Gabriele Krone-Schmalz war einmal eine angesehene und sogar beliebte Journalistin, der man Wissen und Kompetenz nicht abgesprochen hat, wenn es um Russland ging. Diese Zeiten, in denen sie zum Beispiel Bücher wie „An Russland muss man glauben“ oder „Russland wird nicht untergehen“ veröffentlicht hat, sind aber vorbei. An Russland glauben heute nicht einmal alle Russen und wir sehen täglich, wie Russland untergeht. Moralisch ist Russland schon untergegangen, als Putin an die Macht kam. Damals freilich hat GKS es nicht gesehen oder vielleicht nur nicht wahrhaben wollen. Ihr Bestseller von 2015 – Russland verstehen? – in dem es aber mehr um die Ukraine geht als um Russland, erscheint jetzt neu, nachdem der Originalverlag C.H. Beck es nicht mehr haben wollte, im Westend Verlag, der wohl ein Sammelbecken aller Russland bzw. Putin treuen Autoren geworden ist. Das Buch ist stark tendenziös, enthält peinliche russische Narrative und passt sehr gut zum wenigen Wochen vorher erschienen Buch von Jacques Baud, der sein Buch ebenfalls mit der Voraussage beendet: „Am Ende heißt der große Sieger – Wladimir Putin.“ Beide sehen nicht, dass Putin schon verloren hat, noch bevor er angefangen hatte. Es ist eben nicht einfach gegen die ganze westliche Welt zu kämpfen. Denn am Ende entscheidet nicht die Armee, sondern die Stärke der Wirtschaft den Ausgang des Krieges. Und die Allianz, die hinter der Ukraine steht, insbesondere die USA, kann in einem Monat mehr Panzer produzieren als Russland in einem Jahr.
Kann man Russland verstehen? Nein! Ich bemühe mich schon seit Beginn des Überfalls auf die Ukraine, Russland zu verstehen, aber ich versteh leider nichts. In Ihrem Buch – Russland verstehen? – Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens – schreibt Gabriele Krone-Schmalz von der vermeintlichen Arroganz des Westens, der USA und der NATO und offenbart mehr als deutlich ihre eigene Arroganz und Selbstgefälligkeit. Sie urteilt sehr einseitig und blickt immer vom Osten in den Westen, nie umgekehrt. Nun gut, sie liebt Russland. Aber auch ich hasse Russland nicht, zumal ich in Samarkand geboren wurde, als es noch russisch war. Der russische Diktator Stalin hat meine Eltern vor Hitler gerettet, obwohl er nicht viel besser war. Auch er war wie sein heutiger Nachfolger Wladimir Putin nur eine Inkarnation von Iwan dem Schrecklichen.
Ich könnte das Buch mit einem Satz rezensieren, mit der Überschrift von Franz Werfels Erzählung „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig.“ Nicht Putin, die Ukraine ist schuldig, und vor allem der Westen, die USA und die NATO. Und worin besteht die Schuld der Ukraine? Die Menschen dort wollten die westliche Demokratie haben und frei sein. Aber der „lupenreine Demokrat“ Putin sah darin eine Gefahr für sich und sein autokrates Regime. Er hatte und hat Angst vor einem Virus, der keine Grenzen kennt und der wie die Corona sich über Grenzen verbreitet. Dieser Virus heißt Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenwürde. Zwar hat schon Winston Churchill gesagt, dass Demokratie „Shit“ sei, aber noch gibt es nichts Besseres. Und solange der Mensch nicht vom Brot allein lebt, braucht er auch die Freiheit zum Überleben. Natürlich ist das sehr einfach und manche werden sagen oberflächlich ausgedrückt. Aber muss denn die Welt kompliziert, verlogen und zynisch sein? Wäre es nicht besser man würde alle Religionen und Ideologien beiseiteschieben und sich nur nach dem Kant’schen Motto, das der zweitausendjährigen Lehre von Rabbi Hillel folgt: Tue Deinen Nächsten nicht das an, was Du nicht willst, dass man es dir antut. Wenn die Menschheit sich danach richten würde, dann hätten wir FRIEDEN.
GKS vergisst in ihrem Buch zu erwähnen, dass Putin seinen eigenen russischen Bürgern diese Freiheit und diesen Frieden nicht gewährt. Warum sollen also die Ukrainer Putin vorziehen. Ihre Republik war auch korrupt, aber es ist ihre Republik und sie geben sich Mühe.
GKS leidet aber an einer „selektiven Wahrnehmung“. Sie nimmt nur noch das wahr, was sie wahrnehmen möchte und was in ihrer Interpretation der Geschichte passt. Sie beschwört den Leser, dass „verstehen nicht identisch ist mit Verständnis haben. Wer so vehement uneingeschränktes Verständnis und ebenso Unterstützung für die Ukraine äußert, hat die Ukraine gar nicht verstanden.“
Es mag also sein, dass ich die Ukrainer nicht verstanden habe und nicht verstehe, aber dennoch habe ich mich entschieden die Ukraine zu unterstützen, denn die Arroganz dieser Russland Versteherin und Unterstützerin geht mir gegen meine Überzeugung. Sie fragt gleich im ersten Satz ihres neuen Vorwortes, „wie ist es um die politische Kultur eines Landes bestellt, in der ein Begriff wie „Russlandverstehen“ zur Stigmatisierung und Ausgrenzung taugt? Muss man nicht erst einmal etwas verstehen, bevor man es beurteilen kann?“
Natürlich muss man erst verstehen, wobei ich vor „verstehen“ das Wort „zuhören“ setzen würde. Es geht aber nicht um „Verstehen“, denn eine mutwillige brutale und barbarische Zerstörung eines ganzen Landes kann man nicht verstehen. Was gibt es da zu verstehen? Wir sehen die Bilder, sind erschrocken und entsetzt, weinen mit um die unschuldigen Opfer und sollen die Täter verstehen? Würde GKS auch fordern, dass wir Hitler oder Himmler verstehen sollten? Was gibt es an Auschwitz zu verstehen? Da kann man sich noch so anstrengen, man kann es nicht verstehen, außer feststellen, dass da ein Volk, die Deutschen, in eine Barbarei gerutscht ist, die man nicht erklären kann.
Über die Nazibarbarei sind schon tausende Bücher geschrieben und die abenteuerlichsten Erklärungen erdacht worden und trotzdem bleibt es ein Trauma. Und so ist es und wird es auch werden mit der gegenwärtigen russischen Barbarei und Verlust sämtlicher zivilisatorischer Normen, Gesetze und Grenzen.
Russland führt einen unnötigen, absurden und völkerrechtswidrigen Krieg gegen eine zivile Bevölkerung, gegen alte Menschen, Frauen und Kinder. Russland zerstört die Infrastruktur der ukrainischen Zivilbevölkerung, bombardiert Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, Theater, Supermärkte und noch viel mehr. Selbst wenn alles stimmt, was GKS der NATO, der USA und nicht zuletzt auch Deutschland vorwirft, stellt sich mir die Frage, ob dieser brutale und barbarische Krieg gegen die Ukraine notwendig war. Es geht eben Russland nicht um eine stabile Sicherheitspolitik, wie die Autorin behauptet, sondern schlicht und einfach um imperiale Ambitionen. Und das ist nicht meine persönliche Meinung, sondern das, was Putin seit Jahren schreibt und sagt. Er möchte Russland wieder groß, den verlorenen Einfluss auf seine Nachbarn wieder gewinnen, bis zur deutschen Grenze, bis zurück zur Macht über Ostdeutschland, Polen und den baltischen Staaten.
Und selbst die Tatsache, dass Russland am 24. Februar 2022 den Krieg begonnen hat, relativiert GKS, indem sie Klaus von Dohnanyi zitiert, der gesagt hat, dass Russland zwar den Krieg begonnen, aber dass der Westen die Voraussetzungen dafür geschaffen habe. Das ist es, was ich meine: „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig“ Und wieso ist er schuldig? Weil er lebt und frei leben will.
Und sie zitiert auch Egon Bahr, der gesagt hat: „Sicherheit ohne Russland wird es auf unserem Kontinent nicht geben und Sicherheit gegen Russland schon gar nicht.“ Aber Sicherheit mit einem nationalistischen und aggressiven Russland offenbar auch nicht. Und auch nicht mit einem Russland, dass ähnlich wie Israel, dauernd und grundsätzlich davon ausgeht, dass die ganze Welt Russland vernichten möchte.
Seit 2014 tobt ein Krieg im Osten der Ukraine mit all dem Elend, dass wir jetzt überall in der Ukraine sehen. Zerstörte Wohnblocks, kaputte Infrastruktur, kein Wasser, Keine Heizung, tote und schwerverletzte Menschen, weinende Kinder und streuende Hunde. Und um zu suggerieren, dass die Ukrainer, womöglich der Jude Selenskji, daran schuld sind, versäumt GKS es nicht von einem Denkmal für Kinder zu schreiben, dass seit 2017 in Donezk steht, „auf dem fast 200 Namen stehen.“, die Opfer von „ukrainischen“ Bombardierungen geworden sind. Haben denn die russischen Separatisten nicht getötet? Gab es nur russische Opfer? So wird aber Geschichte interpretiert, wenn man nur sieht, was man sehen will.
Von den zigtausenden Toten, die die russischen Bombardements bisher verursacht haben und von zigtausenden Kindern, die ihren Familien entrissen und nach Russland entführt wurden, kein Wort. „Russland ist ein freundlich gesinntes europäisches Land“, zitiert sie Wladimir Putin und schreibt in ihrem neu verfassten Vorwort zur neuen Ausgabe von 2023, dass es in Russland keine Todesstrafe gibt: „In Russland gibt es im Gegensatz zu den USA, China und dem Iran zum Beispiel keine Todesurteile. Und zwar schon seit 1999.“ Dabei braucht Russland gar keine Todesstrafe. Die Regimegegner kommen auch so ums Leben. Dafür sorgt „Iwan der Schreckliche“ höchst persönlich. In Russland werden Regimegegner, Journalisten, unbequeme Oligarchen und zuletzt sogar ein Weltraumwissenschaftler, dessen Sonde am Mond zerschellt ist, nicht zu Tode verurteilt: sie werden vergiftet, erschossen oder landen im Auftrag von Putin lebenslänglich in Arbeitslager in Sibirien, wo sie wie Eintagsfliegen sterben. Und natürlich kein Wort von Navalny, den Putin vergiften wollte und der jetzt wohl so lange in einem Arbeitslager weilen wird, wie Putin noch lebt. Und natürlich kein Wort von Chodorowskji, den Putin jahrelang in einem Arbeitslager festhielt und ihn aus Russland verwies, nachdem er sein Vermögen gestohlen hat.
Und natürlich wiederholt sie die Kremllügen, dass es allein die Entscheidung Deutschlands gewesen ist auf russisches Gas zu verzichten. Sie schreibt: „Aus Solidarität mit der angegriffenen Ukraine und um – wie es hieß – nicht mit dazu beizutragen, die russische Kriegsmaschinerie zu finanzieren, hat Deutschland relativ frühzeitig angekündigt, auf russisches Gas und Öl verzichten zu wollen. Nichtdestotrotz hält sich in der Berichterstattung aber hartnäckig die Version, Russland habe Deutschland den Gashahn abgedreht.“ Ich kann mich aber erinnern, dass von „verzichten wollen“ damals keine Rede war. Eher von verzichten müssen, denn Putin hat schon begonnen die Gasmengen massiv zu reduzieren. Und GKS lässt nicht locker und schreibt als Antwort auf eine Börsensendung vom 3.7.2023, wonach der Krieg die Energiepreise verteuert hat: „Nein, unsere Entscheidung auf russisches Gas zu verzichten, hat die Energiepreise verteuert und nicht zuletzt auch die Sprengung von Nord Stream 1 und 2.“ So kann man auch Geschichte fälschen. Den Krieg ausblenden und dem Leser suggerieren, dass Nord Stream 1 und 2 noch Gas transportierten und weil sie gesprengt wurden, das Gas teurer wurde. In Wahrheit hat Russland schon lange kein Gas mehr geliefert als das geschah.
GKS kommt mir vor wie der vermeintliche russisch-schweizer Agent Jacques Baud, der in seinem ebenfalls im Westend Verlag erschienen Buch – PUTIN, Herr des Geschehens? – behauptet, dass Russland ein „wirtschaftsliberaler Staat“ sei. Dabei ist Russland so wirtschaftsliberal wie Nord-Korea und es mag sein und sieht sogar so aus, dass Putin in Russland Herr des Geschehens ist, nicht aber auf den Schlachtfeldern in der Ukraine. Er wollte Kiew in 4 Tagen erobern und die Ukraine von der Landkarte ausradieren. Das ist ihm nicht gelungen und wird Russland und Putin auch nicht mehr gelingen. Spätestens jetzt kommt mir der Verdacht, dass das neue Vorwort von Putins Experten geschrieben wurde. Ich würde mich auch nicht wundern, wenn Putins Propaganda solche Reinwaschungen fördert oder gar finanziert. Hauptsache Putin wird nicht nur sauber, sondern auch rein.
Bei GKS spürt man auch die anti-westliche, besonders anti-amerikanische Einstellung und ich frage mich warum. Natürlich muss man nicht mit der amerikanischen Politik einverstanden sein. Auch ich war auf unzähligen Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg, gegen Präsident Nixon und seinen Außenminister Kissinger. Aber ich habe nicht gegen Amerika demonstriert, wie ich auch heute nicht gegen Israel demonstriere, sondern immer gegen eine Politik und ihre Wirkung. Ich muss gestehen, dass ich Demonstrationen gegen den russischen Überfall vermisse. Stattdessen demonstrieren naive und leider auch dämliche Deutsche gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Ich habe nie etwas davon gehört, dass in den USA 1941 irgendjemand gegen Waffenlieferungen an die UdSSR protestiert hat.
Sie verheimlicht auch nicht ihre Antipathie gegenüber den ukrainischen Präsidenten, der zufällig auch Jude ist, und schon wenige Tage nach dem Überfall öffentlich äußerte, man könne sich einen neutralen Status der Ukraine vorstellen. Putin traut aber dem „ethnischen Juden“ Selenskji. Er behauptet dieser sei von den Westmächten „installiert“ worden, um von den Nazis, die dort die Politik lenken, abzulenken.
GKS fragt warum Selenskji erst 4 Tage nach Kriegsbeginn einen solchen Vorschlag macht. Warum fragt sie nicht Putin, weshalb er dieses Angebot nicht akzeptiert hat? Warum mutmaßt sie zynisch: Weil russische Truppen kurz vor Kiew standen? Und wenn schon? Natürlich weil russische Truppen kurz vor Kiew standen. Und das ist wohl auch der Grund, warum Putin nicht geantwortet hat. Und was tut Putin jetzt, wo ukrainische Truppen kurz vor der Krim stehen?
Und trotzdem versuch GKS Putin zu entlasten, ihn nicht nur sauber, sondern reinzuwaschen, wie schon Gerhard Schröder ihm bescheinigt hat ein „lupenreiner Demokrat“ zu sein. Sie ruft uns zur Erinnerung, dass kurz vor dem Überfall 60 000 bis 80 000 ukrainische Soldaten auf der Krim „standen“. Wo sollten sie sonst stehen? Schließlich gehörte die Krim den Ukrainern. Naiv und fast schon zynisch fragt sie: „Könnte die russische Strategie darauf aus gewesen sein, einen Angriff auf die östlichen Gebiete und die Krim vorzubereiten?“ Heute wissen wir, dass genau das die russische Strategie war.
2014 schrieb sie: „Wie wahrscheinlich ist es, dass Putin einen Eroberungsfeldzug durch die Ukraine antritt?“ Und sie antwortet gleich: „Da ist es doch sehr viel billiger eine Brücke zwischen russisches Festland und der Krim zu bauen.“
Die Brücke wurde gebaut und zum Feldzug ist es trotzdem gekommen, durch eine Fehlwahrnehmung von Putin. GKS meint allerdings, dass es eine Fehlwahrnehmung von Putins Absichten durch den Westen war. Wahrscheinlich sogar absichtlich. Aber was spielt das heute noch für eine Rolle. Russland bzw. Putin ist weit davon entfernt seine Ziele zu erreichen und nach den barbarischen Kriegsverbrechen in Butscha und anderswo ist ihm auch der Weg zurück in die europäische Völkergemeinschaft versperrt. So wie man einem Adolf Hitler nie verziehen hätte und man seinen inneren Kreis an Helfer und Mittäter vor Gericht gestellt hat, so muss man auch Putin und seine Helfer und Mittäter vor Gericht stellen. Bei einigen wird es nicht möglich sein, weil Putin für deren Beseitigung schon selbst gesorgt hat.
Und so wie man keine Politik aus Angst vor eine Atombombe machen kann und darf, so braucht man auch keine Angst zu haben, dass man keine Politik machen kann ohne Russland. Man konnte Politik machen auch ohne Deutschland und die Völkergemeinschaft hatte die Geduld zu warten, bis Deutschland sich vom Nazidreck halbwegs befreit hat. So müssen wir auch jetzt Russland bis zur bedingungslosen Kapitulation bekämpfen und dann wie ein Kind an der Hand nehmen und in die Demokratie führen, auch wenn es ein sehr mühsamer und Dornen reicher Weg sein wird.
Abraham Melzer, 06.09.2023