von Eurich Lobenstein
Alle sind entsetzt; Gewaltanwendung von Mächten, denen man bisher den Willen zum Frieden unterstellt hatte, war unvorstellbar; jedenfalls so, als ob Krieg in Europa nicht mehr möglich sei: die „Russen“ hatten sich kampflos aus der DDR zurückgezogen, hatten eine Reihe von Sowjetstaaten in die Unabhängigkeit entlassen, haben zugesehen, wie die NATO die Verhältnisse in Jugoslawien neu organisierte und schienen unendlich friedlich zu sein. Aber was ist Krieg? Clausewitz schreibt, er sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Und genau hier haben wir es: man hat in Europa überhaupt darauf verzichtet, Politik zu machen, egal ob mit diesen oder mit „anderen“ Mitteln. Die Katalanen haben ihren eigenen Staat nicht bekommen; die Engländer dagegen – sie sind aus der EU ausgetreten – hatten den Schotten eine solche Chance eingeräumt, aber aus Angst, als souveräner Staat erst einmal nicht zur EU gehören zu können, haben sie für den Verbleib bei Britannien gestimmt. Sehr europäisch sind diese Schotten. Wahrscheinlich wären sowohl die Katalanen als auch die Schotten heute noch EU-Länder, auch als souveräne Staaten. Die EU hat sich zu einem Moloch entwickelt, wie er einst das Hl. Römische Reich deutscher Nation war. Ein äquilibriertes System, das wie ein Kartenhaus keine Strukturänderungen (v)erträgt.
Also: keine Politik zu machen, lautet die Parole. Profilierte Nullen garantieren die politische Agonie, eine Ursula von der Leyen ist die ideale Galionsfigur der Unfähigkeit. Wo 1911 die Italiener sangen, „a Tripoli i Turchi non regnano piu“ sind die Türken wieder da. Italien hat jetzt Versorgungsprobleme nach dem Sturz von Gaddafi, weil es an „virtú dei pionieri“ fehlt.. In der Cyrenaika machen es sich die Russen bequem. Franzosen und Deutsche ziehen als geprügelte Hunde aus Mali ab, nachdem man von einer „grupa wagnera“ gehört hat. Man versteht ohnehin nicht, wieso „Nordmali“ unbedingt mit dem Land am Niger verbunden bleiben musste. Die politische Tendenz ist zu erkennen: Autonomie ist das Gebot der Stunde, aber genau die geht den Europäern gegen den Strich ihrer Grenzziehungen.
Russische Gebiete unter ethnischen Gesichtspunkten und Gebiete, wo die russische Sprache vorherrscht, gehören zur Ukraine. Gehören? Früher gehörte einem Fürsten ein Land, er war der Herr seiner Staaten. Ist das immer noch so, wie es in der Schweiz war, wo St. Gallen, das Waadtland, das Tessin der Aargau und der Thurgau „Untertanengebiete“ waren. Auch ein Magistrat einer Demokratie hat also ihm unterworfene Gebiete neben seinem eigentlichen Hoheitsbereich. Wenn das in er Schweiz möglich war, kann das im Osten Europas immer noch möglich sein. Dort gibt es noch ganz andere Ethnien: Tartaren. Eines ist sicher, die förmliche Grenzziehung von heute ist nicht für alle Zukunft zu vertreten. Wieso gibt es kein europäisches Grundrecht für jede Kommune, aus einen Staatsverband auszutreten? 10 Millionen Einwohner müssen doch das Recht haben, sogar einen eigenen Staatsverband zu gründen (Katalanien). Das sind doch ganz elementare Selbstverständlichkeiten, die ein demokratisches Europa gewähren müsste. Man sieht es auch in Korsika: warum soll sich der Süden der Insel nicht Italien anschließen dürfen? Weil Frankreich Korsika als Ausgleich für den Verlust seiner nordamerikanischen Besitzungen (1763) erwarb? Unter welchen monarchischen Staatsvorstellungen leben wir eigentlich noch?
In unserer Zeit wird die Schweiz gerne als Modell demokratischer Perspektive herangezogen. Auch das ist überholt. Die Schweiz ist ein mittelalterliches Gebilde. 1240 erhielten Uri und Schwyz von Kaiser Friedrich II Freibriefe als Dank für ihre Hilfe für die Belagerung von Faenza. 1499 und 1515 endeten die Schweizer Ambitionen auf Expansion. Im Zuge der französischen Revolution wurde die Schweiz in Departements gegliedert, was sie ins restaurative Lager trieb. Die siegreichen Fürsten beließen 1815 die Schweiz in der überkommenen Kantonsgliederung. Dabei ist es bis heute nicht nur geblieben, sondern das eigentlich untergegangene Bistum Basel ist als „Kanton Jura“ wieder erstanden. Weitere Folge ist, dass ein Kanton wie Zürich mit 35 Abgeordneten im Nationalrat vertreten ist, aber nur 2 Abgeordnete in den Ständerat schickt. Egal ob der Kanton 70.000 Einwohner hat wie Jura oder 2 Millionen wie Zürich, jede Kantonsverwaltung ist mit 2 Abgeordneten vertreten. Nicht das Schweizer Volk, sondern die Administrative der Schweizer Kantone regiert die Schweiz. Städte wie Winterthur oder Lausanne sind gar nicht im Ständerat repräsentiert, Basel-Stadt mit 200.000 Einwohnern hat sogar nur eine Stimme, weil seit 1830 sich Basel-Land verselbständigt hat. Die Schweiz ist ein Labor-Muster dafür, wie sich binnen 100 Jahren ein Verfassungssystem restlos überlebt; für das Deutsche Reich mit seiner „Weimarer Republik“ kann man das im Großen studieren.
Aber auch Frankreich steht nicht besser da: Indem man die Verfassung der 5. Republik änderte, dass der Präsident parallel zur Nationalversammlung gewählt wird, ist man wieder bei 1850 angekommen, bei der napoleonischen Plebiszit-Demokratie. Eines ist gewiss: die Unfähigkeit der Administrationen, die Probleme zu lösen und die Konfliktscheue der Bevölkerung wird in eine neue Epoche von Krieges führen. Vielleicht endet das mit einem europäischen Kim.
In diesem rechtlichen Chaos, der Desorganisation der Staaten und dem fehlenden Willen, Neues zu schaffen, bricht der Ukraine-Krieg aus. Er ist im Grunde ein erster Warnschuss: die Ukraine wird aus dem Krieg reduziert hervorgehen. Glänzende Sieger wird es nicht geben, Haare lassen alle. Aber das Problem ist eindeutig: Der Warnschuss ist wieder nicht verstanden worden. Doch andere kapieren es: Heute kann man wieder Bürgerkrieg führen: Flinten, Drohnen Toyota-Pick-ups. Alles ist da, was der moderne Bürgerkrieger benötigt.
Was wäre zu tun, wenn man das alles nicht will?
Eine limitierte Nationalversammlung für Europa wählen lassen (one man one vote), die ein gemeinsames Strafgesetz für ganz Europa verabschiedet. In allen Ländern wird mehr oder weniger das gleiche Verhalten bestraft. Aber die Europäer sind unfähig, ein gemeinsames Gesetz zu verabschieden. Und wenn man eine solche Versammlung für ein gemeinsames Strafrecht gewählt hat und ein solches Strafrecht hat, dann kann man schrittweise ein gemeinsames Ehe- und Ehescheidungsrecht durch weitere solche Versammlungen verabschieden lassen. Am Ende hat man dann ein gemeinsames europäisches Haus.
Aber so wird es nicht kommen, Man reguliert alles, was nicht interessiert: Die Eier-Klassen, die Gurken, die Breite der Nudeln. Aber wie wollen solche Affen dann eine gemeinsame Armee aufbauen? Alberner Gedanke.