Der Propagandist und die Propaganda

von Gideon Spiro

Die Rede von Israels Ministerpräsidenten vor der UN-Vollversammlung am 29. September 2014 war eine gewöhnliche Propagandarede. Eine Propagandarede, die als solche genannt werden kann, enthält eine gehörige Portion Lügen, Täuschungen und Irreführungen, die vermischt sind mit echten Tatsachen, und die Mischung ist dazu vorgesehen, die Herzen der Bevölkerung zu erobern. Alle Fernsehkanäle und die meisten Radiosender haben die Rede live übertragen.

Es gab keine Überraschungen. Alle Klischees, die Netanjahu immer wieder gebraucht, waren in dieser Rede enthalten. Er hat, Gott behüte, auch nicht vergessen, das Mantra vorzutragen, dass die IDF „die moralischste Armee der Welt“ sei. In der Strafaktion „Gegossenes Blei“ (2008/2009) wurden 121 Kinder getötet, und die IDF war die moralischste Armee der Welt. Im jüngsten Gaza Krieg (Sommer 2014) wurden mehr als 400 Kinder getötet, und es ist immer noch die moralischste Armee der Welt. Sogar noch moralischer. Mit einer solchen israelischen Logik kann man eine mathematische Formel erfinden, wonach je mehr palästinensische Kinder man tötet, die Moral der Armee stärker ist. Früher waren wir die Moralischsten der Welt und jetzt sind wir es erst recht.

Ein anderes Mantra, das eine Art Pflicht ist in jeder Propagandarede, trägt den Namen „Israel – die einzige Demokratie im Nahen Osten“. Sie fehlte nicht in der Rede. Wie lange noch wird Netanjahu diese Lüge wiederholen? Die ganze Welt weiß doch, dass in dem Gebiet, das unter israelischer Besatzung ist, seit 47 Jahren ein Apartheid Regime herrscht, das heißt, Menschenrechte für Juden und Gesetzlosigkeit für Palästinenser. Das ist ein abgenutztes Mantra, das seine Kraft und Macht verloren hat, und man kann es in die Schublade der Mantras ablegen, die nicht mehr wirken. 

Der Antisemitismus, oje der Antisemitismus, wie gut, dass es den gibt, ein treuer Verbündeter der israelischen Propaganda. Mit seiner Hilfe kann man jede Kritik verstummen lassen. Und der Islamische Staat, der neue Freund der israelischen Propaganda, wird allen Feinden Israels angeheftet, dem Iran, der Hamas und auch der Hisbollah. Wenn es keinen Unterschied gibt zwischen den Fundamentalisten, wird Netanjahus Puzzle nicht vollständig sein, wenn man nicht auch die jüdischen Fundamentalisten hinzufügen wird, die Rabbis der besetzten Gebiete, ihre Jünger und natürlich auch die Hügel-Jugend, die den Zionismus erneuern und ihm religiösen Fanatismus einhauchen.

Iran – wie könnte man ohne die iranische Atombombe auskommen. Netanjahu liest die Nachrichten über die Vereinbarung, die sich zwischen dem Westen und dem Iran in der Frage der nuklearen Bewaffnung abzeichnet und wird fast irre darüber. Obama handelt nicht nach seinen Anweisungen. Nach diesen Nachrichten wird der Iran nicht nur seine nukleare Potenz nicht verlieren, er wird sogar als ein Staat an der Schwelle zur nuklearen Bewaffnung angesehen. Netanjahu ist zu Recht besorgt wegen eines nuklearen Iran, aber was er in seiner Rede nicht erzählt hat, ist die Tatsache, dass Israel den Nahen Osten in den nuklearen Wettbewerb gedrängt hat. Da Israel eine Atommacht ist, wird es nicht verhindern können, dass auch andere das anstreben. Der sichere Weg, sich einer solchen Gefahr nicht auszusetzen, ist, die totale Entmilitarisierung der Region. Aber Netanjahu will den Iran entmilitarisieren und selber in Atom-U-Booten bis zu den Küsten des Irans fahren. Das wird nicht gehen. Wenn Israel sich nicht von seinen Atombomben trennt, dann wird der Iran auch welche entwickeln.

Netanjahu machte in seiner Rede einen Vergleich zwischen dem Islamischen Staat (IS) und den Nazis. So wie jene an der Überlegenheit der arischen Rasse geglaubt haben, so glaubt der IS, dass der Islam allen anderen Religionen überlegen ist. Dieser Vergleich scheint mir für sich allein unproblematisch, aber es ist sonderbar, dass es aus dem Munde eines Ministerpräsidenten kommt, dessen meiste Minister und er selber auch, viele Parlamentsmitglieder, Soldaten und Siedler, Rabbiner und viele andere glauben, dass die Juden das auserwählte Volk seien, dass Gott uns von allen Völkern auserwählt hat. Warum? Weil es so in der heiligen Bibel steht. Nach der Meinung, die heute innerhalb der israelischen Elite herrscht, erlaubt uns diese Stellung als Zionisten, andere zu quälen, zu vertreiben, zu töten und zu berauben.

Was absolut in der Rede Netanjahus gefehlt hat, ist die Besatzung. Eine Kleinigkeit, warum sollte man die Zuhörer damit belästigen? Jemand aus dem All, der Mitten im Vortrag von Netanjahu im Saal gelandet wäre, hätte gar nicht gewusst, dass Israel eine Kolonialmacht ist, die seit fast einem halben Jahrhundert das palästinensische Volk unterdrückt, seine Rechte mit Füßen tritt, sein Land raubt und Kriegsverbrechen begeht. Er hätte eine Menge schöner Worte von einer Nation gehört, die nur nach Frieden strebt und wo es nur einen Bösen gibt, Abu Masen. Noch eine der weiteren Lügen, die Netanjahus Rede ausgezeichnet haben.

Und als Abu Masen Israel beschuldigte, an den Palästinensern einen Genozid verübt zu haben, rieben sie sich im Büro von Netanjahu die Hände, da er ihnen die Axt in die Hand gab, die sie auf ihn niederprasseln lassen konnten. Er wurde geradezu aufgefordert, seine nachlässige Doktorarbeit über die Shoah aus dem Archiv rauszunehmen, in der er ihre Ausmaße verkleinerte, sodass man fast von einer Leugnung der Shoah sprechen kann. Abu Masen ist zwar von dieser Aussage zurückgetreten und erkannte die Shoah an, aber das interessiert niemanden im Streitfall, wo doch diese streitige akademische Schrift in den Bibliotheken liegt und jederzeit abgeholt werden kann, um Abu Masen einen Tritt zu verpassen.

Abu Masen irrte sich, als er Israel eines Genozid beschuldigte. Nicht nur, weil es hier keine Konzentrationslager gibt, in Ruanda wurde bewiesen, dass man einen Genozid auch mit Macheten durchführen kann, sondern weil von einer endgültigen Vernichtung die Rede ist. In dieser Phase des Konflikts ist eine solche Behauptung nicht richtig. Es gibt durchaus die Möglichkeit, die Situation mit Deutschland der 1930-er Jahre zu vergleichen, aber es müssen relevante Vergleiche sein. Wäre Abu Masen etwas vorsichtiger mit seinen Worten, wären sie anders angenommen und verstanden worden. Zum Beispiel zu erwähnen, dass immer mehr Israelis in Begriffen von Genozid denken. Begonnen damit hat, nach meiner Erinnerung, Itzchak Rabin, als er erklärte, dass seinetwegen Gaza im Meer versinken könne. Das ist eine Aussage, die auch einen Aspekt von Genozid hat. Wenn Abu Masen gesagt hätte, dass im letzten Krieg die Bevölkerung von Gaza, fast zwei Millionen Menschen, eingeschlossen war zwischen dem Meer und den elektronischen Mauern und Zäunen, und es gab keine Fluchtmöglichkeit! Tausende Tote, zigtausende Verwundete, hunderttausende Obdachlose, wegen der massiven Zerstörung durch die Bomben, Krankenhäuser ohne Medikamente, Kinder, denen Körperteile fehlten, die in den Gängen lagen, weil alle Zimmer voll belegt waren, der Lärm von Flugzeugen und Detonationen, Rauchsäulen, die wie Atompilze aussahen, all das schafft eine Katastrophe in der Größenordnung eines Tsunami, jedoch keinen von der Natur verursachten, sondern von Menschenhand. In solchen Augenblicken sah es zuweilen aus, als ob die Vision von Rabin – Gaza möge im Meer untergehen – sich verwirklicht. Hätte Abu Masen das gesagt, wären seine Worte anders angekommen und beurteilt worden.

Wenn er gesagt hätte, dass die Rufe „Tod den Araber“, die in immer mehr Demonstrationen ertönen, Werte von Genozid verkörpern, hätte er Recht gehabt. Hätte er Vergleiche angestellt zwischen dem Verhältnis des israelischen Eroberers zum palästinensischen Eigentum und dem der Nazis zum jüdischen Eigentum in den 1930-er Jahren, nachdem Hitler an die Macht kam, und hätte er sich an wissenschaftliche Arbeiten orientiert, die nachweisen, dass es nicht eine Siedlung gibt, die nicht auf von Privaten geraubten Boden errichtet wurde, hätte er Recht gehabt. Letztens wurde auch bekannt, dass die Zentrale der Polizei in den besetzten Gebieten auf privaten Land gebaut wurde. Dieses Thema ist mir auch bekannt durch meine Familie, die wohlhabend war in Deutschland und über Besitz verfügte, einschließlich Ländereien, und vollkommen mittelos nach Palästina gekommen ist, nachdem ihr Besitz genauso geraubt wurde, wie der Besitz der Palästinenser durch den Staat und die Siedler geraubt wurde.

Der Unterschied zwischen Israel und Deutschland in dieser Frage ist, dass das demokratische Deutschland den geraubten Besitz den früheren Eigentümern oder ihren Erben zurückgab. Israel, die einzige Demokratie etc., fährt seit nunmehr 47 Jahren fort mit einer Politik von Raub und Beschlagnahmung von privaten palästinensischen Besitz. Hätte Abu Masen gesagt, dass die israelische Besatzung grauenhafter ist, als die deutsche Besatzung in Dänemark, hätte er Recht gehabt. Hätte er gesagt, dass in der Schublade des Generalstabschef Pläne liegen für eine ethnische Säuberung (vorläufiger Name „Vertreibung von Amalek“), dann hätte er Recht. Aber er zog eine allgemeine Beschuldigung vor, und Netanjahu hat dies politisch ausgenutzt.

Die Anstrengung der Israelis die Auseinandersetzung mit den Palästinensern in der Frage des Genozid zu belassen, tut Abu Masen Unrecht. Im Gegenteil zu Netanjahu, der keine politische Perspektive aufzeigte, nicht zu reden von einem Friedensplan, breitete Abu Masen einen Plan aus, der zu einem israelisch-palästinensischen Frieden führen könnte. Sein Plan ist Israel zu zwingen, die Besatzung zu beenden und zu den Grenzen vom 4. Juli 1967, innerhalb von drei Jahren zurückzukehren. Danach soll es zwei Staaten geben, Palästina und Israel, dies ist es wert, unterstützt zu werden. Das alles unter der Aufsicht der Vereinten Nationen. Netanjahu hat aber diesen Plan mit Hochmut und Überheblichkeit abgelehnt, weil er das amerikanische Veto in der Tasche hat. Hier zeigt sich der negative Aspekt der amerikanischen Unterstützung. Solange die USA noch fortfahren, Israel aufzurüsten und bei jeder Entscheidung, die von Israel eine Beendigung der Besatzung fordert, ein Veto einzulegen, und Deutschland weiter Atom-U-Boote liefern wird, bleibt die Hoffnung auf eine Änderung unerfüllt, und die Kriegstreiber werden auf ihre Kosten kommen.

Übersetzung aus dem Hebräischen: Abraham Melzer.

3 Gedanken zu „Der Propagandist und die Propaganda

  1. Sehr geehrter Herr Melzer,

    zunächst herzlichen Dank für die Fortführung der Zeitschrift in elektronischer Form. Ich war Abonnent der Printausgabe bis zum Ende, das ich sehr bedauert habe. Ein Vorteil ist natürlich die jetzt erreichte Aktualität. Ihre Übersetzungen sind für mich ohne Hebräisch-Kenntnisse unverzichtbar.

    Grüße aus München
    Rolf Eckart

  2. Netanjahu wurde schon von viele Politikern als Lügner Gauner bestätigt, und Moral!, was ist das? Kinder, Frauen, Alte Leute töten, oder Kinder entführen, Häuser zerstören und Rauben. Jede palästinensische Familie ist betroffen von den täglichen Verbrechen, und dies seit 1947.

  3. Israelische Soldaten nehmen ein Palästinensisches Kind fest: „Ihr dürft mich heute nicht verhaften. Morgen habe ich Schulprüfung!“ Mittwoch, den 24.04.2014 Übersetzung Khalid Tatour.

    Haifa – „Alittehad“ – Eine Reihe von Sozial-Networking-Websites veröffentlichte ein Video-Clip über die Festnahme palästinensischer Kinder durch israelische Soldaten. Ein Junge bat die Soldaten, ihn noch nicht sofort zu verhaften und nach ein paar Tagen wieder zu kommen, wenn er seine Prüfung geschrieben hätte. Das Kind sagte zu den jungen Soldaten: „Ich habe morgen Prüfung, die kann nicht verschoben werden; ich muss doch in die Schule, um meine Prüfung zu schreiben. Kommt an einem anderen Tag, dann gehe ich mit Euch.“ Aber ein israelischer Soldat packte den Jungen und schrie: Du kommst mit, ich nehme dich fest. In ein paar Tagen kommst Du wieder nach Hause.“

    Aber was ist, wenn er nicht so schnell wieder nach Hause kommt? Und erfährt man, wer wann nach Hause kommt?!! Die Mutter schaute den Soldaten verzweifelt an und bat ihn, die Verhaftung zu verschieben. Dann küsste sie resigniert ihrem Sohn die Stirn; sie beugte sich der Forderung der Soldaten und ließ die Verhaftung geschehen. Er wurde mit verbundenen Augen abgeführt und kam für 18 Tage in das Gefängnis von Ofer. Man beschuldigte ihn, Steine auf israelische Soldaten geworfen zu haben. Medienberichten zufolge war der Junge kaum 15 Jahre alt.
    Khalid Tatour

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