Denkprobleme der Demokratie

von Eurich Lobenstein

Demokratie lebt von Auseinandersetzung, die erst dann in Gewalt ausartet, wenn man sich nicht mehr versteht. „Jetzt red´i“ heißt es in Bayern, was aber dann zum gefürchteten Maßkrugwerfen übergeht, wenn man für die Katz redet. Obwohl bei uns die Rede (Meinungsäußerung) frei ist, haben immer mehr Leute Lust, ihren Frust am Unverständnis durch brutale Aktionen abzureagieren. Wo liegt das Problem? es wird bei Paul Watzlawik (in: Menschliche Kommunikation) in unserer Zeit beschrieben, ist aber schon länger erkannt von Carl v. Clausewitz (in: Vom Kriege). Dieser militärische Denker hat nämlich die Gewalt als solche analysiert, die sich in drei Stufen gliedere: in die Gewalt der taktischen Ebene (Kampf der Soldaten und Kompanien), die der operativen (Gefecht der Bataillone und Divisionen) und die strategische Ebene der Armee. Wenn der Krieg als Ganzes Politik mit anderen Mitteln, eben Mitteln der Gewalt, sei, muss es für die gewaltfreie Auseinandersetzung diese „zivilen“ Ebenen entsprechend auch geben. Das sind die Denkebenen, die Paul Watzlawik am Beispiel des Kreters erkannte: „alle Kreter lügen“. Diese Aussage betrifft die taktische Ebene. Sie steht im Widerspruch zur Tatsache, dass der „Zeuge“ selbst Kreter ist; aber er spricht über die Kreter, auf einer operativen Ebene. Seine Aussage über die Kreter hat mit seiner Qualität als Kreter nichts zu tun. Zurück zu Clausewitz: aus operativen Gründen zieht sich eine Division vom Feind zurück, aber die Armee bereitet eine Offensive vor und während des Rückzugs des Bataillons greift eine ihrer Kompanien den Feind an, etwa um den taktischen Rückzug zu sichern.  Die Frage bei Watzlawik müsste also lauten: was bezweckt der Kreter, wenn er sagt, dass alle Kreter lügen? Was als Bruch in der Logik erscheint, verlangt in Wirklichkeit die Überlegung: warum erzählt er uns das? Warnt er uns vor den Kretern oder hat er andere Intentionen.

Hier würde eine Tugend des „Demokraten“ beginnen: den Sprecher ernst zu nehmen, zuhören zu können, und denken, bevor man selbst redet. 

Ein praktisches Beispiel unserer Tage ist der Begriff des Faschismus. „Putin ist ein Faschist“ sagt der eine und errötet, wenn der andere ihm den Werbespot der israelischen Innenministerin Ayelet Shaked zeigt, die sich mit Parfüm der Marke „Fascism“ einstäubt. Kemal Atatürk wird zum Faschisten, Gamal Abdel Nasser, usw. Erfinder des Faschismus dürfte unbestreitbar Benito Mussolini sein. Sein Faschismus ist „etatistisch“, d.h. er forderte einen starken Staat im Innern. Gründer seiner Partei waren viele Juden, d.h., der italienische Faschismus war auch nicht antisemitisch, was heute als Kennzeichen für Fascismus gilt. Juden übernahmen hohe Funktionen in Staat und Partei (z.B. Dante Almansi) des Duce, Nahum Geldmann (in: Mein Leben als deutscher Jude) weiß von der philosemitischen Meinung des Duce zu erzählen. Nachdem die Italiener sich mit Deutschland verbündeten, führten sie auch Rassegesetze ein, aber schickten ihre Juden in die Verbannung nach Süditalien (vgl. Carlo Levi in: Christus kam nur bis Eboli). Margherita Sarfatti, des Duces jüdische Geliebte, ging nach Abschluss des „Stahlpaktes“ nach Südamerika (ich habe mich geirrt, was soll´s). Obwohl „der Führer“ die Südtiroler der staatlichen Italienisierung preisgab und den Duce bewunderte, ist es umstritten, ob man den deutschen Nationalsozialismus als Faschismus verstehen darf. Wilhelm Reich (in: Die Massenpsychologie des Faschismus)  tat es, kritisierte aber das typisch Deutsche an der „faschistischen“ NS-Bewegung. Die Kommunisten, die auch in Italien von den Faschisten verfolgt wurden, setzen alles Rechte mit dem Faschismus als „Ur-Rechtes“ gleich. In Deutschland marschierte eigentlich nur der „Stahlhelm“ im Stil von Mussolinis Compartimiento. Wir erkennen hier den Unterschied der „taktischen Ebene“ des italienischen Faschismus und das, was Wilhelm Reich meint, die operative Ebene aller rechten Tendenzen Alles gewaltbereite Rechte ist für ihn „Faschismus“. Denkt man strategisch, dann werden auch die amerikanischen Südstaatler wegen ihrer Haltung gegenüber den Farbigen zu Faschisten und zuletzt, politisch gesehen, alles Böse. So kann man als Anhänger von Ayelet Shaked, die ein starkes Israel wünscht, kaum mit jemanden diskutieren, für den Faschismus Klimazerstörung, Gaskammern, Coronaverschwörung und Eroberungslust bedeutet. Wahrscheinlich wäre Dante Almansi immer ein hohes italienisches Tier geblieben, wenn der Boykott Italiens wegen des Abessinienkrieges das Land nicht in die Arme der „deutschen Faschisten 2. Ebene“ getrieben hätte.

War Winston Churchill Faschist? Das kommt auf die Ebene an, auf der man diese Frage erläutern will.

Zwischen unseren Breiten- und Längengraden ist es inzwischen schlimmer geworden, als man es wahrhaben will. Selbst unsere höchsten Juristen springen zwischen den Denkebenen hin und her. Das begann schon vor Jutta Limbach, die die Wegnahme des Welfenschatzes von jüdischen Kunsthändlern zur Nazi-Zeit als korrekt absegnete. Aktuelleres Beispiel ist der Streit vor dem Bundesverfassungsgericht zur Frage, ob einem Fraktionsmitglied der AfD die Ehrung als Bundestagsvizepräsident zusteht. Es steht so im Text, dass jede Fraktion einen solchen Vizepräsidenten stellt, quasi für das Protokoll; jede Fraktion soll bei feierlichen Anlässen gut dastehen. Die AfD hat Fraktionsstärke. Also steht ihr ein solcher protokollarischer Posten zu. Das ist die taktische Ebene. Auf höherer Ebene bedarf es einer förmlichen Wahl; 50% der Abgeordneten müssten diesen Text bestätigen und einen AfD Mann wählen, was sie aber nicht machen wollen. Schon bei der Wahl von Thomas Kennerich überreichte man ihm den obligatorischen Blumenstrauß nicht, sondern warf ihn ihm vor die Füße. Also gibt es aus operativen Gründen keine protokollarische Ehrung für die AfD. Natürlich kann man die Abgeordneten nicht zur Wahl verpflichten und einen Ersatzweg zum Vizepräsidenten gibt es nicht.. Man kann sagen als „Demokrat höherer Ebene“, dass die Verweigerung des Ehrenpostens formal korrekt sei, aber auf taktischer Ebene fehlt es den Demokraten an Manieren und Höflichkeit. Ob das auf höchster, politischer Ebene korrekt ist, mag weiter diskutiert werden. Als Pessimist kann man sich vorstellen, dass der Verlust von Manieren auch zu weiterer Verwilderung führen wird.

Ingo Müller (in Furchtbare Juristen) hat beschrieben, dass die Gerichte der 20er Jahren linke Gewalttätergruppen aus lauter Anführern bestehend hart verurteilten, wogegen ähnliche Gruppen auf der rechten Seite nur aus Mitläufern bestehend mildere Urteile kassierten. Im Prinzip setzt sich diese Willkür bis heute fort: als Beispiel mögen die vergreisten Sekretärinnen und Wachleute im Mannschaftsrang aus der Zeit der Konzentrationslager gelten, die ihre damaligen Jobs anscheinend in heimtückischer, grausamer und sonst niederer Gesinnung mit dem Vorsatz auf Tötung ausgeübt haben, was dann als Beihilfe zum Mord gemünzt wird. Man fragt sich dabei, ob unsere Juristen aus Dummheit oder aus Überlegung zwischen den Denkebenen hin und her lavieren. Wir haben nicht nur einen förmlichen Rechtsstaat, sondern zugleich einen totalitären Gesetzesstaat, in dem es kaum mehr einen Bereich gibt, der nicht durch Vorschriften erfasst wird. Kein Beruf, dessen Ausübung nicht wenigstens durch DIN beschrieben wird. Darf man überhaupt arbeiten, wenn man Steuerschulden hat? Genau weiß man das auch nicht. Ist es erlaubt, sich vor dem Gerichtsvollzieher zu verstecken? Niemand kann das klipp und klar sagen. Nehmen wir einen Vergleich mit einem rudimentären Staat: dort gibt es riesige Brachfelder der Rechtspflege, man kann sagen, es herrscht Gesetzlosigkeit. Die Polizei erschießt einen, wenn man nach Mitternacht durch die Straßen wandert. Aber das weiß man und übernachtet eben bei Bekannten, wenn es spät wird. Die Polizei kann in solchen Ländern mangels präziser Meldevorschriften nicht prüfen, ob jeder vor 24.00 unter seiner Meldeadresse anwesend war.

Bei uns ist das anders: Ausgangssperre in Baden-Württemberg bis 05.00; eine Frau verlässt um 04.50 das Haus um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen: Bußgeld von mehreren Tagesverdiensten. Rechtsstaat? Es ist eine Frage, auf welcher Ebene ich das diskutieren will. Strategisch, vielleicht auch schon operativ sind wir kein Rechtsstaat mehr.

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