von Ludwig Watzal
„Dieses Buch versteht sich grundsätzlich als Lebenslauf des Todes im Nahen Osten des letzten Vierteljahrhunderts aus arabischer Sicht“, schreibt Aktham Suliman in seiner „Gebrauchsanweisung“ zum Verständnis dieses Buches. Wer eine verbissene Abrechnung des Deutsch-Syrers mit dem Westen erwartet, wird schnell eines Besseren belehrt.
Obgleich der Nahe Osten wie kaum eine andere Region vom Westen militärisch heimgesucht, malträtiert und verwüstet worden ist, scheint der Autor gegenüber dem Wesen keinen Groll zu hegen. Im Gegenteil: Er erzählt nicht nur seine persönliche Geschichte, sondern die der Region mit Witz, emotionalem Engagement und einer gehörigen Portion Ironie. Zur Beurteilung der Politik des Westens wäre m. E. manchmal eher Zynismus und Sarkasmus angebrachter gewesen, um die Doppelmoral, Verlogenheit, Menschenverachtung und Brutalität der USA und seiner westlichen Satellitenstaaten zu beschreiben. In diesen Kategorien scheint Suliman aber nicht zu denken.
Aktham Suliman war zehn Jahre Deutschlandkorrespondent des arabischen Nachrichtensenders Al-Dschasira, bis er im Sommer 2012 auf eigenen Wunsch den Sender verließ, weil dieser zunehmend tendenziöse Berichterstattung ausstrahlt. Von der alternativen Berichterstattung zu CNN und BBC scheint nicht mehr viel übrig geblieben zu sein. Al-Dschasira wird vom Emir von Katar alimentiert, und das Land beherbergt die größte US-Militärbasis im Nahen Osten. Berühmt wurde der Sender durch seine differenzierte Berichterstattung über den „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan und die Folgen des US-Überfalls auf Irak. Zu dieser Zeit dachte US-Präsident George W. Bush kurzfristig darüber nach, den Sender bombardieren zu lassen!
Mit dem Kriegsbeginn 1991 nahmen die später stattfindenden Ereignisse und Entwicklungen zwischen der arabischen Welt und dem Westen ihren verhängnisvollen Lauf. Die bis dato unaufgeklärten Umstände der Anschläge von 9/11 und in deren Folge der globale Krieg gegen den Terror, der Überfall auf den Irak in 2003, über den so genannten arabischen Frühling bis zum Islamischen Staat (IS) sind für den Autor als Erklärungsansatz nicht hinreichend genug.
Es habe sich erst am Ende eine Art Sinn-These gestellt, weil der „Lebenslauf des Todes“ nicht das letzte Wort gewesen sein könne. Das Buch ist weit entfernt von einer eindeutigen Schuldzuweisung an den Westen, aber ohne den „Einfluss des Westens wäre die Nahost-Region nicht so geworden, wie sie heute ist. Die verhängnisvolle Geschichte zwischen dem Westen und der arabischen Welt habe jedoch schon mit dem Sykes-Picot-Abkommen 1916 und der Balfour- Erklärung vom 2. September 1917 begonnen. In beiden Abkommen wurden die Araber von den westlichen Kolonialmächten belogen und hinters Licht geführt.
In vier Kapitel zeichnet der Autor die Vielschichtigkeit der westlichen Kriegsinteressen in dieser Region nach. Wie immer sie motiviert sein mögen, wie zum Beispiel durch Erdöl, den Krieg gegen den Terror, als Kreuzzug für die Demokratie, als Präventiv- oder NGO-Variante eines Krieges als „Schutzverantwortung“ (!), oder als brutaler Umsturz eines Regimes, immer wird die Rolle der Medien und deren Rolle als Instrument der Kriegspropaganda mit reflektiert.
Die „Segnungen“ des Westens in Form von Pressefreiheit, Marktwirtschaft, Frauenrechten und Demokratie für den Irak hatten aufgrund der Brutalität des Vorgehens in der arabischen Welt nur eine Antwort zugelassen: Nein Danke! Beim Stichwort Demokratie schauten die Menschen immer ängstlich gen Himmel. Die eingeführte Pressefreiheit im Irak verdiene ebenfalls nicht den Namen, das gleiche gelte auch für die Marktwirtschaft, so Suliman. Auf emotionaler Ebene assoziierten nicht nur die Iraker, sondern auch andere Staaten des Nahen Ostens Demokratie „zum ersten Mal mit Krieg und Lüge“.
Kritisch geht der Autor mit der so genannten „Responsibility to Protect“, der „Schutzverantwortung“, ins Gericht. Sie könne als Rechtfertigung für Kriege zum angeblichen Schutz von Menschenrechten missbraucht werden. Diese Kriegsführungsstrategie erfreut sich hoher Beliebtheit bei NGOs und der Partei Die Grünen, die schon immer aufgrund einer moralischen Überlegenheit für militärische Einsätze waren, um ihre Prinzipien, wenn nötig, mit Gewalt durchzusetzen.
Auch andere deutsche Spezialitäten wie „Willkommenskultur“ und „Integrationskurse“ werden von Suliman gewürdigt. So finde in den Integrationskursen für nicht-Deutsche eine „Einführung von Barbaren in Kultur überhaupt“ statt. Auch bei der „Willkommenskultur“ handele es sich um einen „positiven“ Alltagsrassismus, wie der auf Deutsch schreibende marokkanische Journalist Mohamed Amjahid seine Erfahrungen vom Münchener Hauptbahnhof in seinem Buch „Unter Weißen“ wiedergab. Einen Benimm-Knigge für arabische Flüchtlinge hat die Bundeszentrale für politische Bildung herausgebracht.
Der „Sinn“ des westlichen Handelns in der arabischen Welt erschließt sich dem Autor auch am Ende seines Buch nicht. Es bleiben mehroffene Fragen als Antworten gegeben werden. Vielleicht bekam Suliman die einzig sinnvolle Antwort von einem jungen Syrer vor dem Hintergrund des blauen Himmels und des blauen Mittelmeers in Latakia: „Vergiss Schiiten und Sunniten, Mann! Da oben und das draußen sind Russen und Amerikaner!“
Suliman bietet den Lesern eine arabische Sichtweise der verhängnisvollen Ereignisse, die mehr als überfällig und bisher schmerzlich vermisst worden ist. Was die Menschen im Westen bisher vorgesetzt bekamen, waren gefilterte und voreingenommene Nachrichten von „eingebetteten“ Reportern und Journalisten, die nichts anderes als Kriegspropaganda im Namen der USA waren. Die Betroffenen hatten keine Stimme.
Aktham Suliman liefert mit seinem Buch wenigstens eine arabische Sichtweise der letzten 25 Jahre. Sie ist analytisch spannend, journalistisch überaus professionell sowie biographisch und emotional äußerst packend. Eine inspirierende Lektüre für alle Nahost- und politisch-Interessierten.