Warum Israel sich nicht ändern wird

Die Tage von Netanjahus konservativer Regierung sind nach dem 7. Oktober gezählt. Doch der Gaza-Krieg wird den Rechtsruck in Israel weiter verstärken.

Als die Hamas am 7. Oktober die israelischen Sperranlagen an der Grenze zum Gazastreifen durchbrach und ihr Massaker begann, kam beinahe sofort das Gefühl auf, Israel werde nie wieder dasselbe Land sein. Innerhalb weniger Stunden mussten die Israelis der Realität ins Auge sehen und erkennen, dass viele Grundannahmen der israelischen Palästina-Politik wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzten. 16 Jahre staatlicher Blockadepolitik gegenüber dem Gazastreifen hatten es nicht vermocht, den Israelis Sicherheit zu bringen.

Das Kalkül der Regierung, sie könne die Hamas zu einem pragmatischen Kurs anstiften, indem sie zuließ, dass Katar die Hamas finanziert, oder indem sie Menschen aus Gaza Arbeitserlaubnisse erteilte, ist nicht aufgegangen. Stattdessen ließ Israel sich durch dieses Kalkül zur Selbstgefälligkeit hinreißen. Dass die Bedrohung durch die Hamas sich mit Hilfe von High-Tech-Überwachung, unterirdischen Sperranlagen und des Raketenschutzschirms Iron Dome neutralisieren ließe, erwies sich als tödlicher Irrglaube.

Die Angriffe der Hamas haben auf grundsätzliche und grauenhafte Weise mit der Vorstellung aufgeräumt, die Palästinafrage lasse sich politisch unendlich vertagen, ohne dass Israel dafür einen Preis zu bezahlen hätte. Von dieser Vorstellung war die politische Führung in Israel so selbstverständlich ausgegangen, dass Kommentatoren sich eigene Vokabeln wie „Konfliktmanagement“ oder „Shrinking the conflict“ dafür ausdachten. Dementsprechend finden seit Jahren keine Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern über ein endgültiges Friedensabkommen mehr statt, obwohl Israel sich zeitgleich um die Normalisierung seiner Beziehungen zu immer mehr arabischen Staaten bemüht. Mehr als 20 Jahre lang hatten die rechten Parteien, die Israels politische Landschaft dominieren, den Wählerinnen und Wählern versprochen, diese Politik beschere dem Land mehr Sicherheit als jede andere – und die Mehrheit der Wählerschaft glaubte an dieses Versprechen. Der Angriff der Hamas am 7. Oktober brachte den Status quo nun zum Einsturz.

Unter einem wesentlichen Aspekt bleibt in Israel dennoch alles beim Alten. Zwar kreiden die Israelis ihrer politischen Führung das katastrophale Sicherheitsversagen im Zusammenhang mit den Hamas-Angriffen an, aber dass sich an ihrer politischen Grundausrichtung etwas ändert, ist unwahrscheinlich. Es ist gut möglich, dass Premierminister Benjamin Netanjahu nach Kriegsende nichts anderes als der Rücktritt übrigbleiben wird – vielleicht sogar schon eher, denn einen klar definierten Endpunkt hat der Krieg nicht.

In den Wochen seit dem Angriff wurde bereits bei mehreren Demonstrationen Netanjahus Rücktritt gefordert.

Israels Geschichte hat jedoch gerade in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gezeigt, dass das Land nach Phasen von Krieg oder extremer Gewalt wie der jetzigen politisch noch stärker nach rechts rückt. Wenn dieses Muster auch jetzt wieder greift, kann es gut sein, dass die Israelis eine neue Regierung wählen und trotzdem an genau jenen irrigen Annahmen festhalten, die für das Abdriften nach rechts maßgeblich waren und die jetzige Krise mitprägen.

Dass viele Israelis das desaströse Sicherheitsversagen ihres Landes Netanjahu persönlich anlasten, weil er an der Spitze steht, ist nicht verwunderlich. Erstaunlicher ist, dass sie ihren Protest mitten in einem Krieg artikulieren, der schwieriger zu führen ist als die meisten anderen Kriege, die Israel in den vergangenen Jahrzehnten ausgefochten hat. In den Wochen seit dem Angriff wurde bereits bei mehreren Demonstrationen Netanjahus Rücktritt gefordert. Dieser Forderung schloss Oppositionsführer Jair Lapid sich ebenso an wie einige Familien, deren Angehörige von der Hamas ermordet oder entführt wurden. Zahlreichen Umfragen zufolge hätte Netanjahu mit einer krachenden Niederlage zu rechnen, wenn jetzt gewählt würde.

Sogar laut einer Umfrage, die am 22. und 23. November unmittelbar nach Bekanntgabe der Einigung auf eine Geiselbefreiung durchgeführt hatte, würde die Regierungskoalition 23 ihrer 64 Sitze einbüßen (insgesamt gibt es in der Knesset 120 Sitze), obwohl durchaus zu erwarten gewesen wäre, dass die erwirkte Geiselbefreiung die Position der Regierung deutlich stärkt. Auch der Rückhalt für Netanjahus eigene Partei schwindet dramatisch: Wenn jetzt Wahlen stattfänden, würde die Likud-Partei fast die Hälfte ihrer 32 Knesset-Sitze verlieren. Der frappierendste Aspekt ist wohl, dass mehr als drei Viertel aller Israelis der Meinung sind, Netanjahu solle nach dem Krieg oder auch schon während des Krieges zurücktreten.

Diese Zahlen stehen in krassem Kontrast zu der Erfahrung, dass die meisten Staats- und Regierungschefs von einer riesigen Welle der Unterstützung getragen werden, wenn ihr Land angegriffen wird oder Krieg führt. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 scharten die Amerikanerinnen und Amerikaner sich schlagartig hinter US-PräsidentGeorge W. Bush. Während des Golfkriegs 1990/91 und während des 2003 begonnenen Irakkriegs verzeichneten die Zustimmungswerte der US-Führung zweistellige Zuwachsraten. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erlebte 2022, nachdem Russland in sein Land einmarschiert war, einen überwältigenden Popularitätsschub.

Netanjahus im Dezember 2022 geschmiedete Rechtsaußen-Koalition wurde schon lange vor dem Angriff der Hamas breit und heftig kritisiert. Fast das ganze Jahr über gingen Israelis massenhaft auf die Straße und protestierten gegen die höchst umstrittenen Pläne der Regierung für eine Justizreform. Es war die längste Protestwelle in der Geschichte Israels; der 7. Oktober hätte die 40. Protestwoche eingeläutet. Schon im April hielten nur noch 37 Prozent der Israelis zu ihrem Premierminister; nach dem Angriff der Hamas ist diese Zahl auf 26 Prozent abgestürzt. Mitte November favorisierten doppelt so viele Israelis – 52 Prozent – Netanjahus wichtigsten politischen Widersacher Benny Gantz, der früher Generalstabschef war und dem von Netanjahu als Notstandsregierung gebildeten Kriegskabinett angehört.

Aufgrund der gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfe steht Netanjahu zusätzlich unter Druck. Angesichts der gegen ihn anhängigen Korruptionsverfahren, der unter seiner Regie erfolgten Sicherheitspannen und des laufenden Krieges wird es für ihn schwierig oder ganz unmöglich werden, sich im Amt zu halten. Doch die grundsätzlichere Frage bleibt: Würde sich durch sein Ausscheiden an Israels politischer Grundausrichtung etwas fundamental ändern?

Trotz der breiten Empörung über die Regierung Netanjahu wegen der geplanten Justizreform ordnet die Mehrheit der jüdischen Wählerschaft sich in Umfragen politisch rechts ein. Nur fünf Tage vor dem Angriff der Hamas ergab eine Erhebung der sozialpsychologischen Forschungsstelle aChord, die an die Hebräische Universität angegliedert ist, dass zwei Drittel der jüdischen Israelis sich dem rechten Spektrum zuordnen (entweder „stramm rechts“ oder „gemäßigt rechts“), während zehn Prozent sich als links bezeichneten. Auf jeden jüdischen Israeli, der für eine linke Partei stimmt, kommen also der Tendenz nach beinahe sieben rechte Wähler. Allein schon angesichts dieser Zahlen wäre es erstaunlich, wenn die israelische Bevölkerung unter dem Eindruck des schlimmsten Gewaltausbruchs gegen Israelis seit Gründung ihres Staates nicht noch weiter nach rechts rücken würden.

Obwohl die Bevölkerung mit Netanjahus Regierung enorm unzufrieden ist, wird die Sorge vor politischer Instabilität es ihm wohl ermöglichen, an der Macht zu bleiben, solange der jetzige Krieg andauert. Auch in diesem Krieg kann noch vieles geschehen – und in welche Richtung die Wählergunst sich neigt, hängt möglicherweise auch davon ab, wie viel Zeit bis zur nächsten Wahl vergeht. Doch wenn Netanjahu am Ende aus dem Amt gedrängt wird, ist keineswegs ausgemacht, dass Israel danach ideologisch einen anderen Weg einschlägt.

Es war die längste Protestwelle in der Geschichte Israels.

Laut aktuellen Umfragen wenden die Wählerinnen und Wähler sich scharenweise Gantz’ Mitte-rechts-Partei „Nationale Einheit“ zu. Würde jetzt neu gewählt, käme die Partei von Benny Gantz nach einer am 24. November veröffentlichten Erhebung auf 43 Sitze – 11 Sitze mehr als die Likud-Partei bei den Wahlen 2022 und deutlich mehr als doppelt so viele Sitze, wie die Likud-Partei derzeit zu erwarten hätte. Ob es bei diesen Zahlen bleibt oder ob sie vielleicht sogar auf eine grundsätzlichere Verlagerung hin zur Mitte schließen lassen, weiß zum jetzigen Zeitpunkt niemand.

Da alle Rechtsaußen-Parteien des Landes der höchst unbeliebten Regierungskoalition angehören, bleibt außerdem abzuwarten, ob die Wählerinnen und Wähler, die sich über Netanjahus ursprüngliches Kabinett ärgern, automatisch ihr Kreuz bei der Partei „Nationale Einheit“ machen, die in seinem Kriegskabinett mit am Tisch sitzt. Im Augenblick profitiert Gantz dank seines hohen militärischen Renommees offenbar auch vom „Rally around the flag“-Effekt, der sich in Kriegszeiten einstellt.

Doch wenn die Israelis über Netanjahu verärgert sind und höchstwahrscheinlich nach rechts rücken – warum halten sie sich dann nicht an die Rechtsaußen-Parteien in der Koalition? Bislang zeigen sich in den Umfragen keine Stimmenzuwächse für die ultranationalistische Otzma Jehudit („Jüdische Stärke“) und für religiös-zionistische Parteien. Paradoxerweise könnten gerade Netanjahus extremistisches Programm, sein Angriff auf die demokratischen Institutionen und die katastrophal schlechte Regierungsführung im Vorfeld des Krieges das Wahlvolk davon abhalten, reflexhaft in eine noch stärker theokratische, antidemokratische und unverbesserlich rechte Ecke zu rücken.

Einer der größten Fehler Netanjahus war, dass er die Palästinafrage ausschließlich als Sicherheitsfrage betrachtete.

Eine naheliegende Reaktion auf die aktuelle Krise wäre ein Wechsel zu einer von Benny Gantz angeführten neuen Regierung. Gantz würde wahrscheinlich von Netanjahus permanenter populistischer Spaltungspolitik abrücken und im Unterschied zu ihm vermutlich keine Korruptionsskandale auslösen. Erst recht würde er wohl den messianischen Drang seines Vorgängers und seiner Regierung vermeiden, den Siedlungsbau voranzutreiben oder die Annexion formell festzuschreiben. Zugleich genießt Gantz, weil er auf eine lange militärische Laufbahn zurückblickt und weil seiner Partei auch ehemalige Likud-Mitglieder beigetreten sind, eine hohe Legitimität im rechten Lager, die er sich wird bewahren wollen.

Zudem liefert die Rhetorik von Gantz wenige Anhaltspunkte dafür, dass er mit dem Palästinaproblem wesentlich anders umgehen würde, als es die Rechte bisher getan hat. Weder als Kandidat noch als Mitglied des Kriegskabinetts hat Gantz sich offen für eine Zweistaatenlösung oder irgendeine andere politische Lösung der Palästinafrage ausgesprochen. Noch im vergangenen Jahr erteilte er dem Gedanken an „zwei Staaten für zwei Völker“ eine Absage: „Ich bin dagegen.“

Einer der größten Fehler Netanjahus war, dass er die Palästinafrage ausschließlich als Sicherheitsfrage betrachtete, als könnte man die politischen Hintergründe des Konflikts ignorieren. Dadurch entstand überhaupt die Schwachstelle, die es der Hamas erleichterte, dermaßen tödlich zuzuschlagen. Wahrscheinlich sieht Gantz als Mann der Armee die Palästina-Problematik mit ganz ähnlichen Augen – als Sicherheitsbedrohung, die es einzudämmen gilt und bei der es nicht um die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser geht. Wenn sich das bewahrheitet, dürfte der 7. Oktober bei allem Horror, den er bedeutet, dazu führen, dass es weitergeht wie gehabt – und Not und Elend auf beiden Seiten auch in Zukunft ihre Kreise ziehen.

Gekürzte Fassung des Beitrags „Why Israel Won’t Change“. © Foreign Affairs.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Ein paar Worte zum Krieg in Gaza

Während die israelische Regierung der Meinung ist, kriegsrechtskonform zu kämpfen, beantragt die südafrikanische Regierung den Erlass eines Haftbefehls gegen Ministerpräsident Netanjahu beim Internationalen Strafgerichtshof wegen Kriegsverbrechen. Erlassen wurde ein entsprechender Haftbefehl gegen Präsident Putin, was aber nichts daran ändert, dass dieser seinen Aggressionskrieg gegen die Ukraine fortsetzen kann. Das zeigt, dass das Recht in den Bereich der Propaganda eingegangen ist. Zwar gibt es genug Vorschriften, die ein Kombattant verletzen kann, aber die meisten sind Theorie. Cäsar ließ Vercingetorix köpfen, andere Besiegte wurden grausam verstümmelt wie Crassus, Rabbi Akiba oder Kaiser Mauritius, heute werden sie „abgeurteilt“. So geschah es schon nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, der dem Vater aller Volkskriege. Die französischen Revolutionäre brachten nur die eigenen Verlierer auf die Guillotine.
Als Legitimation hat man die Haager und die Genfer Konventionen und ein Völkerstrafrecht; präzedentiell hat man, wenn man von den amerikanischen Urteilen nach dem „civil war“ absieht, die noch den Charakter hatten, „Rebellen“ zu strafen, ein paar Urteile des Reichsgerichts in Leipzig, das ein einige Kriegsverbrecher des Ersten Weltkriegs verurteilte. Bekannter sind die Urteile des Strafgerichtshof in Nürnberg, der neben den so genannten Hauptkriegsverbrechern auch noch eine Reihe von Nachfolgeprozessen durchführte. Neuere Urteile verkündete der internationale Strafgerichtshof in Den Haag zu Verbrechen in Bosnien und Ruanda. Kriegsverbrecher sind in erster Linie Militärs. Das Leipziger Gericht verurteilte in seinem ersten Verfahren ein paar deutsche Soldaten, die während des Vormarsches durch Belgien 1914 ganz banal als Räuber auf eigene Rechnung gehandelt hatten. Schwieriger wäre eine Urteilsfindung gewesen, wenn die Soldaten ihre Räubereien auf Weisung eines Kommandeurs begangen hätten.
Dies liegt, vereinfacht gesagt, darin begründet, dass, wie Kurt Tucholsky es formulierte, Soldaten schlechthin Mörder seien. Seit der Regierung von Helmut Kohl gilt schon dieser Satz als Straftat, denn er beleidige jeden Soldaten, dessen Aufgabe es ist, nicht zu morden, sondern Feinde zu töten. Damit sind wir bereits im Propagandawesen. Man redet daher auch nicht mehr vom Töten, das zur untersten Ebene des Kriegswesens gehört (Carl v. Clausewitz), sondern wählt ein Vokabular der höheren Ebenen operativer und strategischer Schicht und sprich davon, Feinde auszuschalten, zu neutralisieren, unschädlich zu machen usw.; für das praktische Abmurksen, kalt machen und abwürgen ist der einfache Soldat zuständig, der die Drecksarbeit macht. Aber wie dreckig darf diese sein? Und wie dreckig muss diese werden, dass das Blut bis auf die Befehlshaber der höheren Ebenen hinaufspritzt?
Sahra Wagenknecht kritisierte (26.11.23) die israelische Kriegsführung als „rücksichtslos“; wie immer eine rücksichtsvolle Kriegsführung ausschauen müsste, lässt sie offen; es fragt sich, auf wen eine Kriegsführung überhaupt Rücksicht nehmen könnte. Theoretisch ist auf Zivilisten Rücksicht zu nehmen, aber diese dürfen den Operationen des Militärs nicht im Weg stehen. Jörg Friedrich (in: Das Gesetz des Krieges) weist an vielen Beispielen nach, dass Zivilisten den Militärs immer im Weg stehen. So z. B. auch den eigenen Truppen, die in einer Festung eingeschlossen sind. Der Feind muss diese nicht abziehen lassen, weil solchenfalls sich das Aushungern für die Belagerer in die Länge ziehen könnte. Krieg geht also an einer Zivilbevölkerung prinzipiell nicht vorbei.

Die Haager Landkriegsordnung von 1909 war schon überholt, als sie formuliert wurde. Gedanklich ging sie von den Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts aus. Ein Fürst dieses Jahrhunderts stritt sich mit einem anderen Souverän, wem das Erbe eines ausgestorbenen Fürstengeschlechts aufgrund welcher dynastischen Verbindungen zustehe. Beide wollten die zu erobernde Provinz gleichermaßen unzerstört übernehmen. Das war im 19. Jahrhundert bereits anders geworden; William Tecumseh Sherman, der im amerikanischen Bürgerkrieg das Shenandoah-Tal verwüstet hatte, kritisierte die preußischen Truppen 1870 in dem Sinn, dass sie nicht begriffen hätten, gegen ein feindliches Volk Krieg zu führen. Er meinte, sie hätten mit ihren Kanonen wesentlich rücksichtsloser auf die Dörfer und Städte feuern sollen. Und tatsächlich dürfte es auch so sein. Wenn man von expeditionellen Feldzügen absieht, wie etwa dem Krimkrieg, dann kämpfen ganze Völker gegeneinander; so hat Casimir Hermann Baer seine Enzyklopädie mit „Der Völkerkrieg“ schon 1914 betitelt. Die Völker kämpfen bis zur Erschöpfung gegeneinander; dies hat der Zweite Weltkrieg „gegen Hitler“ besonders deutlich demonstriert. Es wird so lange gekämpft, bis entweder ein Volk aufsteht (wegen Hungers 1918) oder eben nichts mehr zu verteidigen hat (wie 1945).

In Gaza kämpft „Israel“ gegen ein feindliches Volk. Nach Jörg Friedrichs Gesetz des Krieges kann es keine Rücksicht auf Zivilisten geben, solange gekämpft wird. Deswegen kann die israelische Armee auch die Zivilbevölkerung Gazas in Mitleidenschaft ziehen. Sie hätten sich gegen ihre gewalttätigen Mitbürger früher empören müssen, sich über den Feind zu empören wäre verspätet. Wenn also einzelne israelische Soldaten nicht fremde Wohnungen plündern (wie es von 1948 erzählt wird) oder, wenn nicht gezielt auf Personal des Roten Halbmonds geschossen wird, oder wenn Verwundete nicht abgeschlachtet werden, weil man „keine Gefangenen machen“ will, ist so ziemlich alles legitim, was militärisch geeignet ist, den Gegner in die Knie zu zwingen. In Bezug auf die IDF muss man sogar anerkennen, dass sie sich komplizierte Mörser ausgedacht hat, verschanzte Feinde zielgenau zu treffen. Auch die israelischen Luftschläge sind von erstaunlicher Präzision. A priori kämpfen die israelischen Verbände also „korrekt“.

Man darf auch als unwahrscheinlich abhaken, dass sich einzelne IDF-Soldaten als Räuber betätigen. Dies ist schon deswegen unwahrscheinlich, weil die arme Gaza-Bevölkerung kaum etwas besitzt, oder die Luftschläge übrig gelassen hätten, was für einen IDF-Soldaten mehr als Plunder wäre. Die sowjetischen Soldaten dagegen, die 1945 nach Deutschland eindrangen, stahlen wie die Raben „uri uri“ (an jeder Hand eine). Die ukrainische Führung will dagegen einzelne russische Soldaten drankriegen, die vor intakten Überwachungskameras unbewaffnete Zivilisten abseits von Kampfhandlungen erschossen haben. Von solchen Umständen ist in Gaza nichts bekannt. In der Logik kann daher ein Verbrechen des Krieges nur vom Höchstverantwortlichen begangen worden sein, den Krieg überhaupt zu führen.

Ministerpräsident Netanjahu ist kein Jurist; sein Fehler besteht allein in einer fehlerhaften Diktion. Er verkennt – wie viele im Westen – dass man in der Dritten Welt vieles anders versteht.; es wäre dann ein Propagandafehler, der natürlich kein Kriegsverbrechen ist. Wenn nämlich die Geiselnahme vom 7.10.23 ein Akt von Terroristen gewesen ist, dann hätte er die gewünschten Gefangenen aus israelischen Gefängnissen im Austausch freilassen müssen, und hätte seinen Krieg erst dann beginnen können, wenn „Gaza“, bzw. die Hamas die Täter des Massakers an echten Zivilisten nicht ausgeliefert hätten. Wenn er dies verkennt, dann beginnen einige die Terroropfer zu zählen und setzen sie in mathematische Relation zu den Opfern des Gegenschlags. Das Zahlenverhältnis wird dann zu einem Maßstab. Das ist der Fehler, den „Bibi“ entstehen lässt. Er hat also im Widerspruch zu einer kriegsvermeidenden Vorgehensweise sich gleich zum „Schlag gegen die Hamas“ entschieden, offensichtlich ganz im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung. Damit wird aber auch das Massaker vom 7.10.23 zu einer grausam legitimen Kriegshandlung in der Logik von Menschen, die noch ein Wissen um die kolonialen Methoden der europäischen Mächte haben.

Ein Irrsinn besonderer Art besteht darin, dass die Entscheidung zum Krieg nicht von höchster Hamas-Ebene (politische Ebene nach v. Clausewitz) aus getroffen wurde, sondern ganz unten auf taktischer Ebene: ein paar „Terroristen“ (türkisch: Freiheitskämpfer) hatten von dem Festival erfahren und sich entschlossen, dort auch noch Geiseln zu nehmen. Für die klassische Geiselnahme fehlte es bereits am Überraschungsmoment, und so kam es zu Massakern. Ein paar „Freiheitskämpfer“ der untersten Ebene haben also namens eines ganzen Volkes einem anderen den Krieg erklärt.

Hier offenbart sich der Irrsinn des Konflikts: er wird abseits aller staatlichen Ordnung fortgeführt wie ein Bürgerkrieg, nur zwischen zwei feindlichen Völkern. Von Recht oder Rücksicht zu sprechen, wäre also so oder so absurd. Hier gilt eher Martins Luthers Wort zum Bauernkrieg: Steche, haue drauf und würge hin, wer kann.
Vielleicht gelingt es außenstehenden Mächten, diesem humanitären Irrsinn Einhalt zu gebieten.

von Lobenstein

Menschenwürde für alle: Eine Antwort auf „Grundsätze der Solidarität. Eine Stellungnahme“

Menschenwürde für alle: Eine Antwort auf „Grundsätze der Solidarität. Eine Stellungnahme“
Wir, die Unterzeichnenden, sind zutiefst besorgt über die Erklärung „Grundsätze der Solidarität“, die am 13. November 2023 auf der Website der Forschungsstelle Normative Ordnungen der Goethe-Universität Frankfurt veröffentlicht wurde und von Nicole Deitelhoff, Rainer Forst, Klaus Günther und Jürgen Habermas unterzeichnet ist.
Wir schließen uns den Verfassern an und verurteilen die Ermordung und Geiselnahme israelischer Zivilisten durch die Hamas am 7. Oktober 2023 und stimmen voll und ganz mit der Notwendigkeit überein, jüdisches Leben in Deutschland angesichts des zunehmenden Antisemitismus zu schützen. Wir stimmen auch damit überein, dass die Erklärung diese Positionen mit der Achtung der Menschenwürde aller Menschen als zentralem Bestandteil des „demokratischen Ethos der Bundesrepublik Deutschland“ begründet.
Wir sind jedoch tief beunruhigt über die offensichtlichen Grenzen der von den Verfassern zum Ausdruck gebrachten Solidarität. Die Sorge um die Menschenwürde wird in der Erklärung nicht angemessen auf die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza ausgedehnt, die mit Tod und Zerstörung konfrontiert ist. Sie wird auch nicht auf die Muslime in Deutschland angewandt oder ausgedehnt, die eine zunehmende Islamophobie erleben. Solidarität bedeutet, dass das Prinzip der Menschenwürde für alle Menschen gelten muss. Dies erfordert, dass wir das Leiden aller von einem bewaffneten Konflikt Betroffenen anerkennen und angehen.
In der Erklärung heißt es, dass „die Maßstäbe der Beurteilung völlig entgleiten, wenn den Handlungen Israels völkermörderische Absichten unterstellt werden“. Unter Völkermordforschern und Rechtsexperten wird derzeit diskutiert, ob der rechtliche Standard für Völkermord erfüllt ist. Menschenrechtsgruppen haben vor dem Internationalen Strafgerichtshof und einem Bundesgericht in den USA Klage wegen Völkermordes eingereicht. Omer Bartov, Professor für Holocaust- und Völkermordstudien an der Brown University, hat uns kürzlich daran erinnert: „Wir wissen aus der Geschichte, dass es wichtig ist, vor einem möglichen Völkermord zu warnen, bevor er stattfindet, anstatt ihn erst zu verurteilen, wenn er bereits stattgefunden hat. Ich denke, dass wir diese Zeit noch haben.“ Solidarität zu zeigen und die Menschenwürde zu achten bedeutet, dass wir diese Warnung beherzigen und den Raum für Diskussionen und Überlegungen über die Möglichkeit eines Völkermordes nicht schließen dürfen. Nicht alle Unterzeichner sind der Meinung, dass die rechtlichen Voraussetzungen für einen Völkermord erfüllt sind, dennoch sind sich alle einig, dass dies eine Frage legitimer Debatten ist.
In der Erklärung werden drei „Leitprinzipien“ für militärische Maßnahmen genannt: „Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, die Vermeidung von Opfern unter der Zivilbevölkerung und die Führung eines Krieges mit der Aussicht auf einen künftigen Frieden“. Wir sind besorgt darüber, dass die Einhaltung des Völkerrechts, das auch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie kollektive Bestrafung, Verfolgung und die Zerstörung von ziviler Infrastruktur, einschließlich Schulen, Krankenhäusern und Gebetsstätten, verbietet, nicht erwähnt wird. Da wir uns von den Grundsätzen der internationalen Rechtsnormen, der Solidarität und der Menschenwürde leiten lassen, sind wir gezwungen, alle Konfliktbeteiligten an diesen höheren Standard zu binden.
Wir dürfen nicht zulassen, dass die Gräueltaten uns dazu zwingen, diese Grundsätze aufzugeben.

Unterzeichnerliste:
1. Adam Tooze (Professor of History, Columbia University)
2. Samuel Moyn (Professor, Yale University)
3. Amia Srinivasan (Professor of Social and Political Theory, University of Oxford)
4. Nancy Fraser (Professor of Political and Social Science, New School for Social Research)
5. Jay Bernstein (Professor of Philosophy, New School for Social Research)
6. Alice Crary (Professor of Philosophy, New School for Social Reserach)
7. Juliane Rebentisch (Universität Offenbach/University of Princeton)
8. Chandra Talpade Mohanti (Distinguished Professor, Syracuse University)
9. Diedrich Diederichsen (Professor for Theory of Contemporary Art, Academy of Fine Arts, Vienna)
10. Beate Roessler (Professor of Philosophy, University of Amsterdam)
11. Dirk Moses (Spitzer Professor of International Relations, City College of New York)
12. Quinn Slobodian (Professor of History, Wellesley College)
13. Michael Hardt (Professor, Duke)
14. Franco Bifo Berardi (Philosopher, Napoli)
15. Frederick Neuhouser (Professor of Philosophy, Columbia University)
16. Linda Zerilli (Charles E. Merriam Distinguished Service Professor of Political Science University of Chicago)
17. Paul Preciado (Philosopher, Paris)
18. Dr Scilla Elworthy (Founder, The Business Plan for Peace)
19. Rosalind Morris (Professor of Anthropology, Columbia University)
20. Albena Azmanova (Professor, University of Kent)
21. W. J. T. Mitchell (Professor, University of Chicago)
22. Daniel Loick (Associate Professor of Political and Social Philosophy, Universität Amsterdam)
23. Steven Klein (Senior Lecturer in Political Theory, King’s College London)
24. Robin Celikates (Professor of Philosophy, Freie Universität Berlin
25. Esra Özyürek (Professor, University of Cambridge)
26. Jeanne Morefield (Associate Professor of Political Theory, University of Oxford)
27. Katrin Flikschuh (Professor, London School of Economics and Political Science)
28. Melissa Williams (Professor of Political Science, University of Toronto)
29. Fumi Okiji (Assistant Professor, UC Berkeley)
30. Bruno Leipold (Fellow, The New Institute)
31. Anselm Franke (Professor, University of the Arts Zurich)
32. Tobias Müller (Fellow, The New Institute)
33. Akwugo Emejulu (Professor, University of Warwick)
34. Eva von Redecker (Berlin)
35. Maeve McKeown (Assistant Professor of Political Theory, University of Groningen)
36. William Clare Roberts (Associate Professor of Political Science , McGill University)
37. Henrike Kohpeiß (Postdoc, Free University, Berlin)
38. Matthias Lievens (Assistant Professor, Institute of Philosophy, KU Leuven)
39. John Smith (Professor Emeritus of Fine Art, University of East London)
40. Oreet Ashery (Artist)
41. Mason Leaver-Yap (Postgraduate Studies, Glasgow School of Art)
42. Eyal Weizman (Professor)
43. Angela Dimitrakaki (Art historian and novelist)
44. Yaiza Hernández Velázquez (Lecturer, Goldsmiths, University of London)
45. Marina Vishmidt (Professor of Art Theory, University of Applied Arts, Vienna)
46. Cecile Malaspina (Directrice de programme, College international de philosophie, France)
47. Gabriëlle Schleijpen (Artistic director | head of program DAI Roaming Academy)
48. Larne Abse Gogarty (Head of History and Theory of Art, Slade School of Fine Art, UCL)
49. Peter Osborne (Professor of Modern European Philosophy, Kingston University London)
50. Mirjam Müller (Jun.- Professor of Feminist Philosophy, Humboldt University of Berlin
51. Charles Esche (Professor, University of the Arts, London)
52. Nikhil Pal Singh (Professor of Social and Cultural Analysis and History, Chair of the Department of Social and Cultural Analysis, New York University)
53. Marion Detjen (Bard College Berlin)
54. Sultan Doughan (Lecturer, Goldsmiths)
55. Claire Bishop (Professor, CUNY Graduate Center)
56. David Lloyd (Distinguished Professor of English , University of California, Riverside)
57. Alice von Bieberstein (Humboldt Universität zu Berlin)
58. Paul Apostolidis (Professor, LSE)
59. Aurelia Kalisky (Berlin)
60. Maurizio Lazzarato (Philosopher, Paris)
61. Alberto Toscano (Professor of Critical Theory, Goldsmiths, University of London / Simon Fraser University)
62. Ana Teixeira Pinto (Professor HBK/Dutch Art Institute)
63. William Callison (Postdoc, Uppsala University)
64. Nadim Khoury (Associate Professor, Inland Norway University of Applied Science)
65. Natasha Lennard (Associate Director Critical Journalism, The New School, New York)
66. Zeynep Gambetti (Associate Professor, Istanbul)
67. Volkan Çidam (Assist. Prof, Boğaziçi University, İstanbul)
68. Jacob Blumenfeld (Fellow, Centre for Social Critique, HU Berlin)
69. Anya Topolski (Associate Professor in Political Philosophy, Radboud University)
70. Antke Engel (Institute for Queer Theory, Berlin)
71. Thomas Locher (Artist)
72. Denise Ferreira da Silva (Professor, University of British Columbia)
73. Paula Chakravarttu (James Weldon Johnson Associate Professor of Media Studies, New York University)
74. Alexi Kukuljevic (Assistant Professor, University of Applied Arts Vienna)
75. Giovanna Zapperi (Professor, University of Geneva)
76. Manuela Bojadžijev (Professor, Humboldt-University)
77. Frieder Vogelmann (Professor for Epistemology and Theory of Science, University of Freiburg)
78. James Cochrane (Emeritus Professor, University of Cape Town)
79. Enzo Rossi (Associate Professor of Political Science, University of Amsterdam)
80. Siddharth Soni (Research Fellow, University of Cambridge)
81. Franz Knappik (Professor of Philosophy, University of Bergen)
82. Daniel James (Postdoc, Technische Universität Dresden)
83. Eyja Brynjarsdottir (Professor of Philosophy, University of Iceland)
84. Hanna Meißner (Professor, Technische Universität Berlin)
85. Su Ming Khoo (Associate Professor, University of Galway)
86. Timothy Waligore (Associate Professor Political Science, Pace University)
87. David Welch (Professor of Political Science, University of Waterloo)
88. Alison M Jaggar (Emerita Professor of Distinction, University of Colorado Boulder)
89. Giovanni Mascaretti (Postdoc, University of Bergamo)
90. Peter J. Verovšek (Assistant Professor, History and Theory of European Integration, University of Groningen)
91. Erin R. Pineda (Phyllis C. Rappaport ’68 New Century Term Assistant Professor of Government, Smith College)
92. Amy Reed-Sandoval (Associate Professor, University of Nevada, Las Vegas)
93. John Pringle (Independent Researcher)
94. Assel Tutumlu (Associate Professor in Political Science, Near East University)
95. Alasia Nuti (Senior Lecturer in Political Theory, University of York)
96. Tirdad Zolghadr (Guest professor, University of the Arts Berlin)
97. Mathelinda Nabugodi (Lecturer, University College London)
98. Doriane Zerka (Assistant Professor, University of Cambridge)
99. Sina Kramer (Associate Professor of Women’s and Gender Studies, Loyola Marymount University)
100. Chady Seubert (Actress)
101. Diana Abbani (Researcher, Forum Transregionale Studien)
102. Eddie Bruce-Jones (Professor of Law, SOAS, University of London)

Menschenwürde für alle: Eine Antwort auf „Grundsätze der Solidarität. Eine Stellungnahme“

Wir, die Unterzeichnenden, sind zutiefst besorgt über die Erklärung „Grundsätze der Solidarität“, die am 13. November 2023 auf der Website der Forschungsstelle Normative Ordnungen der Goethe-Universität Frankfurt veröffentlicht wurde und von Nicole Deitelhoff, Rainer Forst, Klaus Günther und Jürgen Habermas unterzeichnet ist.

Wir schließen uns den Verfassern an und verurteilen die Ermordung und Geiselnahme israelischer Zivilisten durch die Hamas am 7. Oktober 2023 und stimmen voll und ganz mit der Notwendigkeit überein, jüdisches Leben in Deutschland angesichts des zunehmenden Antisemitismus zu schützen. Wir stimmen auch damit überein, dass die Erklärung diese Positionen mit der Achtung der Menschenwürde aller Menschen als zentralem Bestandteil des „demokratischen Ethos der Bundesrepublik Deutschland“ begründet.

Wir sind jedoch tief beunruhigt über die offensichtlichen Grenzen der von den Verfassern zum Ausdruck gebrachten Solidarität. Die Sorge um die Menschenwürde wird in der Erklärung nicht angemessen auf die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza ausgedehnt, die mit Tod und Zerstörung konfrontiert ist. Sie wird auch nicht auf die Muslime in Deutschland angewandt oder ausgedehnt, die eine zunehmende Islamophobie erleben. Solidarität bedeutet, dass das Prinzip der Menschenwürde für alle Menschen gelten muss. Dies erfordert, dass wir das Leiden aller von einem bewaffneten Konflikt Betroffenen anerkennen und angehen.

In der Erklärung heißt es, dass „die Maßstäbe der Beurteilung völlig entgleiten, wenn den Handlungen Israels völkermörderische Absichten unterstellt werden“. Unter Völkermordforschern und Rechtsexperten wird derzeit diskutiert, ob der rechtliche Standard für Völkermord erfüllt ist. Menschenrechtsgruppen haben vor dem Internationalen Strafgerichtshof und einem Bundesgericht in den USA Klage wegen Völkermordes eingereicht. Omer Bartov, Professor für Holocaust- und Völkermordstudien an der Brown University, hat uns kürzlich daran erinnert: „Wir wissen aus der Geschichte, dass es wichtig ist, vor einem möglichen Völkermord zu warnen, bevor er stattfindet, anstatt ihn erst zu verurteilen, wenn er bereits stattgefunden hat. Ich denke, dass wir diese Zeit noch haben.“ Solidarität zu zeigen und die Menschenwürde zu achten bedeutet, dass wir diese Warnung beherzigen und den Raum für Diskussionen und Überlegungen über die Möglichkeit eines Völkermordes nicht schließen dürfen. Nicht alle Unterzeichner sind der Meinung, dass die rechtlichen Voraussetzungen für einen Völkermord erfüllt sind, dennoch sind sich alle einig, dass dies eine Frage legitimer Debatten ist.

In der Erklärung werden drei „Leitprinzipien“ für militärische Maßnahmen genannt: „Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, die Vermeidung von Opfern unter der Zivilbevölkerung und die Führung eines Krieges mit der Aussicht auf einen künftigen Frieden“. Wir sind besorgt darüber, dass die Einhaltung des Völkerrechts, das auch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie kollektive Bestrafung, Verfolgung und die Zerstörung von ziviler Infrastruktur, einschließlich Schulen, Krankenhäusern und Gebetsstätten, verbietet, nicht erwähnt wird. Da wir uns von den Grundsätzen der internationalen Rechtsnormen, der Solidarität und der Menschenwürde leiten lassen, sind wir gezwungen, alle Konfliktbeteiligten an diesen höheren Standard zu binden.

Wir dürfen nicht zulassen, dass die Gräueltaten uns dazu zwingen, diese Grundsätze aufzugeben.

 

Unterzeichnerliste:

  1. Adam Tooze (Professor of History, Columbia University)
  2. Samuel Moyn (Professor, Yale University)
  3. Amia Srinivasan (Professor of Social and Political Theory, University of Oxford)
  4. Nancy Fraser (Professor of Political and Social Science, New School for Social Research)
  5. Jay Bernstein (Professor of Philosophy, New School for Social Research)
  6. Alice Crary (Professor of Philosophy, New School for Social Reserach)
  7. Juliane Rebentisch (Universität Offenbach/University of Princeton)
  8. Chandra Talpade Mohanti (Distinguished Professor, Syracuse University)
  9. Diedrich Diederichsen (Professor for Theory of Contemporary Art, Academy of Fine Arts, Vienna)
  10. Beate Roessler (Professor of Philosophy, University of Amsterdam)
  11. Dirk Moses (Spitzer Professor of International Relations, City College of New York)
  12. Quinn Slobodian (Professor of History, Wellesley College)
  13. Michael Hardt (Professor, Duke)
  14. Franco Bifo Berardi (Philosopher, Napoli)
  15. Frederick Neuhouser (Professor of Philosophy, Columbia University)
  16. Linda Zerilli (Charles E. Merriam Distinguished Service Professor of Political Science         University of Chicago)
  17. Paul Preciado (Philosopher, Paris)
  18. Dr Scilla Elworthy (Founder, The Business Plan for Peace)
  19. Rosalind Morris (Professor of Anthropology, Columbia University)
  20. Albena Azmanova (Professor, University of Kent)
  21. W. J. T. Mitchell (Professor, University of Chicago)
  22. Daniel Loick (Associate Professor of Political and Social Philosophy, Universität Amsterdam)
  23. Steven Klein (Senior Lecturer in Political Theory, King’s College London)
  24. Robin Celikates (Professor of Philosophy, Freie Universität Berlin
  25. Esra Özyürek (Professor, University of Cambridge)
  26. Jeanne Morefield (Associate Professor of Political Theory, University of Oxford)
  27. Katrin Flikschuh (Professor, London School of Economics and Political Science)
  28. Melissa Williams (Professor of Political Science, University of Toronto)
  29. Fumi Okiji (Assistant Professor, UC Berkeley)
  30. Bruno Leipold (Fellow, The New Institute)
  31. Anselm Franke  (Professor, University of the Arts Zurich)
  32. Tobias Müller (Fellow, The New Institute)
  33. Akwugo Emejulu (Professor, University of Warwick)
  34. Eva von Redecker (Berlin)
  35. Maeve McKeown            (Assistant Professor of Political Theory,  University of Groningen)
  36. William Clare Roberts (Associate Professor of Political Science , McGill University)
  37. Henrike Kohpeiß (Postdoc, Free University, Berlin)
  38. Matthias Lievens (Assistant Professor, Institute of Philosophy, KU Leuven)
  39. John Smith (Professor Emeritus of Fine Art, University of East London)
  40. Oreet Ashery (Artist)
  41. Mason Leaver-Yap (Postgraduate Studies, Glasgow School of Art)
  42. Eyal Weizman (Professor)
  43. Angela Dimitrakaki (Art historian and novelist)
  44. Yaiza Hernández Velázquez (Lecturer, Goldsmiths, University of London)
  45. Marina Vishmidt (Professor of Art Theory, University of Applied Arts, Vienna)
  46. Cecile Malaspina (Directrice de programme, College international de philosophie, France)
  47. Gabriëlle Schleijpen (Artistic director | head of program DAI Roaming Academy)
  48. Larne Abse Gogarty (Head of History and Theory of Art, Slade School of Fine Art, UCL)
  49. Peter Osborne (Professor of Modern European Philosophy, Kingston University London)
  50. Mirjam Müller (Jun.- Professor of Feminist Philosophy, Humboldt University of Berlin
  51. Charles Esche (Professor, University of the Arts, London)
  52. Nikhil Pal Singh (Professor of Social and Cultural Analysis and History, Chair of the Department of Social and Cultural Analysis, New York University)
  53. Marion Detjen (Bard College Berlin)
  54. Sultan Doughan (Lecturer, Goldsmiths)
  55. Claire Bishop (Professor, CUNY Graduate Center)
  56. David Lloyd (Distinguished Professor of English , University of California, Riverside)
  57. Alice von Bieberstein (Humboldt Universität zu Berlin)
  58. Paul Apostolidis (Professor, LSE)
  59. Aurelia Kalisky (Berlin)
  60. Maurizio Lazzarato (Philosopher, Paris)
  61. Alberto Toscano (Professor of Critical Theory, Goldsmiths, University of London / Simon Fraser University)
  62. Ana Teixeira Pinto (Professor HBK/Dutch Art Institute)
  63. William Callison (Postdoc, Uppsala University)
  64. Nadim Khoury (Associate Professor, Inland Norway University of Applied Science)
  65. Natasha Lennard (Associate Director Critical Journalism, The New School, New York)
  66. Zeynep Gambetti             (Associate Professor, Istanbul)
  67. Volkan Çidam (Assist. Prof, Boğaziçi University, İstanbul)
  68. Jacob Blumenfeld (Fellow, Centre for Social Critique, HU Berlin)
  69. Anya Topolski (Associate Professor in Political Philosophy, Radboud University)
  70. Antke Engel (Institute for Queer Theory, Berlin)
  71. Thomas Locher (Artist)
  72. Denise Ferreira da Silva (Professor, University of British Columbia)
  73. Paula Chakravarttu (James Weldon Johnson Associate Professor of Media Studies, New York University)
  74. Alexi Kukuljevic (Assistant Professor, University of Applied Arts Vienna)
  75. Giovanna Zapperi            (Professor, University of Geneva)
  76. Manuela Bojadžijev (Professor, Humboldt-University)
  77. Frieder Vogelmann (Professor for Epistemology and Theory of Science,  University of Freiburg)
  78. James Cochrane               (Emeritus Professor, University of Cape Town)
  79. Enzo Rossi (Associate Professor of Political Science, University of Amsterdam)
  80. Siddharth Soni (Research Fellow, University of Cambridge)
  81. Franz Knappik (Professor of Philosophy, University of Bergen)
  82. Daniel James (Postdoc, Technische Universität Dresden)
  83. Eyja Brynjarsdottir (Professor of Philosophy, University of Iceland)
  84. Hanna Meißner (Professor, Technische Universität Berlin)
  85. Su Ming Khoo (Associate Professor, University of Galway)
  86. Timothy Waligore            (Associate Professor Political Science, Pace University)
  87. David Welch (Professor of Political Science, University of Waterloo)
  88. Alison M Jaggar (Emerita Professor of Distinction, University of Colorado Boulder)
  89. Giovanni Mascaretti (Postdoc, University of Bergamo)
  90. Peter J. Verovšek             (Assistant Professor, History and Theory of European Integration, University of Groningen)
  91. Erin R. Pineda (Phyllis C. Rappaport ’68 New Century Term Assistant Professor of Government, Smith College)
  92. Amy Reed-Sandoval (Associate Professor, University of Nevada, Las Vegas)
  93. John Pringle       (Independent Researcher)
  94. Assel Tutumlu  (Associate Professor in Political Science, Near East University)
  95. Alasia Nuti (Senior Lecturer in Political Theory, University of York)
  96. Tirdad Zolghadr (Guest professor, University of the Arts Berlin)
  97. Mathelinda Nabugodi (Lecturer, University College London)
  98. Doriane Zerka (Assistant Professor, University of Cambridge)
  99. Sina Kramer (Associate Professor of Women’s and Gender Studies, Loyola Marymount University)
  100. Chady Seubert (Actress)
  101. Diana Abbani (Researcher, Forum Transregionale Studien)
  102. Eddie Bruce-Jones (Professor of Law, SOAS, University of London)

https://www.bostonreview.net/articles/more-than-genocide/

 

 

Der siebte Oktober 2023 – Terror und Herausforderung

Richard Glöckner, Gastautor

Der Terrorangriff von Kampftruppen der langjährigen Widerstandsgruppe Hamas am 7. Oktober 2023 im Grenzgebiet zwischen dem Staat Israel und dem von Israel kontrollierten Gazastreifen war zweifellos ein äußerst gewalttätiger und in den Einzelausführungen barbarischer Terrorakt. Zwischen 1200 – 1400 unbeteiligte israelische Bürger und Gäste Israels wurden grausam ermordet. Besonders abstoßend war, dass man einzelne barbarische Vorgänge auch noch dokumentiert hat. Dass unendliche Trauer und auch Wut die spontane Reaktion und Antwort der Betroffenen sind, ist durchaus nachvollziehbar.
Angesichts dieser verheerenden verbrecherischen Tatsachen drängt sich die Frage auf, wie war so etwas möglich? Wer denkt sich solche Brutalitäten und Grausamkeiten aus und setzt sie auch noch in die Tat um? Dass hier wiederum maßlose Formulierungen in der Schuldzuweisung und krasse Rufe nach einer umfassenden Vergeltung auftauchen, ist menschlich verständlich. Auffallend ist allerdings, dass im Stimmengewirr nirgends der eigentlich übliche Ruf nach gerechter und angemessener Bestrafung der Schuldigen auftaucht.
Er fehlt auch bei denen, die für Rechtssicherheit und gesellschaftliche Ordnung verantwortlich sind und die von daher mäßigend auf die Emotionen einwirken müssten. In einem Rechtsstaat muss es um Gerechtigkeit und nicht um Rache und Vergeltung gehen. Das scheint im Staat Israel offenbar derzeit nicht anzukommen.
Im Gegenteil: Mehr als fragwürdig ist die Reaktion führender Militärs, Politiker und bekannter Personen des öffentlichen Lebens.[1] So sagte Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend.“ Doron Ben David, ein berühmter Schauspieler meinte: „Gaza muss ausgelöscht werden!!!, Ausgelöscht!!! Mit allem, ohne auch nur ein Staubkorn von dem Ort zu hinterlassen, aus dem solche humanoiden Tiere kommen.“ Auch schon früher haben führende Israelis die Palästinenser etwa als »Kakerlaken auf zwei Beinen« bezeichnet. So kann auch Danny Ayalon, ehemaliger stellvertretender Außenminister sagen, „dass Israel die Zivilbevölkerung in Gaza aus Rache aushungert.“ Das Knessetmitglied Merav Ben-Ari sagte: „Die Kinder in Gaza haben sich das selbst eingebrockt.“ Kinder! Schuldig!? Offene Bestrafung? Wo sind wir? Ein israelischer Reservist fordert: „Löscht ihre Familien, ihre Mütter und ihre Kinder aus. Diese Tiere dürfen nicht mehr leben.“
Im allgemeinen Stimmengewirr geht es durchweg um »auslöschen«, »bis auf die Grundmauern zerstören«, »in Trümmer verwandeln«. „Ihr wollt die Hölle, wir werden euch die Hölle geben.“ Ministerpräsident Netanjahu bemüht sogar die Bibel und sieht in den Palästinensern das antike Volk der Amalekiter, für das es schon damals nur eine Zukunft gab: »auslöschen« (Buch Deuteronomium 25,19). „Vernichtung“ war schon bei der ersten Landnahme ca. 1200 vor Christus das Einzige, was die dort lebenden Völker zu erwarten hatten (vgl. Deuteronomium 7,2).
Einem Gegner oder Feind oder auch schlimmsten Verbrechern die Menschenwürde abzusprechen, sprengt den Rahmen einer zivilen Gesellschaft.
Dass Mitglieder in führenden politischen und gesellschaftlichen Schichten sich so äußern und eine pogromartige Stimmung schaffen, dürfte in einem von den „westlichen Werten“ geleiteten Staat, der sich selbst als „einzige Demokratie“ im Vorderen Orient bezeichnet, schwer einzuordnen sein. Diese Äußerungen werden aber von den westlichen Politikern und Medien nicht zur Kenntnis genommen. Lapidar erklärt der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, er sei sicher, dass Israel das Völkerrecht achte und einhalte. Woher mag er diese Sicherheit haben?
Im derzeitigen Stimmengewirr um die Frage, was aus Gaza werden soll, tauchen in der Presse Vermutungen auf, die sich auf Reden von führenden Politikern stützen und unter dem Stichwort Gaza-Nakba kursieren. Konkret schreibt Ariel Kallner, Mitglied des israelischen Parlaments und Vorsitzender des parlamentarischen Ausschusses für die Beziehungen zwischen Israel und der EU: „Nakba! Nakba größer als die 48, die Alternative ist klar. Nakba in Gaza und Nakba gegen jeden, der mitmacht! Ihre Nakba wie die damals 48, die Alternative ist klar“.

Welche Vorstellungen und Wünsche werden damit laut? Die Charakterisierung der Nakba von 1948 kurz vor und nach der Gründung des Staates Israel lässt sich historisch zuverlässig recherchiert mit einigen Passagen aus den Büchern von Ilan Pappe, Die ethnische Säuberung Palästinas, Frankfurt am Main 2007, S. 130f und
Petra Wild, Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina, Wien 2013, S. 17 belegen.

Petra Wild schreibt:
„Die ethnische Säuberung im großen Stil begann im März 1948, nachdem der innerste zionistische Führungsstab die Umsetzung des zu diesem Zweck bereits vorbereiteten »Plan Dalet« [alle den Juden zugesprochenen Regionen „araberfrei“ machen] beschlossen hatte…. Teilweise wurden die Menschen direkt vertrieben, teilweise durch Gräueltaten zur Flucht gezwungen. Massaker an der Zivilbevölkerung spielten eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Furcht und Schrecken. Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand begingen zionistische Truppen mindestens 70 Massaker und Gräueltaten, von denen die bekanntesten in Deir Yassin bei Jerusalem/al-Quds, Tantura bei Haifa und Duwayma bei Hebron/al-Khalil stattfanden.“

Ilan Pappe schreibt zur Situation in Deir Yassin im April 1948.:
„Das »freundliche Hirtendorf« hatte mit der Hagana in Jerusalem einen Nichtangriffspakt geschlossen, war aber dazu verurteilt, ausradiert zu werden, weil es innerhalb der Gebiete lag, die in Plan Dalet für die Säuberung vorgesehen waren… Als die jüdischen Soldaten in das Dorf eindrangen, nahmen sie die Häuser mit Maschinenpistolen unter Dauerfeuer und töteten viele Einwohner. Anschließend trieben sie die übrigen Einwohner an einem Ort zusammen, ermordeten sie, schändeten ihre Leichen und vergewaltigten eine Reihe von Frauen, bevor sie sie töteten. Der damals zwölfjährige Fahim Zaydan erinnerte sich, wie seine Familie vor seinen Augen ermordet wurde: »Sie holten uns nacheinander heraus, erschossen einen alten Mann, und als eine seiner Töchter schrie, erschossen sie sie ebenfalls. Dann riefen sie meinen Bruder Muhammad und erschossen ihn vor unseren Augen, und als meine Mutter sich schreiend über ihn beugte – sie hatte noch meine kleine Schwester Hudra im Arm, die sie gerade stillte –, erschossen sie sie auch.«… Unter den Opfern des Blutbades in Deir Yassin befanden sich 30 Babys…“
Petra Wild:
„In Deir Yassin wurden im April 1948 zwischen 100 und 150 der 750 Dorfbewohner – Männer, Frauen und Kinder – getötet. 25 der überlebenden Männer wurden daraufhin in blutdurchtränkter Kleidung im Triumphzug durch Jerusalem geführt, um dann in einer ruhigen Ecke der Stadt erschossen zu werden.
In Tantura wurden im Mai 1948 vor allem Männer auf den Straßen, in den Häusern und in kleinen Gruppen auf dem Friedhof des Dorfes erschossen. Einige hatten zuvor noch ihre Gräber ausheben müssen.
Die Gräueltaten in Dawayma im Oktober 1948 wurden von einem Soldaten, der direkt nach dessen Besetzung in das Dorf beordert wurde, wie folgt geschildert: Sie töteten etwa 80-100 Araber, Frauen und Kinder. Die Kinder wurden getötet, indem ihre Schädel mit Knüppeln zertrümmert wurden. Es gab kein einziges Haus ohne Tote… In dem Dorf verbliebene Männer und Frauen wurden ohne Essen und Trinken in Häuser gesteckt. Dann kamen die Pioniere, um die Häuser zu sprengen. Ein Offizier befahl einem Pionier, zwei alte Frauen in das Haus zu bringen, das zu sprengen er sich anschickte. Der Pionier weigerte sich… Also befahl der Offizier seinen eigenen Soldaten, die alten Frauen hineinzubringen und die Gräueltat wurde ausgeführt. Ein anderer Soldat brüstete sich damit, dass er eine arabische Frau vergewaltigt und dann erschossen hatte.“

Die hier skizzierten Beispiele ließen sich um viele ähnliche, wie auch die in Filmen dokumentierte, mörderische Vertreibung der Palästinenser aus Haifa erweitern. Sie verdeutlichen eines: Es hat nicht nur eine Massenflucht von etwa 700.000 Palästinensern gegeben. Die war ausgelöst und wurde vorangetrieben durch zahllose Massaker, deren unmittelbarer Zweck die Vernichtung von Palästinensern war; gleichzeitig sollten sie in der Bevölkerung chaotische Ängste auslösen und die Menschen zur Flucht treiben.
Man kann nun sagen: Das ist mittlerweile rund 80 Jahre her und damit Vergangenheit. Diese Vergangenheit ist aber in der heutigen palästinensischen Gesellschaft emotionale Gegenwart. Nimmt man die Gruppe der gewalttätigen Terroristen vom 7. Oktober, so haben möglicherweise die Ältesten von ihnen das Jahr 1948 als Kinder erlebt. Vielleicht waren sie persönlich Zeuge und sind in ihrer Erinnerung und ihrem Erleben immer noch dabei. Es geht um ihre eigene Lebensgeschichte. Vielleicht haben sie selbst erlebt, wie vor ihren Augen Mutter oder Vater erschossen wurden, wie man die Mutter vergewaltigte, bevor man sie ermordete; wie man eine Tante oder Großmutter in ein Haus zerrte, das man dann in die Luft sprengte.
Wie man Babys den Kopf mit Holzknüppeln zertrümmerte, ist zwar nicht gefilmt worden, ist aber mit Sicherheit geschehen und nicht vergessen worden. Kinder und die folgende Generation, die es nicht selber gesehen haben, erlebten es durch Erzählen und Schilderungen in ihren Familien. So oder so wuchsen sie in einer traumatisierten und traumatisierenden Umwelt auf. Die Folge war eine Atmosphäre von Verzweiflung, Wut und Hass. Die erhielt auch in den Jahren nach 1948 immer neue Nahrung durch permanente Entrechtung, Demütigungen, Schikanen und Beraubungen im alltäglichen Leben. Man lese nur einmal bei „Braeking the Silence“ und „Checkpoint Watch“ nach, wie sich der Alltag der Palästinenser nach 1967 abspielte. Und all das, „während die Welt schlief“[2] und für die Palästinenser im kollektiven Bewusstsein der Welt immer noch schläft. Am Rande werden auch heute Hinweise auf den Landraub bei der Staatsgründung, die Massaker von 1948 und den räuberischen Siedlungsbau in der Westbank manchmal zwar gestreift, ohne in ihrer traumatisierenden Wirkung ernst genommen zu werden.
Die Öffentlichkeit ist heute zu Recht fassungslos und empört über die Art, wie das Massaker am 7. Oktober durchgeführt wurde und macht sich Gedanken über die Abgründe von Niedertracht, Bosheit und Brutalität. Wenn man es aber nüchtern analytisch betrachtet, dann haben die Täter der Hamas gemäß ihrem politischen und sozialen Umfeld reagiert und umgesetzt, was sie selbst bei der Nakba und in der folgenden Unterdrückungsgeschichte erlebt haben und was sich ihrem Leben emotional eingebrannt hat. Ihr Tun weist sie nicht als »humanoide Tiere« aus, sondern zeigt, wozu zutiefst verletzte Menschen fähig sind. Sie waren am 7. Oktober nicht aus dem Nichts des absolut Bösen plötzlich da, sondern handelten getrieben von einer von Hass und Wut entstellten Lebensgeschichte. Erlittene Gewalt haben sie ungefiltert in einen Ausbruch von Wut, Hass, Grausamkeit und Verzweiflung umgesetzt. Sie demonstrieren in erschreckender Unmittelbarkeit die Umwandlung von Opfern in Täter. Kann man diese Überlegungen wirklich nur als ein psychologisierendes Mutmaßen oder eine realitätsferne Spinnerei abtun, oder liegen sie bei normalem menschlichem Empfinden nicht einfach auf der Hand?

Es fordert schon Mut gegenüber dem eigenen Erschrecken, die Zusammenhänge so zu interpretieren. Aber die einseitige und ausschließliche Konzentration auf das Leid der Opfer vom 7. Oktober weigert sich, die Problematik in ihrer wirklichen Abgründigkeit wahrzunehmen. Die Ermordeten und die schockierten und trauernden Hinterbliebenen sind Teil einer sie umklammernden Geschichte, die sich nicht in Luft auflösen lässt. Wenn man den Hinweis auf diese Verbindungen als moralisch unangemessen und empörend zurückweist, sollte man nicht vergessen, dass Israelis das Attentat ständig mit dem Holocaust in Verbindung bringen, die Attentäter als geistige Nachfolger der Nazis bezeichnen. Aber die Geschichte Israels und die der Palästinenser ist wesentlich enger miteinander verwoben als palästinensische Beziehungen zum NS-Reich. Die Geschichte Israels hat die Palästinenser wesentlich intensiver geprägt als der behauptete, ideologisch und emotional entlastende Brückenschlag zu Nazideutschland. Die heute oft gezeigten trauernden Familien in Israel verdienen Anteilnahme und Respekt vor ihrer berechtigten Forderung nach Wiedergutmachung. Man darf sie aber nicht einfach trennen von den von der Nakba Betroffenen – von den mittlerweile ein Leben lang trauernden palästinensischen Müttern und Kindern, die über Jahrzehnte nicht wahrgenommen wurden und noch heute leicht aus dem Blickfeld geraten. Die Söhne dieser Mütter wissen um eine äußerst leidvolle Vergangenheit und haben zudem ein Leben ohne jede Perspektive vor sich. Die heutigen Bilder und Stellungnahmen in offiziellen radikalen Verurteilungen und in den Medien fangen nur einen Teil der Wirklichkeit ein und blenden den Blick auf das ganze Geschehen aus. Aber dieser ausgeblendete Teil der Geschichte hat maßgeblich dazu beigetragen, was am 7. Oktober geschehen ist. Die Täter der Hamas haben schreckliche Verbrechen begangen, aber nicht aus Mordlust oder getrieben von tierischen Instinkten. Es ist der aus einer Mischung von Wut, Hass und Verzweiflung geborene Versuch, die hoffnungslose Lage der Palästinenser – besonders im Freiluftgefängnis Gaza – zu ändern; sie wenigstens ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit zu bringen. Die Hamas versteht sich als die einzige Stimme und Kraft, die noch aktiv für die Belange von Gaza und der Palästinenser etwas erreichen kann. Ob dies angesichts ihrer rapide sinkenden Popularität bei der Bevölkerung in Gaza noch gilt, ist fraglich. Zudem kämpfen sie mit äußerst fragwürdigen Methoden für eine Befreiung und die Freiheit Palästinas. Jüdische Brigaden haben 1948 grässliche Verbrechen begangen, um den Staat Israel zu etablieren. Betrachtet man allein ihre Taten, so kann man hier Verbrecher gegen Verbrecher stellen – von ihrer Intention her heldenhafte Patrioten gegen Freiheitskämpfer – nicht einfach gegen Terroristen. Beide Kategorien sollte man gelten lassen.

Wie kann es weitergehen? Wenn heute führende Stimmen in Israel als Antwort auf die Ermordungen eine neue Gaza-Nakba ins Spiel bringen, so macht das fassungslos. Soll die Zukunft der Palästinenser in der Wiederholung eines Schandkapitels jüdischer Geschichte im Umfeld der Gründung des Staates Israel liegen? Anstatt die verständlichen Emotionen der vom Attentat Betroffenen noch anzuheizen, sollte der Staat Israel darüber nachdenken und zugeben, inwiefern er selbst für die Katastrophe verantwortlich ist und ernsthaft nach Möglichkeiten suchen, die politisch und sozial explosive Situation zu entschärfen. Ministerpräsident Netanjahus Worte: „Die Besatzung wollen wir nicht abschaffen, wir wollen sie verwalten.“ zeigte am 7. Oktober ein fürchterliches Zwischenergebnis!
Dem Generalsekretär der Vereinten Nationen Guterres ist zuzustimmen, wenn er sagte, die Katastrophe sei nicht in einem »luftleeren Raum« geschehen. Damit wollte er die Verbrechen und das Leid der Betroffenen weder relativieren noch verharmlosen. Er wollte darauf aufmerksam machen, dass weitere ähnliche Katastrophen nur vermieden werden können, wenn man ehrlich mit der eigenen Vergangenheit umgeht und daraus lernt, dass Gewalt nur neue Gewalt provozieren wird. Auf keinen Fall gibt es die uneingeschränkt Guten auf der eigenen Seite und die unsagbar und deshalb unerreichbar Bösen auf der anderen Seite. Nur wenn Israel bereit ist, mit diesem erlittenen furchtbaren Unrecht im Hinblick auf die eigenen Schwächen maßvoll umzugehen und einen für alle Seiten gerechten Neuanfang sucht, kann es in Palästina Frieden geben.

Die Juden schaffen sich ihr eigenes Unglück

06.11.2023 von Eurich Lobenstein

Von 250.000 so genannten Juden, die um die jüngste Jahrhundertwende aus dem Ostblock zu den 30.000 deutschen Alt-Juden stießen, sind 60.000 bei den jüdischen Gemeinden immatrikuliert. Die Synagogen sind leere Prachtbauten (Deborah Feldman).Die meisten Nachkommen des Stammes Juda glauben auch nicht mehr an Jehova, der christlich als Gott Vater von Jesus gilt. Es läuft darauf hinaus, wie es Felix Theilhaber in den 1920ern beschrieb: auf den Untergang des deutschen Judentums. Natürlich wird immer ein unaufklärbarer ultra-orthodoxer Kern bleiben. Denn Esoteriker gibt es immer: Piusbrüder, evangelikale Sekten aller Art, Satansanbeter und Chassidim. In den USA ist es nicht anders. Von 7 Millionen Juden werden 1/3 nicht als „jüdisch“ anerkannt. ihnen wird die Zugehörigkeit zum Judentum bestritten. Die Voraussagen Theilhabers gelten auch dort. Das US-Judentum wird untergehen. Binnen zweier Generationen werden sich die 5 Millionen auf 13% ihres Bestandes reduzieren (Carlo Strenger). Das Judentum wird dann so etwas sei wie der historische Adel ohne Monarchie: adelige Namensträger ohne Feudalbesitz, von denen die meisten nicht einmal mehr 4 adelige Großeltern aufweisen können.

Die Alternative zum Untergang durch Abfall vom Glauben, und eine Alternative zur Ultra-Orthodoxie ist der Zionismus; in Palästina könnten sich die Juden als normale Nation entwickeln. 7 Millionen Juden sind diesen Weg gegangen. Es gibt nur zwei Probleme: Das Land ist zu klein, um eine Nation von 15 Millionen Juden zu beherbergen. Weitere Kriege gegen die Araber, wie sie Itamar Ben Gvir und Bezalel Schmotrich predigen, werden nötig sein. Aber wird dann dieses Israel stark genug sein im Falle, dass im Westen für dessen nationalistische Politik die Unterstützung versiegt? Die jüdische Fraktion im Westen dünnt sich nach Theilhaber und Strenger aus. 87% der heutigen US-Juden gelten dann als Abtrünnige und als Marranen. Warum sollten sie zu Israel stehen, wenn man dort „marrano“ mit „Schwein“ übersetzt?

Israel stand immer schon am Abgrund (Saul Friedländer). Aber die Sicherungsseile reißen noch nicht. Das Seil „made in Germany“ taugt allerdings nichts. Es besteht aus billigem Kunststoff.

Während sich die westlichen Gesellschaften durch starke Immigrationsströme rassisch neu bilden, herrscht in Israel das halachische Religionsgesetz. Die Juden sind über die Jahrhunderte hinweg immer ähnlich geblieben. Arthur Ruppin spricht von einem jüdischen Typus. Das verlangt deren Religion, denn sonst würde der Messias sein zerstreutes Volk nicht erkennen können. Deswegen wird das gläubige Volk (auch nicht das zionistisch-nationalistische) keine wirklich demokratische Gesellschaft mit der Urbevölkerung bilden können, sondern ein jüdischer Staat bleiben müssen, der selbst seinen russischen Juden gegenüber reserviert bleibt: Die „Russen“ leiten ihre Jüdischkeit vom Vater her ab. Heiraten können sie in Israel keine halachische Jüdin.

Das Wesen des jüdischen Staats ähnelt dem Wesen des spartanischen von Lykurg. Google schreibt:

Lykurg gilt als Gesetzgeber von Sparta. …Der Mythos Lykurg wurde vermutlich geschaffen, um die Einzigartigkeit der spartanischen Verfassung zu erklären. Sie unterschied sich in klassischer Zeit, also im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr., deutlich von denen anderer griechischer Stadtstaaten. … Vor dem Hintergrund der Messenischen Kriege, des Gesetzes der Erbteilung oder der drohenden Vormachtstellung Athens wandelte sich Sparta …. in einen Staat, in dem das Kriegswesen eine dominierende Rolle spielte. …“

Israel bedarf der militärischen Überlegenheit über alle seine Nachbarn. Was das verlangt, hat Jeshajahu Leibowitz vorgezeichnet. Wie lange ein solches System die Sympathie und die Unterstützung des in „athenischer“ Tradition stehenden Westens behalten wird, ist angesichts des gesellschaftlichen Wandels im Westen offen. Der „jüdische Staat“ verletzt zu häufig völkerrechtliche Grundsätze und internationale Abkommen. In der Dritten Welt wird der Staat als Kolonialstaat mit Apartheitsregime wahrgenommen.

Wer für ein Fallen-Lassen Israels plädiert, gilt heute noch als Antisemit. Antisemit zu sein ist verpönt. Aber ist dies berechtigt? Die meisten Länder, fast die ganze UNO, sind gegen Israel eingestellt. Irgendwann werden Indien und Indonesien wichtiger als der Judenstaat mit seinem amerikanischen Patron, auch für Deutschland.

Alex Bein ist ohnehin der Meinung, dass der Begriff „Antisemitismus“ weder auf den religiösen „Antijudaismus“ noch auf den modernen Antizionismus erstreckt werden kann. Mögen im Westen die Linken Antikolonialisten, und davon abgeleitet Antizionisten sein, Antisemiten im klassischen Sinne sind die nicht. Die Antisemiten der Nazizeit förderten sogar die Einwanderung von Juden nach Palästina (Haawara-Abkommen). Sie sprachen sich zwar nicht unbedingt für einen jüdischen Staat, aber für ein jüdisches Reservat in Palästina aus (Siegfried Francke in Bezug aus Ghisbert Wirsing). Die Nazis waren im Prinzip keine Antizionisten. Insofern ist die heutige Beschimpfung von demonstrierenden Palästinensern als „Antisemiten“ ein Denkfehler.

Antisemitismus ist ganz etwas anderes als eine propalästinensische Haltung:

Bernd Witte hat den unüberbrückbaren Widerspruch zwischen den Verehrern von „Moses“ und den Bildungsklassikern nach Homer beschrieben. Sigmund Freud hat die Wurzel des Antisemitismus in genau diesem Gegensatz analysiert. Die instinktive Ablehnung der monotheistischen Religion ist die Wurzel einer Feindschaft, die auf die Juden „sublimiert“ wird. Sublimiert, also übertragen auf die Juden, weil sich das Volk gegen die christliche Obrigkeit nicht erheben konnte, und seinen Frust über die Unterdrückung an den Juden ausließ. Das Dogma des christlichen Monotheismus wurde 325 in Nikäa formuliert und 395 zur Staatsreligion erklärt. Dadurch wurde der orientalische Despotismus westlich. Das galt zwar für das damalige Römische Reich, jedoch basiert die westliche Staatenwelt kulturell auf dessen geistigen Trümmern. 1792 definierte die Französische Republik die christlichen Lehren als „alten Aberglauben“. Um diese Zeit begann „der Westen“ die Schicht des monotheistischen Despotismus abzutragen.

Was unterscheidet den jüdischen Aberglauben vom Christlichen? Grundsätzlich glaubt der Jude, dass der Messias noch kommen werde; der Christ meint, in der Person des Jesus sei es bereits da gewesen. Jesus konstruieren die Christen als ein Wesen menschlicher wie göttlicher Natur. Die zwei Naturen blieben unvermischt. Nachdem Jesus körperlich (!) in den Himmel aufgefahren war, blieb seine Anhängerschaft als sein mystischer Leib zurück, in den zu Pfingsten der Hl. Geist, eine weitere Person der göttlichen Trinität einfuhr. Diese Gemeinschaft, nun Kirche genannt, die mit dem Reich (und dem christlich-monarchischem Staat) identisch wurde, verkörpert also genau dieselbe Göttlichkeit auf Erden wie Jesus zu seinen Erdentagen.  Die Kaiser Konstantin und Theodosius etablierten die Despotie in West-Europa nach der Formel: „Ein Gott, ein Reich, ein Kaiser“.

„Der Jude“ glaubt an die Existenz des letztlich gleichen Gottes. Dieser Gott hat sich nicht in Sohn und Hl. Geist verklont. Er hat mit Israel einen besonderen Bund mit abstrusen Speisegesetzen, Alltagsregeln und Kleidungsvorschriften geschlossen. Diesen Bund wollen die abergläubischen Leute pingelich einhalten, egal, was der Gott ihnen zumutet. Kaiser Julian meinte, der Gott der Juden müsse ein böser Kobold sein, der dieses Volk von einer Bredouille in die nächste führe. Jeder zweite Jude hat diesem Kobold die Gefolgschaft versagt. Machten die Juden im Römischen Reich noch 8% der Bevölkerung aus, repräsentieren sie auf demselben Territorium nicht einmal mehr ein einziges Promille. Die Lehre der Juden (und abgeleitet davon die der Christen) ist in sich unlogisch. Tertullian meinte: „ich muss glauben, weil es absurd wäre, so zu denken“. Wenn der Glaube vernünftig wäre, hätte der Gott nur in einem Anfall von Unvernunft den Menschen schaffen können, der seine Schöpfung zerstört. Einen solchen verrückten Gott verehren zu müssen hat in Israel zu einer nie endenden Herrschaft einer Priesterkaste geführt, die sich nach Zerstörung des Tempels als Herrschaft der Rabbiner fortsetzte (Gilead Atzmon). In Israel stellt diese Priesterkaste heute die Justiz, die in allen Dingen der Staatsführung das letzte Wort hat.

Gegen diesen verrückten Gott wehren sich nach Sigmund Freud die germanischen und slawischen Völker. Die Romanen kommen dank einer breiten Heiligenverehrung und der Mutter Gottes mit diesem Glauben besser zurecht. Schleiermacher meinte: Der Katholizismus sei die profilierteste polytheistische Religion. Der Katholizismus ist also weniger christlich als der Protestantismus.

Das klassische („athenische“) Denken, ausfabuliert vom alten Hesiod, kennt die Existenz von Göttergeschlechtern. Der alte Uranos zeugte die Titanen, und wurde von seinem Sohn Chronos entmannt und entmachtet. Chronos herrschte; sein Neffe Prometheus schuf den Menschen. Jedoch wurde das Titanengeschlecht durch die olympischen Götter abgelöst. Prometheus wurde an den Kaukasus geschmiedet, sein Bruder Atlas musste das Himmelsgewölbe tragen. Die anderen Titanen wurden in den Tartarus gestürzt. Die Menschen blieben ohne den göttlichen Schutz des Titanensohns Prometheus, und waren als dessen Geschöpfe den neuen Göttern ein Gräuel. Sie, die Götter, wollten sie, die Menschen, auch vertilgen und schickten ihnen die Büchse der Pandora. „Die Menschen“ überlebten dank ihrer Intelligenz und Schläue (was Homer in der Odyssee besingt). Solange sie die Logik der Naturgewalten nicht durchschauten, bauten die Griechen den Unsterblichen prachtvolle Tempel, die jene davon abhalten sollten, ihre Gemeinschaften samt den Tempeln zu zerstören. Die Intelligenteren erkannten das Fehlen von Göttern hinter den Naturgewalten, und entwickelten die Demokratie und die Republiken, schufen vernünftige Rechtssysteme und begründeten unsere Zivilisation: das Römische Reich. Römerstraßen, römische Brücken, sogar römische Theater sind noch heute in Funktion.

Durch endlose Bürgerkriege erschöpft übernahm Kaiser Konstantin 325 die Idee des Monotheismus: Ein Gott – ein Reich – ein Kaiser. 1.300 Jahre hat es bedurft, um das davon abgeleitete Gottesgnadentum zu überwinden.

KURZUM.

Die Menschheit schuldet dem Judentum nichts. Auch aus dem Holocaust resultiert keine Verpflichtung gegenüber den Juden. Schon das Luxemburger Abkommen war umstritten. Deutschland zahlte, weil man unter amerikanischer Fuchtel weiterwirtschaften musste (und wollte).

Im Gegenteil: der jüdische Monotheismus ist ein Danaergeschenk gewesen. Trotzdem verdankt die Welt einzelnen Juden viel.  Arthur Ruppin listet seitenweise Personen jüdischer Herkunft auf, denen die Menschheit viel verdankt: Sigmund Freud, Heinrich Hertz und Albert Einstein sind darunter: aber sie haben dem Judentum den Rücken gekehrt. Sogar die Nachkommen von Moses Mendelsohn haben sich vom Judentum abgewandt.  Das Judentum als solches ist ein alberner Aberglaube, bei genauer Prüfung ein unglaublicher Unsinn. Den müssen wir abschütteln. Nicht „der Jude“, sondern die monotheistische Lehre gehört ausgerottet. Dazu fängt man aber nicht bei den Juden und Moslems an, sondern bei den Christen. Der ganze kirchliche Grundbesitz könnte zur Staatsschuldentilgung versteigert werden. Die Curaille mag betteln gehen.

Und Israel?

Es wird selbst sehen, was es von seiner para-spartanischen Militärpolitik haben wird. Jeder ist seines eigenen Unglücks Schmied.

 

EINE VERPASSTE CHANCE – Meine Gedanken Zum Krieg Zwischen Israel Und Hamas

October 17, 2023

von Judith Bernstein

„Dem Brith Schalom schwebt ein binationales Palästina vor, in welchem beide Völker in völliger Gleichberechtigung leben, beide als gleich starke Faktoren das Schicksal des Landes bestimmend, ohne Rücksicht darauf, welches der beiden Völker an Zahl überragt. Ebenso wie die wohlerworbenen Rechte der Araber nicht um Haaresbreite verkürzt werden dürfen, ebenso muss das Recht der Juden anerkannt werden, sich in ihrem alten Heimatlande ungestört nach ihrer nationalen Eigenart zu entwickeln und eine möglichst große Zahl ihrer Brüder an dieser Entwicklung teilnehmen zu lassen.“, 1929.*

(*Das Zitat ist dem Buch meines verstorbenen Mannes Reiner Bernstein „Wie alle Völker…? Israel und Palästina als Problem der internationalen Diplomatie“ entnommen.)

Dieses Manifest, das bereits 1929 verfasst wurde, wäre die Chance für die Juden, im Nahen Osten anzukommen. Leider haben die Juden aber es vorgezogen, statt einen gemeinsamen Staat mit der dort ansässigen Bevölkerung zu gründen, ihren Staat mit Gewalt zu erobern. War es wirklich notwendig, die palästinensischen Orte zu zerstören und die Bevölkerung zu vertreiben?  So begann für die Palästinenser die bis heute anhaltende Nakba; damit haben Ben-Gurion und seine Regierung es in Kauf genommen, dass Israel immer ein Fremdkörper in der Region bleiben würde. Das Schicksal der vertriebenen Palästinenser hat niemanden nach 1948 interessiert.

Auch Persönlichkeiten wie Albert Einstein und Hannah Arendt waren skeptisch. Albert Einstein: „Frieden kann nicht mit Gewalt aufrechterhalten werden; er kann nur durch Verständnis erreicht werden. Nicht Herkunft oder Religion sollte unser Sein und unser Leben bestimmen, sondern allein die Vernunft, die Toleranz und die Verantwortung füreinander!“
Hannah Arendt plädierte für einen jüdischen Staat im Rahmen eines föderativen, multiethnischen Konstrukts. Nur so, glaubte sie, konnte die jüdische Nation Teil der Nationen der Welt werden.

Die Zustimmung der Weltgemeinschaft zur Gründung des neuen Staates ging auf das Versagen der Länder zurück, die Juden aus der Barbarei der Nazis zu befreien. Auch sah der Westen Israel als sein Bollwerk in der Region.

Eine weitere Chance für Israel wäre die Niederlage der arabischen Staaten nach 1967 gewesen. Es war diesmal Golda Meir, die nicht bereit war, mit den besiegten Staaten Jordanien und Ägypten über einen eigenständigen palästinensischen Staat zu verhandeln.
Der Erste, der verstanden hat, dass der Konflikt nicht mit Gewalt zu lösen war, war Yitzhak Rabin (der bestimmt kein Linker war). Dafür musste er mit seinem Leben bezahlen; ihm wurde vorgeworfen, „er kümmere sich nicht um sein Land“.

Zu Hamas: Israel hat Hamas als Konkurrenz zur PLO aufgebaut, um die palästinensische Bevölkerung zu spalten. Für Netanyahu war immer klar, dass er nie mit der Hamas über einen Frieden verhandeln würde. Er befürchtete jedoch, dass der Westen ihn evtl. zu einem Frieden mit der PLO zwingen würde. Da er die Hamas gebraucht hat und auch heute noch braucht, hat er sie nach keinem Gazakrieg vernichtet.
Im Gegensatz zu vielen Palästina-Anhängern in Deutschland wollen die Palästinenser vor Ort weder die Hamas noch die PLO – sie wollen in Frieden und Freiheit leben. Vor allem die jungen Menschen, die keine Zukunft für sich sehen und aus den sozialen Medien entnehmen, wie andere junge Menschen leben, wünschen sich nichts anderes als wie alle Jugendliche in der Welt zu leben.

Die Hamas hat in ihrer letzten gewaltätigen und brutalen Aktion vom 07.10.23 genau die Orte zerstört und deren Einwohner ermordet bzw. verschleppt, die gegen die Politik ihrer Regierung demonstriert haben und zum großen Teil zum Friedenslager gehörten. Bis zur Abriegelung des Gazastreifens gab es von ihnen sogar Unterstützung für die Bewohner Gazas. Viele der Verwandten der Ermordeten und Verschleppten beschuldigen die eigene Regierung für den Tod und die Geiselhaft ihrer Angehörigen verantwortlich zu sein.
Hamas hält die palästinenesiche Bevölkerung als Geisel genau wie die israelische Regierung es mit ihrer Bevölkerung tut. Der Westen hat es versäumt, die Bevölkerungen auf beiden Seiten und nicht ihre korrupten Regierungen zu unterstützen.

Warum hat der Westen nicht gegen die Gewalt der Siedler protestiert, die jede Form von zusammenleben verhindert? Ist das die Staatsräson, von der immer wieder die Rede ist? Ich höre zwar, dass die deutsche und europäische Politik versagt hat, aber die deutschen Politiker stellen sich wieder auf die Seite Israels, auf die Seite des Mannes, gegen den wöchentlich demonstriert wird. Warum eigentlich? Somit verhindert der Westen eine Lösung für alle dort lebenden Völker.
Auch das Abraham-Abkommen, auf das die Amerikaner so stolz sind, war kein Abkommen zwischen den Bevölkerungen, sondern zwischen Despoten und der korrupten israelischen Regierung. Wieder einmal hat der Westen die falschen Kräfte unterstützt. So hat er verhindert, dass Israel im Nahen Osten ankommt. Eine Tragödie für Israel!
Israel befand sich zwar im Nahen Osten, hat aber in seinem „way of life“ immer den USA und Europa nachgeahmt. Wenn Israel im Nahen Osten ankommen will,  muss es sich mit seinen Nachbarn und nicht mit Amerika oder Europa verständigen.

Und nun zu Deutschland:
Was heißt Solidarität mit Israel – mit welchem Israel? Das Israel von Netanyahu, das mit den Siedlern in der Westbank das vollendet, was 1948 begann – die Säuberung der palästinensischen Gebiete, oder mit den Friedensgruppen?
Wieso wird gegen Antisemitismus gekämpft, nicht aber gegen Antiislamismus – ein Phänomen, das in Deutschland viel weiterverbreitet ist.

Warum wurden wir, die wir uns für die Gleichstellung der Palästinenser einsetzen – wir, die sehen, dass nur so auch Israel existieren kann – bekämpft? Warum haben die Juden in Deutschland, denen es so gut geht wie nie zuvor, jede Regierung Israels und nicht die Kräfte in Israel, die um die Zukunft dieses Landes kämpfen, unterstützt?
Warum durfte ich seit Jahren nicht über meine Geburtsstadt Jerusalem sprechen? Warum sollte mein Mann wegen seiner vorsichtigen Kritik an der Politik Israels mundtot gemacht werden? (siehe sein letztes Buch „Allen Anfeindungen zum Trotz“).

Mit genau dieser Politik haben Deutschland und der Westen dafür gesorgt, dass die Zukunft Israels im Nahen Osten immer unsicher bleiben wird und wir Juden wieder einmal als der  „Ewige Jude“ abgestempelt werden.

 

 

Rede am 25. 10. 2023 auf dem Rotkreuzplatz in München

Von Jürgen Jung

Gründungsmitglied von Salam Shalom, Arbeitskreis  Palästina-Israel e.V.                               und derzeit Mitglied im kollektiven  Vorstand des Vereins

„Freiheit“, schrieb Rosa Luxemburg einst, „ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“. Leider ist es in der momentan aufgeheizten Situation notwendig geworden, auf diese schlichte Wahrheit hinzuweisen, denn angesichts der verfahrenen Situation im Nahen Osten wird derjenige ja bereits verurteilt, der es sich erlaubt, auf mögliche Entstehungs-bedingungen und Ursachen des terroristischen Angriffs der Hamas vom 7. Oktober aufmerksam zu machen. Das gilt dann bereits als dessen Relativierung, ja vielfach sogar als Ausdruck des Antisemitismus, und es wird von Medien wie Politik die unverbrüchliche Solidarität mit Israel beschworen, dessen Sicherheit deutsche „Staatsraison“ sei. Und es wird in der Regel betont, dass wir mit der – wie es heißt – „einzigen Demokratie im Nahen Osten“ die gleichen Rechte teilen.

Verwundert reibt man sich die Augen und fragt sich, ob im Mainstream immer noch nicht angekommen ist, was in den letzten Jahren von israelischen und jüdischen Intellektuellen und Organisationen immer wieder  betont und nachgewiesen wurde, nämlich, dass Israel ein „siedlerkolonialistischer Apartheidstaat“ sei.

Dabei haben bereits die frühen Zionisten ganz unbefangen klargestellt, worum es ihnen ging. In einer Broschüre der zionistischen Weltorganisation von 1921, in der die Koloni-sierung Palästinas – unter Berufung auf das Vorgehen der Europäer gegen die Indianer Amerikas und die Schwarzen Südafrika –  verteidigt wird, heißt es:

„Kolonisation ist ein nicht unbedeutenderes Prinzip als Selbstbestimmung, und es gibt Fälle, wo die Selbstbestimmung nur angewandt werden darf, insofern sie mit der freien Entwicklung der Kolonisation vereinbar ist.“

Oder zwei Jahre später Ze’ev Jabotinski, der Ahnherr der heutigen rechten Parteien in Israel – Netanjahus Vater war jahrzehntelang sein Privatsekretär – , Jabotinski in seinem berühmten Essay „Die eiserne Mauer“: „Wir versuchen, ein Land gegen den Willen seiner Bevölkerung zu kolonisieren, mit anderen Worten, mit Gewalt…… Jede Urbevölkerung in der Welt würde sich, solange es noch einen Funken Hoffnung gibt, der Kolonisierung zu entgehen, gegen die Kolonisten wehren….Die zionistische Kolonisierung muß entweder sofort enden, oder andernfalls – ohne Rücksicht auf die einheimische Bevölkerung – fort-gesetzt werden“. Und diese Kolonisierung müsse dann hinter einer „eisernen Mauer“, d. h. einer unüberwindlichen Armee realisiert werden.

Und im Jahr 1947 – ein Jahr vor der Staatsgründung – äußerte sich Ben-Gurion auf dem Zionistenkongress unmissverständlich: „Unser Ziel ist nicht ein jüdischer Staat in Palästina, sondern ganz Palästina als jüdischer Staat.“ Seine Lösung für das Problem, dass dieses Land schon besiedelt war, hatte er 10 Jahre zuvor – also 1937 – bereits seinem Sohn brieflich mitgeteilt: „Ich bin für Zwangsumsiedlung. Daran kann ich nichts Unmoralisches erkennen.“ Und diese Zwangsumsiedlung begann dann – erforscht v. a. von den  „revisio-nistischen“ Historikern Israels – unmittelbar nach dem UNO-Beschluss vom 29. November 1947 als „ethnische Säuberung Palästinas“, die dazu führte, dass etwa zwei Drittel der Palästinenser, ca. 750 000, vertrieben wurden. Und diese „Nakba“, arabisch für „Katastrophe“, dauert im Kern, ganz im Sinne der von Ben Gurion formulierten Ziel-vorstellung – ganz Palästina als jüdischer Staat –, bis heute an. Die gegenwärtige rechts-reaktionäre Regierung Israels verhehlt ihre entsprechenden, krass völkerrechtswidrigen Absichten nicht einmal.

Insofern ist die Kennzeichnung Israels als „siedler-kolonialistischer Apartheidstaat“ mit-nichten eine „extreme Dämonisierung des Staates der einstigen jüdischen Geflüchteten“, wie uns nicht nur die SZ kürzlich glauben machen wollte.

Nach diesem kurzen historischen Exkurs zurück in die Gegenwart:

Wenn man den Medien, unseren Politikern, auch manchen Wissenschaftlern Glauben schenken darf, dann nimmt der Antisemitismus ständig zu, der herkömmliche Antisemi-tismus von rechts, der von links, der aus der Mitte der Gesellschaft und in den letzten Jahren insbesondere der „zugewanderte“ Antisemitismus der muslimisch-arabischen Migranten. Letzterer ist allerdings – aufgrund der leidvollen historischen Erfahrungen der Araber, insbesondere der Palästinenser mit dem Zionismus und Israel – zunächst einmal Antizionismus, den die falschen Israelfreunde aber kurzerhand mit Antisemitismus gleichsetzen.

Bereits im vergangenen Jahr haben die wichtigsten Menschenrechtsorganisationen der Welt, Human Rights Watch und Amnesty International in teils umfangreichen Studien nachgewiesen, dass Israel ein Apartheidstaat ist. Bereits 2021 waren sogar die israelischen Menschenrechtsorganisationen B’Tselem und Yesh Din zu dem gleichen Ergebnis gekommen; und in der israelischen Tageszeitung Haaretz konnte man am 13. 7. 2021 nachlesen, dass ein Viertel der ca. 6 Millionen Juden in den USA, also 1,5 Millionen, – so das Ergebnis einer Umfrage – Israel gleichfalls für einen Apartheidstaat halten, unter den jüngeren bis 40 sind es sogar 38 Prozent! Alles Antisemiten?!

In einem offenen Brief vom August diesen Jahres unter der Überschrift „Der Elefant im Raum“ rechnen israelische Akademiker mit der Politik ihres Staates vorbehaltlos ab. Dieser „Elefant im Raum“, der in Israel geflissentlich ignoriert wird, ist nach Ansicht der Autoren die völkerrechtswidrige israelische Besatzung. Der Kernsatz des Textes lautet: „Es kann keine Demokratie für Juden in Israel geben, solange die Palästinenser unter einem Apart-heidregime leben.“ Diese selbstkritische Radikalität renommierter israelischer Experten auf dem Gebiet der Judaistik, der Antisemitismus- und der Holocaustforschung ist in der Tat so erstaunlich wie die annähernd 3000 Unterschriften von vorwiegend jüdischen Zeitgenossen, die der Brief innerhalb kurzer Zeit bekam.

Und in einer Reaktion auf den 7. Oktober von den gleichen israelischen Autoren heißt es unmissverständlich:

„Wir, die Unterzeichnenden, verurteilen die Hamas für ihre abscheulichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Terroristen, die Hunderte von Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge und Senioren auf grausamste Weise abgeschlachtet und zahlreiche weitere entführt haben, müssen vor Gericht gestellt werden. Israel hat jedes Recht, sich zu verteidigen und diese Mörder zu verfolgen, wo immer sie zu finden sind.

In dieser Zeit des Schmerzes und der Verwüstung rufen wir Israel dazu auf,

  1. alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die Geiseln zu befreien. Israel hält eine große Anzahl von Palästinensern in Gefängnissen gefangen….. Israel muss sich um einen Aus-tausch von Gefangenen bemühen, um seine eigenen und die gefangenen Bürger anderer Länder vor dem sicheren Tod zu bewahren.
  2. darauf zu verzichten, die Zivilbevölkerung des Gazastreifens kollektiv für die Verbrechen der Hamas zu bestrafen. Ein Massaker rechtfertigt nicht das nächste. Dies wird nur zu weiteren Verwüstungen führen und den Kreislauf der Gewalt weiter anheizen. Wir rufen zu einem sofortigen Waffenstillstand und zur Deeskalation auf.
  3. die gewaltsame Unterdrückung des palästinensischen Volkes zu beenden. Die Apart-heid, die jahrzehntelange Besatzung des Westjordanlandes, die 16-jährige Belagerung des

Gazastreifens mit zwei Millionen Palästinensern und die Auslöschung der Erinnerung an die Nakba tragen alle zur Verrohung und zur Gewalt bei. Ihnen muss dringend ein Ende gesetzt werden. Es gibt keinen anderen Ausweg.

Wir dürfen unsere Trauer und unseren Schock nicht dazu benutzen, Rache zu üben und weiteres Blutvergießen unter der Zivilbevölkerung zu verursachen.“

Und vor ein paar Tagen sprach die renommierte israelische Publizistin Amira Hass wiederum in Haaretz Olaf Scholz direkt an, der am 12. 10. gesagt hatte:

„Das Leid und die Not der Zivilbevölkerung im Gazastreifen werden nur noch zunehmen. Auch dafür ist die Hamas verantwortlich.“ Und Amira Hass fragt den Bundeskanzler: „Aber gibt es eine Grenze für dieses zunehmende Leid, wenn man bedenkt, dass Sie und Ihre Kollegen im Westen Israel uneingeschränkt unterstützt haben? Werden Sie es hin-nehmen, dass 2.000 palästinensische Kinder getötet werden? …..

Sie sagten auch: „Unsere eigene Geschichte, unsere Verantwortung, die sich aus dem Holo-caust ergibt, macht es für uns zu einer ewigen Aufgabe, für die Existenz und Sicherheit des Staates Israel einzutreten.“

Aber Herr Scholz, es gibt einen Widerspruch zwischen diesem Satz und dem oben zitierten.
„Das Leid und die Not werden zunehmen“ ist ein Blankoscheck für ein verwundetes, ver-letztes Israel, das hemmungslos vernichten, zerstören und töten darf mit dem Risiko, uns alle in einen regionalen Krieg zu verwickeln, wenn nicht sogar in einen dritten Weltkrieg, der auch Israels Leben gefährden würde, seine Sicherheit und Existenz. Wohingegen „Verantwortung, die sich aus dem Holocaust ergibt“, bedeutet, alles zu tun, um einen Krieg zu verhindern, der in einem endlosen Kreislauf zu Katastrophen führt, die wiederum zu Kriegen führen, die das Leid nur noch vergrößern.

Das habe ich von meinem Vater gelernt, einem Überlebenden der deutschen Viehwaggons. Bereits 1992 sagte er mir jedes Mal, wenn ich aus Gaza mit Berichten über die Unter-drückung seiner Bewohner durch Israel zurückkam: „Es stimmt, das ist kein Völkermord, wie wir ihn erlebt haben, aber für uns endete er nach fünf oder sechs Jahren. Für die Palästinenser dauert das Leid seit Jahrzehnten an.“ Es ist eine andauernde Nakba.

Ihr Deutschen habt Eure Verantwortung, die sich „aus dem Holocaust“ ergibt – also aus der Ermordung unter anderem der Familien meiner Eltern und dem Leid der Überlebenden – längst verraten. Sie haben sie verraten, indem Sie ein Israel vorbehaltlos unterstützt haben, das besetzt, kolonisiert, den Menschen Wasser entzieht, Land stiehlt, zwei Millionen Menschen in Gaza in einem überfüllten Käfig einsperrt, Häuser zerstört, ganze Gemeinden aus ihren Häusern vertreibt und Siedlergewalt fördert.

……Es gibt genügend Diplomaten und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die darüber berichtet haben, wie Hunderttausende junge Palästinenser unter der arroganten Unter-drückung durch Israel und der willkürlichen Tötung von Zivilisten jede Hoffnung und jeden Sinn ihres Lebens verloren haben. Palästinensische Menschenrechtsaktivisten haben immer wieder gewarnt, dass Israels Politik nur zu einem Gewaltausbruch unvorstellbaren Ausmaßes führen könne. Auch israelische und jüdische Friedensaktivisten haben Sie ge-warnt.

Aber Sie sind Ihrem Weg treu geblieben und haben Israel die Botschaft übermittelt, dass alles in Ordnung sei – dass niemand es bestrafen oder den Israelis durch energische diplo-matische und politische Schritte beibringen wird, dass es mit der Besatzung keine Norma-lität geben kann. Und dann bezichtigten Sie Israels Kritiker des Antisemitismus!

NEIN, diese Kolumne ist keine Rechtfertigung für die Mord- und Sadismusorgie, die die bewaffneten Hamas-Männer begangen haben. …..Vielmehr ist es ein Aufruf an Sie, die aktuelle Kampagne des Todes und der Zerstörung zu stoppen, bevor sie eine weitere Katastrophe über Millionen von Israelis, Palästinensern, Libanesen und vielleicht sogar Bewohner anderer Länder in der Region bringt.“ Soweit Amira Hass.

Am 19. Oktober, also letzte Woche organisierte die jüdisch-amerikanische Organisation Jewish Voice for Peace eine Protestveranstaltung vor dem Kapitol in Washington zugunsten der Palästinenser, und es fanden sich   – ich wollte es kaum glauben – 5000 Teilnehmer ein. Der Tenor der Versammlung war: Die Wurzel der Gewalt ist Unter-drückung!

Und zum Schluss noch zu einem gestern erst in der taz erschienenen offenen Brief, den  über 100 in Deutschland lebende jüdische Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler unterschrieben haben. Darin heißt es:

„Wir verurteilen vorbehaltlos die terroristischen Angriffe auf Zivilisten in Israel.….. Mit gleicher Schärfe verurteilen wir die Tötung von Zivilisten in Gaza….. In den letzten Wochen haben Landes- und Stadtregierungen in ganz Deutschland öffentliche Versamm-lungen mit mutmaßlichen Sympathien für Palästinenser verboten……

Praktisch alle Absagen, einschließlich derjenigen, die von jüdischen Gruppen organisierte Versammlungen verbieten, wurden von der Polizei zum Teil mit der „unmittelbaren Gefahr“ von „volksverhetzenden, antisemitischen Ausrufen“ begründet. Diese Behauptungen dienen unserer Meinung nach dazu, legitime und gewaltfreie politische Äußerungen, die auch Kritik an Israel beinhalten dürfen, zu unterdrücken……

Klar ist jedoch: Es macht Juden nicht sicherer, wenn Deutschland das Recht auf öffentliche Trauerbekundungen um verlorene Menschenleben in Gaza verweigert……

Wir prangern an, dass die gefühlte Bedrohung durch solche Versammlungen die tatsächliche Bedrohung des jüdischen Lebens in Deutschland grob ins Gegenteil verkehrt, wo nach Angaben der Bundespolizei die „überwiegende Mehrheit“ der antisemitischen Straftaten – etwa 84 Prozent – von deutschen extremen Rechten begangen wird. Die Versammlungs-verbote sollen ein Versuch sein, die deutsche Geschichte aufzuarbeiten, doch besteht viel-mehr die Gefahr, dass man sie genau dadurch wiederholt.

Wir befürchten, dass mit der derzeitigen Unterdrückung der freien Meinungsäußerung die Atmosphäre in Deutschland gefährlicher geworden ist – für Juden und Muslime gleicher-maßen – als jemals zuvor in der jüngeren Geschichte des Landes. Wir verurteilen diese in unserem Namen begangenen Verbote.

Wir fordern Deutschland auf, sich an seine eigenen Verpflichtungen zur freien Meinungs-äußerung und zum Versammlungsrecht zu halten, wie sie im Grundgesetz verankert sind…..“

 

 

Und Finsternis war auf dem Antlitz Israels Von Gideon Levy, in: Haaretz, 26. Oktober 2023

Und Finsternis lag über dem Antlitz der Tiefe. Im Angesicht des Abgrunds des Massakers im Süden wird Israel von Finsternis heimgesucht. Noch ist es ein Wolkengebilde, aber es könnte sich in Dunkelheit verwandeln: Israel wird verrückt. Die Linken werden „wach“, die Rechten werden immer extremer, McCarthyismus und Faschismus regieren.

Kriegszeiten sind immer eine Zeit des Schweigens, der Meinungsgleichheit, des Rassismus, der Hetze und des Hasses, der absoluten Rekrutierung im Dienste der Propaganda, des Endes der Toleranz und der Verfolgung aller, die es wagen, aus der Reihe zu tanzen. Die von der Hamas im Süden verübten Gräueltaten haben all diese Erscheinungen auf die Spitze getrieben, so als ob die Gräueltaten den Verlust jeglicher Zurückhaltung rechtfertigen würden.

Der emotionale Aufruhr ist natürlich verständlich, nicht aber der Totalitarismus, der in seinem Gefolge entstanden ist. Wenn dem nicht Einhalt geboten wird, wird die Gefahr für die Demokratie tausendmal größer sein als die des Staatsstreichs, der das ganze System hier zum Einsturz gebracht hat.

Die ersten, die den Verstand verloren, waren wie üblich die Linken. Sie sind „klüger geworden“. Diejenigen, die sich vor dem Krieg entschlossen hatten, für die Demokratie zu kämpfen, sabotieren sie nun mit ihren eigenen Händen. Diejenigen, die sich vor dem Krieg als Liberale, als Menschen des Friedens und der Menschenrechte betrachteten, nehmen nun eine aktualisierte Weltanschauung an: Sie stehen den Gräueltaten im Gazastreifen gleichgültig gegenüber; eine Mehrheit will sogar, dass sie noch verstärkt werden.

Und warum? Weil sie Gräueltaten an uns verübt haben. Für wie lange? Bis zum Ende. Zu welchem Preis? Um jeden Preis. Diese Linke denkt jetzt über Gaza genauso wie die Rechte: Zuschlagen und zuschlagen, das ist die einzige Option.

Diejenigen, die vor dem Krieg unterschätzt haben, wie wichtig es ist, sich mit der Apartheid und dem Schicksal des palästinensischen Volkes zu befassen, denken jetzt, zum Teufel mit allen. Sie können hängen. Sollen sie doch ersticken. Lasst sie sterben. Sollen sie doch vertrieben werden. Diejenigen, die sich vor dem Krieg für aufgeklärt hielten, unterstützen jetzt den Konsens.

Die Hamas hat auch die israelische Linke auf den Kopf gestellt. Von nun an ist es Israel erlaubt, dem Gazastreifen alles anzutun; die Linke wird sogar ihren Segen dazu geben. Von nun an ist es verboten, auch nur mit den Bewohnern des Gazastreifens mitzufühlen.

Der Menschenrechtsaktivist und ehemalige Peace-Now-Direktor Yariv Oppenheimer beobachtete, wie Amira Hass über das Schicksal der Bewohner des Gazastreifens Tränen vergoss und beeilte sich zu schreiben: „Ich gebe zu, dass ich gefühllos geworden bin.“

Selbst angesichts der Leichen von 2.360 Kindern, die nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums am Dienstag gefunden wurden, ist das Herz der Linken versiegelt. Wie zu Beginn eines jeden Krieges ist die Linke dafür. Die Linke „wird klug“ und kehrt danach irgendwie zu sich selbst zurück. Das scheint dieses Mal unwahrscheinlich.

Außerhalb der Linken ist die Situation noch schlimmer. Der Faschismus ist die einzig richtige Position geworden. Die lokalen Fernsehsender haben sich dem Kanal 14 angeschlossen; wenn es um Gaza geht, gibt es keinen Unterschied. Reporter und Moderatoren bezeichnen die Hamas in einer abstoßenden Zurschaustellung von Holocaust-Verharmlosung und -Leugnung als Nazis, und die Menge jubelt. Die Hamas hat abscheuliche Dinge getan, aber sie sind keine Nazis.

Jede andere Meinung ist nun zur Verfolgung verurteilt. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, sprach wahrheitsgetreu und mutig über den Kontext der Gräueltaten vom 7. Oktober und beeilte sich zu betonen, dass nichts die schrecklichen Angriffe der Hamas rechtfertigen kann; Israel reagierte mit einem frenetischen Angriff auf Guterres, der von den Medien aufgepeitscht wurde. Jeder diplomatische Korrespondent, der sich noch nie zu etwas geäußert hat, weiß, dass die Äußerungen des Generalsekretärs „empörend“ waren.

Ich für meinen Teil war nicht entrüstet. Sie waren wahr. Die Schauspielerin Maisa Abd Elhadi wurde wegen eines Social-Media-Posts, der gegen kein Gesetz verstieß, von der Polizei festgenommen und über Nacht festgehalten, und israelische Fernsehsender entfernen ihre Filme aus ihren Streaming-Archiven. McCarthyismus würde sich schämen.

Die freigekaufte Gefangene Yocheved Lifshitz gab eine bewegende Vorstellung, und die Mainstream-Journalisten beschweren sich, weil sie die Wahrheit gesagt hat. PR-Beraterin und Internet-Persönlichkeit Rani Rahav sieht ein Video von der Zerstörung in Gaza und schreibt: „So gefällt mir das!!!“ (Alle sabbernden Ausrufezeichen sind im Originaltext enthalten).

Der Journalist Zvi Yehezkeli drängt auf die nächtliche Zerstörung des Gazastreifens. Den gesamten Gaza-Streifen. Und sein Kollege Netali Shem Tov von Channel 13 News sieht „zu viele Gebäude in Gaza stehen“. Das ist das destillierte Böse im Angesicht der Gaza-Katastrophe, deren Schrecken den Israelis fast nie gezeigt wird.

Dies ist die dunkle Zeit. Die Zeit des barbarischen Angriffs der Hamas und die Zeit des verlorenen Gewissens und der Vernunft in Israel.

 

Kein Recht auf Rache in Gaza

Dienstag, 24. Oktober 2023, Berliner Zeitung

Unser Autor verurteilt den Terror der Hamas gegen Israel, aber auch das, was er als kollektive Bestrafung der Palästinenser ansieht

FABIAN SCHEIDLER

Etwa 1400 Israelis, die meisten davon Zivilisten, tötete die Hamas bei ihrem Angriff auf Israel und nahm 200 Geiseln. Mehr als 4200 Bewohner des Gazastreifens sind laut UN bisher durch die israelischen Vergeltungsschläge gestorben, viele davon ebenfalls Zivilisten. Ein Ende der Bombardements ist nicht in Sicht, eine Bodenoffensive droht. Etwa eine Million Menschen in Gaza sind auf der Flucht, doch können sie den winzigen Küstenstreifen nicht verlassen, weil er überall von Zäunen und Mauern umgeben ist. Sichere Zonen gibt es nicht. Israel hat jüngst auch den Süden Gazas bombardiert, nachdem es zuvor die Bewohner des Nordens aufgefordert hatte, dort Zuflucht zu suchen. Den überlebenden Bewohnern droht durch die von Israel verhängte Totalblockade eine humanitäre Katastrophe, weil es an Wasser, Nahrung, medizinischer Versorgung und Elektrizität fehlt. Da Klärwasseranlagen und Müllentsorgung aufgrund fehlender Energie nicht arbeiten, ist außerdem ein hygienischer Notstand zu befürchten. Israel hat jüngst auch den Übergang zwischen Gaza und Ägypten in Rafah bombardiert, die einzige Straße, über die in nächster Zeit Hilfsgüter nach Gaza kommen könnten – wenn Ägypten und Israel sie durchlassen.

USA stoppen Resolution

Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete in dieser Lage, er stehe „fest an der Seite Israels“. Er hätte auch sagen können, dass er fest an der Seite des Völkerrechts und der Opfer jeglicher Gewalt steht, unabhängig von ihrer Nationalität, ihrem Glauben und ihrer Hautfarbe. Er hätte in diesem Geiste auch ein Ende der Eskalationsspirale fordern können, wie die von Brasilien eingebrachte Resolution des UN-Sicherheitsrates, die allerdings per Veto von den USA gestoppt wurde. All das aber hat er nicht getan, sondern rückhaltlos Partei für eine israelische Regierung ergriffen, die allgemein als die rechteste in der Geschichte Israels bezeichnet wird und die, wie bereits ihre Vorgänger, keinen Hehl daraus macht, dass sie an der Einhaltung völkerrechtlicher Normen kein Interesse hat.

Die seit 16 Jahren andauernde Blockade von Gaza ist eindeutig völkerrechtswidrig. Im Jahr 2017, zehn Jahre nach Beginn der Abriegelung durch Israel, kamen die UN in einer Bewertung der Lage zu folgendem Ergebnis: „Viele dieser Maßnahmen verstoßen gegen das Völkerrecht, da sie die gesamte Bevölkerung von Gaza ohne Rücksicht auf die individuelle Verantwortung treffen und somit einer kollektiven Bestrafung gleichkommen. Darüber hinaus hat die Blockade schwerwiegende Auswirkungen auf die Menschenrechte der Bevölkerung in Gaza, insbesondere auf ihr Recht auf Bewegungsfreiheit sowie auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.“ Im Völkerrecht gibt es auch kein Recht auf Rache. Wie brutal und niederträchtig die Angriffe der Hamas auf Zivilisten auch waren, sie bilden keine Legitimationsgrundlage für ein Bombardement von Zivilisten und die Zerstörung der Infrastruktur einer der am dichtesten besiedelten und ärmsten Regionen der Welt.

Wenn sich nun der Kanzler ohne jede kritische Distanz hinter Israels Regierung stellt, dann lässt er das Völkerrecht hinter sich und macht sich zum Komplizen einer illegalen Vergeltungsaktion, die schon jetzt verheerendere Auswirkungen hat als die Verbrechen der Hamas. Zwar hat Außenministerin Annalena Baerbock inzwischen eingeräumt, dass Israels Recht auf Selbstverteidigung nur „in dem Rahmen, den das Völkerrecht für solche Ausnahmesituationen vorgibt“ gelte. Doch forderte sie weder eine Beendigung der Bombardierungen Gazas noch eine Aufhebung der völkerrechtswidrigen Blockade.

Es stellt sich auch die Frage, welche Lehren die hiesige Politik denn aus der deutschen Vergangenheit gezogen hat. Wenn es eine Lektion aus der Geschichte zu beherzigen gilt, dann doch wohl diese: dass Menschen ungeachtet ihrer Nationalität, Herkunft, Hautfarbe und Glaubensrichtung vor Gewalt und Menschenrechtsverletzungen zu schützen sind. Das gilt für israelische Bürger ebenso wie für die Bewohner des Gazastreifens oder der Westbank. Doch von einem Recht auf Schutz, Verteidigung und Solidarität, das den Bürgern Israels vollkommen zu Recht zugestanden wird, ist in Bezug auf die Palästinenser keine Rede. Nationalität und Hautfarbe entscheiden einmal mehr in Deutschland darüber, wem welche Rechte zuerkannt werden.

„Operation gegossenes Blei“

Deutsche Politiker betonen gerne, dass die Sicherheit Israels „deutsche Staatsräson“ sei. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn diese Sicherheit nicht auf Kosten anderer hergestellt werden soll. Die Politik von Besatzung, Blockade und Bombardierungen, die Israel seit Jahrzehnten praktiziert, hat die Sicherheit der palästinensischen Bürger erheblich untergraben. Sie hat außerdem Israel selbst unsicherer gemacht. Wenn man wie in Gaza mehr als zwei Millionen Menschen auf unabsehbare Zeit einsperrt, ihnen elementare Rechte verwehrt und sie immer wieder durch Bombenangriffe traumatisiert, wie etwa in der „Operation gegossenes Blei“ im Winter 2008/09 mit 1400 palästinensischen Toten (Israel hatte 13 Opfer zu beklagen), dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass irgendwann einige Tausend von ihnen zu massiver Gewalt greifen werden. Wem Israels Sicherheit und die der Palästinenser am Herzen liegt, sollte daran mitwirken, die Spirale der Gewalt zu stoppen und ihre Wurzeln zu beseitigen. Und das bedeutet, die Politik von Besatzung und Blockade zu beenden und den Palästinensern die volle Selbstbestimmung über ihre gesamten Territorien zurückzugeben, so wie es das Völkerrecht vorsieht. Auch wenn dies im Moment schwieriger denn je erscheint, so ist es doch der einzige Weg zum Frieden für Israel und Palästina.

Fabian Scheidler studierte Geschichte und Philosophie und arbeitet als freischaffender Autor für Printmedien, Fernsehen und Theater. 2015 erschien sein Buch „Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation“, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Zuletzt erschien im Piper Verlag „Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen“. Fabian Scheidler erhielt 2009 den Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus.