Der siebte Oktober 2023 – Terror und Herausforderung

Richard Glöckner, Gastautor

Der Terrorangriff von Kampftruppen der langjährigen Widerstandsgruppe Hamas am 7. Oktober 2023 im Grenzgebiet zwischen dem Staat Israel und dem von Israel kontrollierten Gazastreifen war zweifellos ein äußerst gewalttätiger und in den Einzelausführungen barbarischer Terrorakt. Zwischen 1200 – 1400 unbeteiligte israelische Bürger und Gäste Israels wurden grausam ermordet. Besonders abstoßend war, dass man einzelne barbarische Vorgänge auch noch dokumentiert hat. Dass unendliche Trauer und auch Wut die spontane Reaktion und Antwort der Betroffenen sind, ist durchaus nachvollziehbar.
Angesichts dieser verheerenden verbrecherischen Tatsachen drängt sich die Frage auf, wie war so etwas möglich? Wer denkt sich solche Brutalitäten und Grausamkeiten aus und setzt sie auch noch in die Tat um? Dass hier wiederum maßlose Formulierungen in der Schuldzuweisung und krasse Rufe nach einer umfassenden Vergeltung auftauchen, ist menschlich verständlich. Auffallend ist allerdings, dass im Stimmengewirr nirgends der eigentlich übliche Ruf nach gerechter und angemessener Bestrafung der Schuldigen auftaucht.
Er fehlt auch bei denen, die für Rechtssicherheit und gesellschaftliche Ordnung verantwortlich sind und die von daher mäßigend auf die Emotionen einwirken müssten. In einem Rechtsstaat muss es um Gerechtigkeit und nicht um Rache und Vergeltung gehen. Das scheint im Staat Israel offenbar derzeit nicht anzukommen.
Im Gegenteil: Mehr als fragwürdig ist die Reaktion führender Militärs, Politiker und bekannter Personen des öffentlichen Lebens.[1] So sagte Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend.“ Doron Ben David, ein berühmter Schauspieler meinte: „Gaza muss ausgelöscht werden!!!, Ausgelöscht!!! Mit allem, ohne auch nur ein Staubkorn von dem Ort zu hinterlassen, aus dem solche humanoiden Tiere kommen.“ Auch schon früher haben führende Israelis die Palästinenser etwa als »Kakerlaken auf zwei Beinen« bezeichnet. So kann auch Danny Ayalon, ehemaliger stellvertretender Außenminister sagen, „dass Israel die Zivilbevölkerung in Gaza aus Rache aushungert.“ Das Knessetmitglied Merav Ben-Ari sagte: „Die Kinder in Gaza haben sich das selbst eingebrockt.“ Kinder! Schuldig!? Offene Bestrafung? Wo sind wir? Ein israelischer Reservist fordert: „Löscht ihre Familien, ihre Mütter und ihre Kinder aus. Diese Tiere dürfen nicht mehr leben.“
Im allgemeinen Stimmengewirr geht es durchweg um »auslöschen«, »bis auf die Grundmauern zerstören«, »in Trümmer verwandeln«. „Ihr wollt die Hölle, wir werden euch die Hölle geben.“ Ministerpräsident Netanjahu bemüht sogar die Bibel und sieht in den Palästinensern das antike Volk der Amalekiter, für das es schon damals nur eine Zukunft gab: »auslöschen« (Buch Deuteronomium 25,19). „Vernichtung“ war schon bei der ersten Landnahme ca. 1200 vor Christus das Einzige, was die dort lebenden Völker zu erwarten hatten (vgl. Deuteronomium 7,2).
Einem Gegner oder Feind oder auch schlimmsten Verbrechern die Menschenwürde abzusprechen, sprengt den Rahmen einer zivilen Gesellschaft.
Dass Mitglieder in führenden politischen und gesellschaftlichen Schichten sich so äußern und eine pogromartige Stimmung schaffen, dürfte in einem von den „westlichen Werten“ geleiteten Staat, der sich selbst als „einzige Demokratie“ im Vorderen Orient bezeichnet, schwer einzuordnen sein. Diese Äußerungen werden aber von den westlichen Politikern und Medien nicht zur Kenntnis genommen. Lapidar erklärt der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, er sei sicher, dass Israel das Völkerrecht achte und einhalte. Woher mag er diese Sicherheit haben?
Im derzeitigen Stimmengewirr um die Frage, was aus Gaza werden soll, tauchen in der Presse Vermutungen auf, die sich auf Reden von führenden Politikern stützen und unter dem Stichwort Gaza-Nakba kursieren. Konkret schreibt Ariel Kallner, Mitglied des israelischen Parlaments und Vorsitzender des parlamentarischen Ausschusses für die Beziehungen zwischen Israel und der EU: „Nakba! Nakba größer als die 48, die Alternative ist klar. Nakba in Gaza und Nakba gegen jeden, der mitmacht! Ihre Nakba wie die damals 48, die Alternative ist klar“.

Welche Vorstellungen und Wünsche werden damit laut? Die Charakterisierung der Nakba von 1948 kurz vor und nach der Gründung des Staates Israel lässt sich historisch zuverlässig recherchiert mit einigen Passagen aus den Büchern von Ilan Pappe, Die ethnische Säuberung Palästinas, Frankfurt am Main 2007, S. 130f und
Petra Wild, Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina, Wien 2013, S. 17 belegen.

Petra Wild schreibt:
„Die ethnische Säuberung im großen Stil begann im März 1948, nachdem der innerste zionistische Führungsstab die Umsetzung des zu diesem Zweck bereits vorbereiteten »Plan Dalet« [alle den Juden zugesprochenen Regionen „araberfrei“ machen] beschlossen hatte…. Teilweise wurden die Menschen direkt vertrieben, teilweise durch Gräueltaten zur Flucht gezwungen. Massaker an der Zivilbevölkerung spielten eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Furcht und Schrecken. Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand begingen zionistische Truppen mindestens 70 Massaker und Gräueltaten, von denen die bekanntesten in Deir Yassin bei Jerusalem/al-Quds, Tantura bei Haifa und Duwayma bei Hebron/al-Khalil stattfanden.“

Ilan Pappe schreibt zur Situation in Deir Yassin im April 1948.:
„Das »freundliche Hirtendorf« hatte mit der Hagana in Jerusalem einen Nichtangriffspakt geschlossen, war aber dazu verurteilt, ausradiert zu werden, weil es innerhalb der Gebiete lag, die in Plan Dalet für die Säuberung vorgesehen waren… Als die jüdischen Soldaten in das Dorf eindrangen, nahmen sie die Häuser mit Maschinenpistolen unter Dauerfeuer und töteten viele Einwohner. Anschließend trieben sie die übrigen Einwohner an einem Ort zusammen, ermordeten sie, schändeten ihre Leichen und vergewaltigten eine Reihe von Frauen, bevor sie sie töteten. Der damals zwölfjährige Fahim Zaydan erinnerte sich, wie seine Familie vor seinen Augen ermordet wurde: »Sie holten uns nacheinander heraus, erschossen einen alten Mann, und als eine seiner Töchter schrie, erschossen sie sie ebenfalls. Dann riefen sie meinen Bruder Muhammad und erschossen ihn vor unseren Augen, und als meine Mutter sich schreiend über ihn beugte – sie hatte noch meine kleine Schwester Hudra im Arm, die sie gerade stillte –, erschossen sie sie auch.«… Unter den Opfern des Blutbades in Deir Yassin befanden sich 30 Babys…“
Petra Wild:
„In Deir Yassin wurden im April 1948 zwischen 100 und 150 der 750 Dorfbewohner – Männer, Frauen und Kinder – getötet. 25 der überlebenden Männer wurden daraufhin in blutdurchtränkter Kleidung im Triumphzug durch Jerusalem geführt, um dann in einer ruhigen Ecke der Stadt erschossen zu werden.
In Tantura wurden im Mai 1948 vor allem Männer auf den Straßen, in den Häusern und in kleinen Gruppen auf dem Friedhof des Dorfes erschossen. Einige hatten zuvor noch ihre Gräber ausheben müssen.
Die Gräueltaten in Dawayma im Oktober 1948 wurden von einem Soldaten, der direkt nach dessen Besetzung in das Dorf beordert wurde, wie folgt geschildert: Sie töteten etwa 80-100 Araber, Frauen und Kinder. Die Kinder wurden getötet, indem ihre Schädel mit Knüppeln zertrümmert wurden. Es gab kein einziges Haus ohne Tote… In dem Dorf verbliebene Männer und Frauen wurden ohne Essen und Trinken in Häuser gesteckt. Dann kamen die Pioniere, um die Häuser zu sprengen. Ein Offizier befahl einem Pionier, zwei alte Frauen in das Haus zu bringen, das zu sprengen er sich anschickte. Der Pionier weigerte sich… Also befahl der Offizier seinen eigenen Soldaten, die alten Frauen hineinzubringen und die Gräueltat wurde ausgeführt. Ein anderer Soldat brüstete sich damit, dass er eine arabische Frau vergewaltigt und dann erschossen hatte.“

Die hier skizzierten Beispiele ließen sich um viele ähnliche, wie auch die in Filmen dokumentierte, mörderische Vertreibung der Palästinenser aus Haifa erweitern. Sie verdeutlichen eines: Es hat nicht nur eine Massenflucht von etwa 700.000 Palästinensern gegeben. Die war ausgelöst und wurde vorangetrieben durch zahllose Massaker, deren unmittelbarer Zweck die Vernichtung von Palästinensern war; gleichzeitig sollten sie in der Bevölkerung chaotische Ängste auslösen und die Menschen zur Flucht treiben.
Man kann nun sagen: Das ist mittlerweile rund 80 Jahre her und damit Vergangenheit. Diese Vergangenheit ist aber in der heutigen palästinensischen Gesellschaft emotionale Gegenwart. Nimmt man die Gruppe der gewalttätigen Terroristen vom 7. Oktober, so haben möglicherweise die Ältesten von ihnen das Jahr 1948 als Kinder erlebt. Vielleicht waren sie persönlich Zeuge und sind in ihrer Erinnerung und ihrem Erleben immer noch dabei. Es geht um ihre eigene Lebensgeschichte. Vielleicht haben sie selbst erlebt, wie vor ihren Augen Mutter oder Vater erschossen wurden, wie man die Mutter vergewaltigte, bevor man sie ermordete; wie man eine Tante oder Großmutter in ein Haus zerrte, das man dann in die Luft sprengte.
Wie man Babys den Kopf mit Holzknüppeln zertrümmerte, ist zwar nicht gefilmt worden, ist aber mit Sicherheit geschehen und nicht vergessen worden. Kinder und die folgende Generation, die es nicht selber gesehen haben, erlebten es durch Erzählen und Schilderungen in ihren Familien. So oder so wuchsen sie in einer traumatisierten und traumatisierenden Umwelt auf. Die Folge war eine Atmosphäre von Verzweiflung, Wut und Hass. Die erhielt auch in den Jahren nach 1948 immer neue Nahrung durch permanente Entrechtung, Demütigungen, Schikanen und Beraubungen im alltäglichen Leben. Man lese nur einmal bei „Braeking the Silence“ und „Checkpoint Watch“ nach, wie sich der Alltag der Palästinenser nach 1967 abspielte. Und all das, „während die Welt schlief“[2] und für die Palästinenser im kollektiven Bewusstsein der Welt immer noch schläft. Am Rande werden auch heute Hinweise auf den Landraub bei der Staatsgründung, die Massaker von 1948 und den räuberischen Siedlungsbau in der Westbank manchmal zwar gestreift, ohne in ihrer traumatisierenden Wirkung ernst genommen zu werden.
Die Öffentlichkeit ist heute zu Recht fassungslos und empört über die Art, wie das Massaker am 7. Oktober durchgeführt wurde und macht sich Gedanken über die Abgründe von Niedertracht, Bosheit und Brutalität. Wenn man es aber nüchtern analytisch betrachtet, dann haben die Täter der Hamas gemäß ihrem politischen und sozialen Umfeld reagiert und umgesetzt, was sie selbst bei der Nakba und in der folgenden Unterdrückungsgeschichte erlebt haben und was sich ihrem Leben emotional eingebrannt hat. Ihr Tun weist sie nicht als »humanoide Tiere« aus, sondern zeigt, wozu zutiefst verletzte Menschen fähig sind. Sie waren am 7. Oktober nicht aus dem Nichts des absolut Bösen plötzlich da, sondern handelten getrieben von einer von Hass und Wut entstellten Lebensgeschichte. Erlittene Gewalt haben sie ungefiltert in einen Ausbruch von Wut, Hass, Grausamkeit und Verzweiflung umgesetzt. Sie demonstrieren in erschreckender Unmittelbarkeit die Umwandlung von Opfern in Täter. Kann man diese Überlegungen wirklich nur als ein psychologisierendes Mutmaßen oder eine realitätsferne Spinnerei abtun, oder liegen sie bei normalem menschlichem Empfinden nicht einfach auf der Hand?

Es fordert schon Mut gegenüber dem eigenen Erschrecken, die Zusammenhänge so zu interpretieren. Aber die einseitige und ausschließliche Konzentration auf das Leid der Opfer vom 7. Oktober weigert sich, die Problematik in ihrer wirklichen Abgründigkeit wahrzunehmen. Die Ermordeten und die schockierten und trauernden Hinterbliebenen sind Teil einer sie umklammernden Geschichte, die sich nicht in Luft auflösen lässt. Wenn man den Hinweis auf diese Verbindungen als moralisch unangemessen und empörend zurückweist, sollte man nicht vergessen, dass Israelis das Attentat ständig mit dem Holocaust in Verbindung bringen, die Attentäter als geistige Nachfolger der Nazis bezeichnen. Aber die Geschichte Israels und die der Palästinenser ist wesentlich enger miteinander verwoben als palästinensische Beziehungen zum NS-Reich. Die Geschichte Israels hat die Palästinenser wesentlich intensiver geprägt als der behauptete, ideologisch und emotional entlastende Brückenschlag zu Nazideutschland. Die heute oft gezeigten trauernden Familien in Israel verdienen Anteilnahme und Respekt vor ihrer berechtigten Forderung nach Wiedergutmachung. Man darf sie aber nicht einfach trennen von den von der Nakba Betroffenen – von den mittlerweile ein Leben lang trauernden palästinensischen Müttern und Kindern, die über Jahrzehnte nicht wahrgenommen wurden und noch heute leicht aus dem Blickfeld geraten. Die Söhne dieser Mütter wissen um eine äußerst leidvolle Vergangenheit und haben zudem ein Leben ohne jede Perspektive vor sich. Die heutigen Bilder und Stellungnahmen in offiziellen radikalen Verurteilungen und in den Medien fangen nur einen Teil der Wirklichkeit ein und blenden den Blick auf das ganze Geschehen aus. Aber dieser ausgeblendete Teil der Geschichte hat maßgeblich dazu beigetragen, was am 7. Oktober geschehen ist. Die Täter der Hamas haben schreckliche Verbrechen begangen, aber nicht aus Mordlust oder getrieben von tierischen Instinkten. Es ist der aus einer Mischung von Wut, Hass und Verzweiflung geborene Versuch, die hoffnungslose Lage der Palästinenser – besonders im Freiluftgefängnis Gaza – zu ändern; sie wenigstens ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit zu bringen. Die Hamas versteht sich als die einzige Stimme und Kraft, die noch aktiv für die Belange von Gaza und der Palästinenser etwas erreichen kann. Ob dies angesichts ihrer rapide sinkenden Popularität bei der Bevölkerung in Gaza noch gilt, ist fraglich. Zudem kämpfen sie mit äußerst fragwürdigen Methoden für eine Befreiung und die Freiheit Palästinas. Jüdische Brigaden haben 1948 grässliche Verbrechen begangen, um den Staat Israel zu etablieren. Betrachtet man allein ihre Taten, so kann man hier Verbrecher gegen Verbrecher stellen – von ihrer Intention her heldenhafte Patrioten gegen Freiheitskämpfer – nicht einfach gegen Terroristen. Beide Kategorien sollte man gelten lassen.

Wie kann es weitergehen? Wenn heute führende Stimmen in Israel als Antwort auf die Ermordungen eine neue Gaza-Nakba ins Spiel bringen, so macht das fassungslos. Soll die Zukunft der Palästinenser in der Wiederholung eines Schandkapitels jüdischer Geschichte im Umfeld der Gründung des Staates Israel liegen? Anstatt die verständlichen Emotionen der vom Attentat Betroffenen noch anzuheizen, sollte der Staat Israel darüber nachdenken und zugeben, inwiefern er selbst für die Katastrophe verantwortlich ist und ernsthaft nach Möglichkeiten suchen, die politisch und sozial explosive Situation zu entschärfen. Ministerpräsident Netanjahus Worte: „Die Besatzung wollen wir nicht abschaffen, wir wollen sie verwalten.“ zeigte am 7. Oktober ein fürchterliches Zwischenergebnis!
Dem Generalsekretär der Vereinten Nationen Guterres ist zuzustimmen, wenn er sagte, die Katastrophe sei nicht in einem »luftleeren Raum« geschehen. Damit wollte er die Verbrechen und das Leid der Betroffenen weder relativieren noch verharmlosen. Er wollte darauf aufmerksam machen, dass weitere ähnliche Katastrophen nur vermieden werden können, wenn man ehrlich mit der eigenen Vergangenheit umgeht und daraus lernt, dass Gewalt nur neue Gewalt provozieren wird. Auf keinen Fall gibt es die uneingeschränkt Guten auf der eigenen Seite und die unsagbar und deshalb unerreichbar Bösen auf der anderen Seite. Nur wenn Israel bereit ist, mit diesem erlittenen furchtbaren Unrecht im Hinblick auf die eigenen Schwächen maßvoll umzugehen und einen für alle Seiten gerechten Neuanfang sucht, kann es in Palästina Frieden geben.

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