„Völkermord? Im Ernst? ( SZ vom 30. 12. 2024)

Zum Leserbrief von Eva Illouz:

Von Abraham Melzer

Eva Illouz, wer ist das? Man kennt sie; Wikipedia informiert:

„Illouz wuchs als Tochter eines Juweliers einer strenggläubigen sephardischen Familie auf. 1971, als sie zehn war, zog die Familie von Marokko nach Frankreich. Sie ist heute Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität Jerusalem sowie an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris. Außerdem wirkt sie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen]. Sie hat bedeutende Beiträge zur Soziologie der Emotionen, zur Kultur und zum Kapitalismus verfasst. Sie war die erste Frau, die als Präsidentin der Bezalel Academy of Arts and Design diente. Ihre Werke, darunter das Buch Der Konsum der Romantik, haben großen Einfluss in der soziologischen Forschung und sind in viele Sprachen übersetzt worden.“

Dies vorausgeschickt,  verlangt sie heute, vor jeder „nüchternen Diskussion über Israels Verbrechen“ vorab anzuerkennen, dass sich die israelische Psyche seit dem 7. Oktober 23 in einer Art Schockzustand befände. Als ob diese Psyche davor vollkommen gesund und vorbildlich für andere Völker gewesen wäre.

Illouz Artikel in der SZ muss auch Ausdruck dieser Schockstarre sein. Anders lassen sich ihre historischen Verdrehungen und Falschaussagen, die abgestandenen Floskeln und Unterstellungen, der hilflose Whataboutism, das apologetische Gerede, das Illouz ihren Gegnern zuschreibt [vgl. SZ vom 14. 10. 2024], kaum erklären. Sie fordert eine „exakte Wortwahl im juristischen, intellektuellen und moralischen Feld“ und bietet selbst pures Ressentiment: „Menschen, die das unfassbare Leid, die humanitäre Katastrophe, die sich vor aller Augen in Gaza abspielt, Genozid nennen, seien „moralische Maximalisten“, getrieben von „offenem Antisemitismus“. Dabei sind selbst israelische Soldaten, die bei den Kämpfen dabei gewesen sind, der Meinung, dass es sich um Genozid handelt.

Was kann mit einer brillanten Autorin und Wissenschaftlerin geschehen sein, die sich noch bis vor kurzem für einen konsequenten Menschenrechts-Universalismus eingesetzt hatte, und damit ihre Kritik an der israelischen Politik begründet hat?

Täglich erreichen uns schreckliche Nachrichten aus Gaza. Täglich schließen sich Berichte über getötete Zivilisten, ermordete Kinder an. Immer wieder sind es Kinder. Seit dem 7. Oktober 2023 finden die Diskussionen über Israels Verbrechen statt: jetzt folgt die Rechtfertigung dieses völkerrechtswidrigen Krieges seitens einer jüdisch-israelischen Philosophin, die sich bis zum grauenhaften Massaker im Oktober 2023 eher damit ein Ansehen geschaffen hat, dass sie die israelische Politik der tagtäglichen Verletzung und Missachtung des Völkerrechts und der Menschenrechte angeklagt hatte. Noch 2015 schrieb sie in ihren Soziologischen Essays, dass

das jüdische Trauma nicht länger als moralische Rechtfertigung für die systematische Blindheit gegenüber der massiven Erosion der Demokratie in Israel und gegenüber der moralisch sowie politisch unverantwortlichen Unterdrückung entrechteter Palästinenser dienen kann…..  Wenn jemand, dem die Menschenrechte wichtig sind, damit zum Verräter an Israel und an den Juden wird […] würde dies den moralischen Bankrott des organisierten Judentums und Israels bedeuten.“

Eva Illouz wollte keine Verräterin an Israel sein. Sie reagierte  wie so viele Israelis und Juden reagieren, wenn vermeintliche Judenfeinde Israel kritisieren: Sie fühlte sich zuerst persönlich angegriffen und dann verpflichtet und berufen Israel zu verteidigen, auch wenn sie ihre Grundsätze und Überzeugungen dabei verraten müsste. Dieser Verrat schien ihr geringer und bedeutungsloser zu sein. Dieser moralische Bankrott Israels, nicht des Judentums, ist nun schneller gekommen, als wir alle dachten. Eva Illouz bietet dafür keine andere Erklärung und Entschuldigung als die des Schockzustandes der israelischen Psyche, „weil an diesem Tag der wohlbekannte Vorsatz zur Vernichtung Israels in die Tat umgesetzt wurde.“

Das ist freilich genauso absurd und falsch wie ihre Behauptung, die palästinensische Führung führe seit 100 Jahren Krieg gegen Israel. Dabei existiert der Staat Israel erst seit 1948, also erst seit 86 Jahren. Und würde sie Deutschlands Versagen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entschuldigen wollen, dass es wegen des verlorenen Ersten Weltkrieges in Schockzustand war? Das wäre zwar die Erklärung, aber es ist keine Entschuldigung, die von den Opfern akzeptiert werden könnte.

Aber Eva Illouz scheint es nicht so genau zu nehmen mit geschichtlichen Fakten und der Beurteilung des Völkermordes im Gazastreifen. Sie stellt alles, was sie bisher gesagt und geschrieben hat auf den Kopf,  und macht aus Opfern Täter und aus Tätern Opfer.

Ihr Beitrag in SZ vom 30.12.2024 ist überladen mit Selbstgerechtigkeit und Selbstmitleid. Wer ihre früheren Schriften kennt, mag nicht glauben, dass sie wirklich die Autorin dieser Rechtfertigung der israelischen Gräueltaten ist. Sie verharmlost diese Taten und, mehr noch, sie hält sie für notwendig. Sie behauptet ernsthaft, dass sie nicht den Tatbestand des Genozids erfüllten, obwohl unzählige israelische, jüdische und nicht-jüdische Beobachter genau das behaupten und auch belegen. Sie will nicht wahrhaben was sie und alle anderen sehen. Es kann halt nicht sein, was nicht sein darf. Illouz scheint nicht wahrzunehmen, was sie nicht sehen will, und weist solche Zeugen als Antisemiten ab.  Sie taktiert mit einem Vorwurf und einer Diskriminierung, die sie bis zum 7.10.2023 nicht nur vermieden, sondern auch intellektuell und leidenschaftlich bekämpft hatte.

Illouz argumentiert wie die diversen Antisemitismusbeauftragten, die in jeder Kritik an Israel unverzüglich auf Antisemitismus-Abwege schalten. Wenn sie früher solche Praktiken kritisiert und ad absurdum geführt hat, so bedient sie sich jetzt selbst solchen primitiven und obsoleten Argumenten. Der südafrikanische ANC ist für sie genauso antisemitisch wie der gesamte IStGH, weil der eine Israel des Völkermordes angeklagt und der andere Haftbefehl gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu erlassen hatte. Illouz richtet ihren Frust und Zorn gegen alles: gegen die UN, weil man es dort gewagt hat, Israel Genozid vorzuhalten. Sie verweist immer wieder auf das Massaker der Hamas, das zweifelsfrei grausam und menschenverachtend war, aber sicher nicht mit „erklärtermaßen genozidaler Absicht“ verübt wurde. Es war für mich ein verzweifelter Ausbruch in einer für die Hamas fast aussichtslosen Lage, als nicht nur Israel und der Westen sich gegen sie vereinten, sondern auch bedeutende arabische Staaten im Begriff standen, die Fronten zu wechseln und die Palästinenser in ihrer verzweifelten Lage aufzugeben. Das Massaker der Hamas barg m. E. keine genozidale Absicht, sondern erscheint eher als Versuch auf sich und seine Lage aufmerksam zu machen. Das Attentat mag zwar gelungen sein, aber der Preis, den die Palästinenser dafür zahlten und weiter entrichten, ist sehr hoch.

Illouz beklagt, dass „drei Tage, nachdem Israelis vergewaltigt, lebendig verbrannt und vor den Augen ihrer Eltern und Kinder erschossen worden waren“, bereits vom Genozid gesprochen wurde. Wenn es damals zu früh für diese Qualifizierung gewesen ist, so ist es doch heute, nachdem die israelische Armee, die humanste Armee der Welt, mehr als 50 000 Frauen, Kinder, Zivilisten und wohl auch Hamas Kämpfer „neutralisiert“ hat, und nachdem mehr als eine Million Menschen aus ihrem Wohnort vertrieben, vielleicht doch zeitlich passend, von Völkermord oder Genozid zu sprechen? Oder wird das Morden erst Genozid, wenn, wie im Tschad, 400 000 Menschen getötet und weit über zwei Millionen vertrieben worden sind? Oder gikt als ultimativer Maßstab die Zahl von 6 Millionen Ermordeten?

Illouz wird nicht müde von ermordeten Israelis zu schreiben und ignoriert die ermordeten Palästinenser. Palästinenser wurden nicht nur in diesem genauso unerbittlichen wie überflüssigen Rachekrieg Israels hingeschlachtet, sondern die ganzen letzten 76 Jahren seit der Gründung des Staates Israel hindurch, seit der Vertreibung der Palästinenser aus ihrer Heimat, seit der palästinensischen Katastrophe, die sie Nakba nennen und was für die Israelis der Tag der Unabhängigkeit ist. Und ihre Zahl reicht in die hunderttausende.

Illouz erklärt den Schockzustand der Israelis und damit auch ihr eigenes Versagen mit den „jahrzehntelangen Bombardierungen an ihren Grenzen im Norden und im Süden und mit Irans Schlinge um den Hals“, die Israels faschistischste Regierung seit Gründung des Staates genötigt habe, den Gazastreifen abzuriegeln. Sie wundert sich dennoch über den Versuch der Eingeschlossenen aus ihrem Gefängnis auszubrechen und verurteilt ihn. Das dabei hunderte und sogar über eintausend Israelis getötet wurden, ist entsetzlich und ist natürlich zu verurteilen, aber was ist mit den Hunderten und Tausenden Palästinenser, die diesseits und jenseits der Grenzen von israelischen Kommandos und bewaffneten nationalistischen und chauvinistischen Siedler im Verlauf der vielen Jahren ermordet wurden? Was ist mit dem Land, das den Palästinensern geraubt wurde, wo jetzt israelische Siedlungen gegen jedes internationale Völkerrecht entstehen?

Eva Illouz vertritt den Grundsatz, dass für den Fall „wenn in ein fremdes Staatsgebiet eingedrungen wird, wenn Menschen gefoltert, getötet und vertrieben werden, wenn Militärstützpunkte angegriffen und Zivilisten bombardiert werden, eine militärische Antwort durch internationales Recht und den gesunden Menschenverstand gerechtfertigt ist.“ Wenn das aber, nach Illouz’ Meinung, richtig und gerechtfertigt für die Israelis ist, um wie viel mehr ist es gerechtfertigt für die Palästinenser, in deren Staatsgebiet die Israelis schon seit langem eingedrungen sind und es inzwischen als ihr eigenes betrachten, analog zu handeln?

Illouz platzt fast vor Selbstgerechtigkeit und Selbstmitleid, wenn sie von „jahrelanger relativer militärischer Zurückhaltung seitens der Israelis“ schreibt, und dabei übergeht, was sie vor dem 7.10.23 geschrieben hat. Wann war denn Israel „militärisch zurückhaltend“? Ich lasse hier unberücksichtigt die Vertreibung der Palästinenser 1948. Aber die Invasion der West-Bank 1967, die völkerrechtlich Palästina heißt, kann man doch nicht als „militärische Zurückhaltung“ definieren. Die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung ist doch für alle Welt sichtbar und keine Kleinigkeit, vor der man die Augen und das Gewissen verschließen darf und kann. Aber es sieht offenbar jeder nur das, was er sehen will.

Illouz behauptet und meint es offensichtlich ernst, dass Netanjahu und sein bisheriger Verteidigungsminister und Armeechef Galant ihren Krieg tatsächlich nur führen, um „ihre Bevölkerung zu schützen“. Wie naiv, unehrlich und närrisch muss man sein, um solche Dinge  zu glauben. Dabei räumt sie doch selbst ein, dass Israel „zweifellos alle Verhältnismäßigkeit missachtet“. Sie schreibt weiter: „Israel hat zahlreiche Kriegsverbrechen begangen…Aber unverhältnismäßige Gewaltanwendung und ein Kriegsverbrechen ergeben noch keinen Völkermord“. Ab wann wird es denn für die israelbezogene Autistin ein Völkermord? Und wenn es nur Kriegsverbrechen bleiben, ist es dann weniger schlimm? Wenn es niederträchtig ist, wie Illouz behauptet, dass die Hamas ihre militärische Infrastruktur unterhalb oder inmitten ziviler Gebäude eingerichtet hat, was in Gaza kaum anders möglich wäre, so ist es doch noch niederträchtiger und erst recht ein Kriegsverbrechen 1000 Kilogramm Bomben auf Häuser abzuwerfen und kollateral zig Tote in Kauf zu nehmen, nur um einen Verdächtigten zu treffen und zu töten. Nein, Illouz leugnet nicht die Grausamkeit der Zerstörungen. Aber sie tröstet sich und ihre Leser damit, dass diese Verbrechen noch keinen Völkermord darstellen. Sie beruhigt ihr Gewissen und das ihrer Leser, mit der These, dass Israel „stets alles getan habe, um die Zivilbevölkerung in Gaza zu schützen.“  Wie geschah das? Indem die IDF die Bevölkerung 5 Minuten, manchmal sogar 15 Minuten vor einer Bombardierung gewarnt hat. Zynischer geht es nicht.

Sie ist offensichtlich tatsächlich davon überzeugt, dass das Ziel der israelischen Militäroperation war und ist, die Stadt, nicht aber die Identität der Bevölkerung zu zerstören.  Diese wurde schon „zerstört“ bzw. ignoriert, als Golda Meir, Israels eiserne Regierungschefin einst behauptete, sie kenne kein palästinensisches Volk. Die Palästinenser waren für sie wohl nur Statisten.

Das sei für sie eine conditio sine qua non bei der Definition von Völkermord. Die zigtausend Tote und die mehr als eine Million Vertriebene spielen wohl keine Rolle. Das sei für sie kein Völkermord, sondern offensichtlich nur Kollateralschaden. Sie behauptet, dass die Hamas bereit gewesen ist „ihre Bevölkerung jeden Preis zahlen zu lassen.“ Und welchen Preis verlangt die israelische Regierung von ihrem Volk?

Illouz beschuldigt Michael Fakhri, dem UN-Sonderberichterstatter, der von systematischem Aushungern der Zivilbevölkerung klagt, er würde historische Fakten missachten, weil er behauptet, „niemals in der Nachkriegsgeschichte ist eine Bevölkerung so schnell und so vollständig in den Hunger getrieben worden wie die 2,3 Millionen Palästinenser, die in Gaza leben“. Wann beginnt denn für diese Philosophin das Aushungern einer Bevölkerung, wenn sie dazu ergänzt, „dass wir anerkennen müssen, dass die Menschen dort schrecklich leiden“. Die Menschen in Gaza leiden also, sie hungern nicht. Dass sie leiden, scheint sie zu akzeptieren.

Und Illouz beendet ihren polemischen Artikel, mit dem sie einen intellektuellen Tiefstand erreicht, nicht nur indem sie alle Kritiker Israels zu Antisemiten erklärt, sondern auch noch indem sie Moral, Ethik und Völkerrecht auf den Kopf stellt und behauptet, dass die von Zionisten und sich auf den Zionismus berufenden Banden überfallenen Palästinenser „seit hundert Jahren Krieg gegen Israel führen.“ Dabei könnte man glauben, dass die Palästinenser in Palästina eingewandert, um nicht zu sagen eingedrungen sind, und die ansässigen Juden vertrieben haben.

Man kann sich Eva Illouz Ausführungen nur damit erklären,  dass bei ihr, der als aufgeklärter Soziologin geltenden Autorin, unter dem Schock des 7. Oktober 2023 die Koordinaten völlig verrutsch sind. Wenn das bei einer Frau wie ihr schon zutreffen kann, wie muss die Schockwelle auf Millionen jüdische Israelis wirken?“

Gottseidank wirkt der Schock nicht auf alle.

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