von Heiko Flottau
Die Analysen des Terrorangriffes in Paris sind richtig, doch es fehlt ein Aspekt – die arabische Welt nimmt die USA und Europa vor allem als Kolonialmächte wahr.
In der Berliner Zeitung vom Samstag, dem 10 Januar, erklärt Mouhamad Khorchide, in Beirut geborener und in Münster lehrender Professor für islamische Religionspädagogik, Muslime ausserhalb Europas verbänden mit „dem Westen“ nicht so sehr den Hort von Demokratie und Menschenrechten, sondern Machtpolitik ohne Rücksicht auf Rechte und Werte anderer. „Solche Wahrnehmungen lassen sich mit Theologie allein nicht verändern“, sagte Khorchede in dem Interview.
Ob die alle menschlichen Werte verachtenden Terroristen von Paris die Geschichte westlicher Machtpolitik, westlicher Interventionen im Nahen Osten also, im Einzelnen gekannt haben, ist mehr als zweifelhaft. Ihre Hintermänner aber indoktrinieren solche Verbrecher mit zwei Dingen: seit mehr als einem Jahrhundert hätten Europa und die USA die muslimische Welt nach ihren eigenen ökonomischen und politischen Interessen gestaltet. Und: um sich heute dagegen zu wehren gebe es nur ein Mittel, den, angeblich im Islam vorgeschriebenen, „Heiligen Krieg“, den Dschihad.
Tatsächlich ist die Liste westlicher Interventionen in die Geschicke des Mittleren und Nahen Ostens lang.
- 1882 setzt sich Grossbritannien in Ägypten fest, weil ihm der nationalistische Oberst Ahmad Orabi , der das Ende der westlichen Finanzkontrolle über sein Land gefordert hatte, im Wege stand.
- Anfang des 20. Jahrhunderts, rechtzeitig vor dem Weltkrieg, requiriert Grossbritannien die iranischen Ölvorkommen für sich.
- In Voraussicht auf die Niederlage des Osmanischen Reiches im Weltkrieg teilen Grossbritannien und Frankreich im Sykes-Picot-Abkommen 1916 den Nahen Osten unter sich auf.
- 1953 stürzen England und die USA den iranischen Premier Mohammed Mossadeq, weil dieser die iranischen Ölvorkommen verstaatlicht hatte.
- 1956 überfallen England, Frankreich und Israel Ägypten, weil Präsident Abdel Nasser den Suezkanal verstaatlicht hatte.
- 1980 dulden die USA den Angriff des irakischen Diktators und US-Verbündeten Saddam Hussein auf den Iran – in der Hoffnung, dass sich die beiden Golfmächte selbst zerfleischen und so den amerikanischen Einfluss bewahren. Etwa eine Million Menschen sterben.
- 1991 vertreiben die USA Saddam Hussein aus Kuwait, mit dem Argument, er habe die Resolution der UN, sich aus Kuwait zurückzuziehen, nicht befolgt. Die arabische Welt aber beklagt, dass nicht auch Israel gezwungen werde, UN-Beschlüsse zu befolgen, die das Land auffordern, sich aus den 1967 besetzten palästinensischen Gebieten zurückzuziehen.
- 2003 marschieren die USA im Irak ein und zerstören die gesamte militärische und politische Infrastruktur des Landes. Etwa 100‘000 Zivilisten sterben bei den US-Luftangriffen. Eine Folge: der, sogenannte, „Islamische Staat in der Levante“ kann von Syrien aus das so im Irak entstandene Vakuum füllen und grosse Teile des Landes erobern.
- Schliesslich: in drei Gazakriegen tötet Israel mehrere Tausend Palästinenser – ohne von den USA und Europa daran gehindert zu werden.
Unterdrücker – statt Hort der Freiheit
Nicht jeder einzelne Bürger des Iran und der arabischen Welt kennt diese Geschichte im Einzelnen. Und nicht jeder zum Terroristen gewordene Muslim kennt sie. Doch es gibt so etwas wie ein kollektives Gedächtnis. Und in diesem kollektiven historischen Bewusstsein gilt „der Westen“ eher als Unterdrücker der muslimischen Welt denn als Hort der Freiheit.
Dennoch haben viele Araber, viele Muslime ein durchaus gespaltenes Verhältnis zu diesem „Westen“. Einerseits gilt er als gross er kolonialer Unhold, andererseits aber ersehnen sich arabische Bürger jene wirtschaftlichen Chancen und persönlichen Freiheitsrechte, welche ihnen die eigenen autokratischen Regime meistens versagen. Böte man etwa eine amerikanische Green Card an, also die Erlaubnis zur Übersiedlung in die USA, zum Nulltarif sozusagen, Hunderttausende, wenn nicht Millionen Bürger Araber würden zugreifen.
Für Al-Qaida freilich und für den „Islamischen Staat“ sind solche Differenzierungen haram – verboten, weil nicht opportun, denn sie passen nicht in das einseitige Konzept, das sich diese Terrorgruppen von der westlichen Welt machen, ja machen müssen, um Kämpfer für ihren Heiligen Krieg zu rekrutieren.
Zweite Geburt des Islamismus
Freilich hat es in der Geschichte der nahöstlichen Staatenwelt durchaus Versuche gegeben, den Widerstand gegen westliche Interventionen anders zu motivieren als mit dem Islam. Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser (Regierungszeit 1952 bis 1970), gläubiger Muslim, sah in einem zu bildenden arabischen Nationalismus, in der Wirtschaftsform des Sozialismus und in einer Politik der Blockfreiheit (die er mit Jugoslawiens Tito, Indiens Nehru und Indonesiens Sukarno begründete) jene Chancen, dem Westen, insbesondere Israel politisch entgegenzutreten.
Dieser Traum ging im Nahostkrieg von 1967 ein für allemal zugrunde. In dem von Israel als Präventivkrieg deklarierten Waffengang verfolgte Israel auch das ideologische Ziel, den Nationalismus Nassers zu besiegen. Der Erfolg war durchschlagend. Einen alle Bürger der Region umfassenden arabischen Nationalismus gibt es nicht.
Doch Israels Sieg von 1967 war ein Pyrrhussieg. Ideologische Motivation für arabischen Widerstand, etwa gegen Israel, ist nicht mehr arabischer bzw. palästinensischer Nationalismus, wie ihn etwa noch Jassir Arafats PLO verkündet hatte, sondern, oft militanter Islamismus. 1967 entstand die Losung „Islam ist die Lösung“. So kann man das Jahr 1967 als die zweite Geburt des Islamismus bezeichnen.
Aus dem „Neuanfang“ wurde nichts
Auch die erste Geburt im Jahre 1928 ist aus dem Widerstand gegen westliche Interventionspolitik entstanden. Damals gründete der Lehrer Hassan al-Banna in der am Suezkanal gelegenen Stadt Ismaelia die Muslimbruderschaft. Denn in Ismaelia konnte Hassan al-Banna täglich einen handfesten Beweis für die westliche Präsenz in der muslimischen Welt sehen – eben den im englischen Besitz befindlichen Suezkanal. Und: fünf Jahre zuvor hatte der türkische Modernisierer, Laizist und Nationalist Kemal Atatürk der muslimischen Welt durch die Abschaffung des Kalifats einen schweren Schlag versetzt. Denn das Kalifat war eine Institution, welche die Muslime zumindest symbolisch noch ein wenig geeinigt hatte. Von nun an galt es, so die Ideologie der Muslimbrüder, auch jene Muslime zu bekämpfen, die sich nicht dem „wahren Islam“, sondern Laizismus und Sozialismus verschrieben hatten, westlichen Werten also, die im Islam keinen Platz hätten und daher abzulehnen seien.
Diese historischen Verwundungen von westlicher Seite allmählich zu überwinden, hat Barack Obama in seiner Rede in der Universität von Kairo vom 4. Juni 2009 versucht. Sie stand unter dem Titel „Ein Neuanfang“. Obama bestätigte zwar seine Allianz mit Israel, forderte aber ausdrücklich einen Staat für die Palästinenser. Aus diesem Neuanfang ist allerdings nichts geworden. Die Regierung Benjamin Netanjahus blockiert bis heute die Bildung eines solchen Staates. Und im Irak ist Obama durch den Krieg, den sein Vorgänger George Bush junior angezettelt, und den Obama immer abgelehnt hat, gefangen. Denn ein Resultat des Bush-Krieges von 2003 ist das Erstarken des „Islamischen Staates“ im Irak, den Obama jetzt bekämpfen muss. Eine fast tragische politische Situation für einen amerikanischen Präsidenten, der vor noch nicht allzu langer Zeit erklärt hat, dass jeder Krieg einmal zu Ende gehen müsse.
Die „Märtyrer“ von Paris
Und nun also die Attentate von Paris. Einer der obersten Führer der Hamas in Gaza, Mahmud Zahar, hat einmal gesagt, Israel habe seine F- 16 Bomber, dagegen stelle die Hamas ihre Selbstmordattentäter. So ähnlich werden auch die ideologischen Hintermänner der Morde von Paris argumentieren. Die drei Dschihadisten von Paris wollten sterben, sie wollten „Märtyrer“, wie die Islamisten sagen, sein im Kampf gegen den westlichen Bösewicht. Nachdem arabischer Nationalismus und arabischer Sozialismus im Krieg von 1967 sang- und klanglos untergegangen sind, muss jetzt der Islam in seiner total degenerierten Form des Islamismus als ideologischer Firnis herhalten.
Zu hoffen bleibt, dass sich Frankreich weiter zusammen schliesst wie am historischen Sonntag des 11. Januar 2015, dass der Front National in Frankreich und Pegida in Deutschland diesen Impetus nicht lahmlegen, dass vor allem Herrscher und islamische Schriftgelehrte in der muslimisch-arabischen Welt die Botschaft aus Paris verstehen – und dass die USA und Europa ihre Politik gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten überdenken und ändern.
Ein abermaliger Neuanfang ist von Nöten. Auf allen Seiten.
Zuerst erschienen in: www.journal21.ch