islam übernommen uu werden.
Nach dem Dreißigjährigen Krieg war aber auch die Beharrungskraft des Judentums ausgelaugt. Die meisten Juden folgten in der Sehnsucht nach Erlösung den messianischen Versprechungen eines Sabbatai Zwi. Heinrich Graetz nennt das Judentum der Barockzeit eine Sammlung „kindischer Greise“. Die Vermengung von Religion und menschlicher Organisation ließ im 18. Jahrhundert die abstrusen Lehren der Kabbala populär werden. Eine Religion ohne Theologie verlor ihre großen Söhne wie Baruch Spinoza, der mit dem Cherem belegt wurde. Die wirtschaftlich erfolgreichen Mitglieder wurden oft abtrünnig, ließen sich taufen, und wurden gar nobilitiert. Es kam allgemein in Europa zu einer „Aufklärung“, die auch das Judentum erfasste.
Die Aufklärung bemächtigte sich als Haskala der jüdischen Gedankenwelt. Das Judentum in Deutschland war unjüdischen Lehren zugänglich, wie es z. B. Else Croner beschreibt. Aber auch die weniger gebildeten Kreise wurden von einer aufklärenden und profanisierenden Welle erfasst. In der Zeitspanne zwischen Moses Hess und Theodor Herzl entwickelte sich auf den „Resten der jüdischen Religionsgenossenschaft“ (Brockhaus 1895) der Zionismus als Alternative zur Auswanderung in die USA und dem Verbleib im Schtetl. Juden aus Rumänien und Russland begannen, sich in Palästina anzusiedeln. Sie benötigten zwar innerhalb des Judentums die Ideologie der Tora über ein Land, das ihnen kraft Gottes Willen zustand, aber die Staatsgründung war sehr weltlich durchgezogen. Frömmelnde Elemente waren dem Zionismus abholt. Jakob Israel de Haan wurde ermordet, hyperorthodoxe Sekten wie die Satmarer Chassidim lehnten die profane Staatsgründung ab. Der Staat, der sich bis 1948 bildete, bediente sich der Waffe, hatte aber weder eine christliche Theologie von seiner Göttlichkeit, aber auch keine Legitimation durch eine Herrschersippe. Ideologische Gegner mussten sich gegen den arabischen Feind zusammenschließen und in einer Knesset koalieren. Die Legitimation auf dem Papier wird von einer Balfour-Erklärung abgeleitet, deren Rechtsgrundlage vage ist. Zwar kennt auch England kein ausformuliertes, profanes „Grundgesetz“, aber seine Tradition beginnt mit der Habeas Corpus Akte von 1204. Es blickt auf 800 Jahre Staatspraxis zurück. Israel hat keine staatliche Tradition, keinen König, keinen mohammedanischen Sultan oder Kalifen, auch keine geschriebene Verfassung: seine staatliche Legitimation sind das rabbinische Gesetz und die Macht seiner Waffen, die den Raum des Gesetzes behaupten.
Wie es sich 2023 offenbarte, hat Israel ein für westliche Verhältnisse unstrukturiertes System. Nimmt man die Prinzipien der Gewaltenteilung nach Montesquieu und die Trennung von Staat und Kirche nach Roger Williams als unbedingtes „must“ für eine moderne Demokratie an, erkennt man, dass nicht nur Israels Justiz sowohl legislative wie exekutive Rechte besitzt, sondern dass dieser Staat nichts anderes ist als ein jüdischer Kirchenstaat oder ein jüdischer Mormonenstaat. Kann man allein von seinen Volkswahlen zur Knesset von Demokratie sprechen? Ja, wenn der Referenzstaat eine islamische Republik ist. Ohne westliche Gewaltenteilung ist es ein Staatsgebilde sui generis, basierend auf einer Parteienlandschaft, deren Zusammenhalt Tora, der Zionismus und die Furcht vor einem neuen Holocaust ergeben.
Das geltende Gesetz und eine Justiz, die niemand gewählt hat, sondern die sich ähnlich wie das römische Kardinalskollegium ergänzt, sind der jüdische Staat in seinem Kern. Das Staatsvolk ist in toto wehrpflichtig, so dass die jüdischen Streitktäfte die zweite Grundlage der Volksstaatsmacht bilden. Nun sind Wehrmacht und Justiz eo ipso autoritär, so dass Israel vom Prinzip her wenig liberal sein kann. Die jetzige Regierung Netanjahu würde sich gerne aus dem Griff der Justiz befreien, aber Hunderttausende protestierten dagegen, weil die paraklerikale Justiz das einzige Gegengewicht zur regierenden Administration darstellt. Es ist kaum vorstellbar, dass die religiöse Mehrheit des Volkes (Pinchas Goldschmidt) eine weltliche Verfassung verabschieden könnte. Es wird also beim jüdischen Kirchenstaat mit seiner übermächtigen Justiz bleiben.
Itamar Ben Gvir dürfte in dieser Agonie seine Chance erkannt haben: eine eigene Polizeimiliz auf der Westbank zu organisieren, würde den Besitz von Samarua, Galiläa und Judäa sichern, wenn das „alte“ Israel mangels Verfassung auf dem Weg zu einer westlichen Demokratie im Chaos versinkt. Dann entsteht auf der Westban das Südreich Juda neu. Das dürfte allerdings erst recht keine Demokratie westlicher Prägung werden, aber es dürfte die Chance in sich tragen, die unsicheren Zeiten für das jüdische Volk zu überleben.
von Lobenstein