Von Abraham Melzer, 19.11.2023
Franz Fanon hat in seinem Buch „Die Verdammten dieser Erde“ solche Gewalt wie am 7. Oktober 2023 vorausgesehen. Zu den Unterdrückten und kolonisierten, die er in seinem Buch beschreibt, gehören auch die Palästinenser. Weil Greta Thunberg Empathie für diese Elenden und Unterdrückten hat, wirft der Spiegel ihr vor, sie würde jüdisches Leid missachten. Missachtet denn jemand, der jüdisches Leid sieht zwangsläufig palästinensisches Leid? Nein. Ist Grete deshalb eine Antisemitin, wie es der Spiegel suggeriert? Nein. Unsere Moral und unsere Erziehung zu Gerechtigkeit fordern von uns das Leid derjenigen zu sehen und die Stimme derjenigen zu hören, die unterdrückt werden und für Frieden und Gerechtigkeit kämpfen.
Ich habe in ihrem langen Artikel nirgends gelesen, dass Greta Thunberg mit der Hamas sympathisiert oder auch nur mit einem Satz die bestialischen Taten der Hamas entschuldigte oder rechtfertigte. Für sie und viele aus der Umweltbewegung war die Brutalität des Hamas-Angriffs vom 7.Oktober unvorstellbar, ebenso wie das Ausmaß und die Grausamkeit der israelischen Vergeltungsmaßnahmen. Aber die Palästinenser sind seit Generationen einer ständigen unvorstellbaren Gewalt ausgesetzt, ebenso wie einer schleichenden Annexion ihres Landes durch Israel und israelische Siedler. Diese Tatsachen werden in der Debatte um den Nahost-Konflikt ständig ausgeblendet, so, als ob die Angriffe vom 7. Oktober völlig willkürlich gewesen wären. Es interessiert offensichtlich auch niemanden, dass im Gazastreifen etwa zwei Drittel der Bevölkerung Flüchtlinge sind.
Wenn Greta Thunberg die Lage der Palästinenser anspricht, und nicht Antisemitismus predigt, zeigt sie nicht zwangsläufig, dass ihr Blick auf Israel kalt und distanziert ist. Sie kann Mitleid empfinden mit Palästinenser und gleichzeitig auch mit den jüdischen Opfern des Überfalls. Es ist ja nicht verboten mit beiden Seiten des Konflikts Mitleid zu haben. Und ihr vorzuwerfen, dass sie die „Klima-Bühne“ für eigene Zwecke benutzt bzw. missbraucht ist zynisch und verwerflich. Denn dann müsste man auch Joseph Schuster und Benjamin Netanjahu vorwerfen, dass sie den Holocaust für eigene Propaganda benutzen.
In Deutschland reagieren viele reflexartig, wenn es um Israel geht. Sie unterstützen „bedingungslos“ Israel und die Juden, aus Angst, dass jede Kritik an Israel, ein Zeichen von Antisemitismus sein könnte. Wenn man die palästinensische Seite unterstützt oder nur Verständnis für sie hat, ist man ein Antisemit. Und wenn man es so tut wie ich, dann wird man von einer Charlotte Knobloch beleidigt und diffamiert man sei ein „Berüchtigter Antisemit“, obwohl ich Jude und Israeli bin, der sogar in der israelischen Armee gedient hat.
Man wirf Greta und anderen kritischen Zeitgenossen, sie würde Israel vernichten wollen, wenn sie „Free Palestine from the River to the Sea“ skandieren. Dabei steht in der Gründungscharta von Benjamin Netanjahus Likud und früher auch in Menachem Begins Herut-Partei: „Israel – zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan-Fluss.“ Ist das nicht dasselbe? Nicht ganz. Während die Israelis ein ethnisch rein jüdisches Land wollen, meinen die Palästinenser Freiheit und Unabhängigkeit für alle.
Für viele, besonders in Deutschland, beginnt die Gewalt am 7. Oktober. Aber die Gewalt zwischen Juden und Palästinenser hat eine lange Geschichte. Diese Geschichte wird in Jahrzehnten, nicht in wenigen Wochen gemessen. Es handelt sich nicht um eine einzige, wenn auch bestialische, Terrortat, sondern um eine lange Liste von Zerstörung, Rache, Trauma. Seit der Nakbah 1948. Hunderte palästinensische Dörfer sind von der Landkarte getilgt worden und auf deren Ruinen sind israelische Kibbuzim und Städte gebaut worden. Und während das moderne Israel entstanden ist, wurden die im Land übriggebliebenen unterdrückt und unter Militärverwaltung unterstellt.
Dann wurde auch die Westbank erobert und seit Jahrzehnten leiden die Palästinenser unter militärischer Besatzung und militärischer Gerichtsbarkeit. Die Kriege von 1967 und 1973 haben nochmals die Geografie des Gebietes zugunsten Israels geformt und die Palästinenser zu Fremden in ihrem eigenen Land gemacht, zu Staatenlosen. Im Gazastreifen, der oft als das größte „Freiluftgefängnis der Welt“ bezeichnet wird, ist es den Palästinensern untersagt das Gebiet zu verlassen oder zu betreten.
Alle diese Tatsachen wurden in der Diskussion um den Krieg zwischen Israel und der Hamas weitgehend ausgeblendet, so als ob der Angriff vom 7. Oktober, wie es UN-Generalsekretär Guterres gesagt hat, in einem luftleeren Raum stattgefunden hat.
Seit Gründung des Staates Israel sind die Palästinenser Bürger zweiter Klasse – wenn sie überhaupt als Bürger angesehen werden und nicht als die fünfte Kolonne. Nach israelischem Recht haben die Palästinenser nicht das Recht auf nationale Selbstbestimmung. Jüdische Einwanderer haben dieses Recht vom ersten Tag ihrer Ankunft im Land. Palästinenser genießen nicht das Recht auf Freizügigkeit und dürfen nicht überall wohnen. Sie besitzen besondere Ausweise und dürfen nicht Verwandte und Freunde in anderen Ländern ohne weiteres besuchen. Und vom „Rückkehrrecht“, dass jüdischen Einwanderer zustehen, auch wenn ihre Familien niemals in Israel oder Palästina gelebt haben, es sei denn vor mehr als zweitausend Jahren, können die 1948 vertriebenen Palästinenser nicht einmal träumen.
Die Gewalttat vom 7. Oktober war grausam und schrecklich. Aber, wie schon gesagt, sie fand nicht in einem Vakuum statt. Die totale Kontrolle des täglichen Lebens, die gewaltsamen nächtlichen Razzien, die Verhaftung von Jugendlichen und der Bau illegaler israelischer Siedlungen bilden den Hintergrund für diesen Ausbruch, den ich keineswegs toleriere. Leider ignoriert die israelische Gesellschaft aber auch der gesamte Westen diese historisch belegbaren Tatsachen.
Im Laufe der ganzen Zeit seit Gründung des Staates Israel haben die verschiedenen israelischen Regierungen sehr deutlich gemacht, dass sie an Frieden nicht interessiert sind, dass ein separater, souveräner, palästinensischer Staat nicht auf dem Verhandlungstisch liegt und dass sie überhaupt kein Interesse haben, dass es eines Tages dort liegen soll. Der Status quo der endlosen Besatzung – und die regelmäßigen Zyklen der Gewalt – haben sich derart normalisiert, dass Benjamin Netanjahu zuletzt gemeint hat, dass es reicht „den Konflikt zu verwalten“. Die internationale Gemeinschaft hat es geduldet und war nicht willens oder in der Lage die israelische Regierung bzw. Regierungen zur Verantwortung zu ziehen.
Die Anschläge vom 7. Oktober haben aber diesen Zustand durchbrochen. Die Unmöglichkeit den Konflikt zu „verwalten“, wurde allen sichtbar, ebenso wie die Unmöglichkeit zwei Völker zu regieren und eines davon zu privilegieren mit vollen Bürgerrechten und den anderen zu benachteiligen durch den Entzug solcher Rechte.
Was nun? Jede Art von gemeinsamer Zukunft ist noch weiter entfernt als noch vor einem Monat. Es liegen dunkle Zeiten vor uns. Wenn man den „Frieden“ vor dieser radikalen Tat beschwört, dann galt dieser Frieden, wenn überhaupt, nur für die Israelis, die frei waren überall hin zu reisen und wo sie nur begehrten zu wohnen, abgesehen von allen anderen Freiheiten, die sie genossen, zuletzt die Demonstrationen gegen Netanjahu. Für die Palästinenser gab es seit 1948 keinen Frieden. Diejenigen, die im späteren Israel geblieben sind, lebten bis 1956 unter Militärverwaltung. Sie durften ohne Erlaubnis seitens des Militärs ihre Dörfer nicht verlassen und wurde beschossen, wenn sie demonstriert haben.
Schon Anfang der 50er Jahre sagte die jüdische Philosophin Hannah Arendt, dass es in Palästina bzw. Israel zu Jahrzehnten langer Gewalt kommen würde, weil Ben-Gurion auf eine jüdische Souveränität beharrte. Und der israelische Religionsphilosoph Leibovitz sagte 1967, unmittelbar nach dem Sieg im Sechstage Krieg, dass Israel am siebten Tag den Krieg verloren hat, weil es sich entschlossen hatte die eroberten Gebiete zu behalten.
Wenn man heute, nachdem man diesen und andere Fehler gemacht hat und es wäre zynisch und falsch auf die Palästinenser zu zeigen, die damit nicht einverstanden waren, fragt, wie man aus diesem Teufelskreis herauskommt, dann gibt es nur eine Antwort: Das Ende der Besatzung und einen gerechten Weg zur Anerkennung des palästinensischen Rechts auf einen eigenen Staat. Aber Israel und jüdische Zionisten wie Josef Schuster und andere müssen endlich auch aufhören den Vorwurf des Antisemitismus zu instrumentalisieren, um eine Zensur bei dem Diskurs über den Nahost-Konflikt zu erzwingen. Der Konflikt hat mit Antisemitismus nicht das Geringste zu tun. Es ist ein Konflikt um Land, Freiheit, Unabhängigkeit und Frieden. Die Palästinenser hassen nicht die Juden, sondern ihre Unterdrücker. Und wenn diese Eskimos wären, dann würden sie die Eskimos hassen. Aber es sind nicht die Eskimos, die Gaza platt machen und tausende von Kindern und Erwachsene töten.
Das Morden in Gaza muss aufhören. Es reicht. Fast alle Menschen verurteilen das, was die israelische Armee als Krieg gegen die Hamas nennt. Es ist aber eine Strafaktion, die von hasserfüllten, fanatischen israelischen Politikern inszeniert wurde und wird. Manche nennen es „Völkermord“, denn es entspricht der Definition der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen. Dort heiß es: …Handlungen in der Absicht eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten.“ Massentötungen von Zivilisten sind ein Mittel, mit dem Völkermord begangen wird.
Ich bin aber auch der Meinung, dass die Hamas benannt und für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden muss, auch wenn ich der Meinung bin, dass ein unterdrücktes Volk sich wehren darf gegen seine Unterdrücker, und das ist nicht immer „Terrorismus“. Wir dürfen nicht vergessen, dass zB die Engländer, als sie das Mandat des Völkerbunds für Palästina hatten, Politiker wie Begin und Organisationen wie den „Irgun“ oder „Lechi“ auch als Terroristen bezeichnet haben. Und die Mau-Mau Gruppe, die für die Unabhängigkeit Kenjas gekämpft hat und grausame Massaker verübte, wurde selbstverständlich auch als Terroristen benannt. Aber kaum war der Krieg 1963 beendet und Jomo Kenyata, der „berüchtigte Terrorist“ zum Ministerpräsidenten gewählt, wurde er in London von der Königin mit allen Ehren empfangen.
Das Ende der Besatzung wird sicherlich dazu beitragen der Gewalt ein Ende zu setzen, auch wenn ich Kenya und England nicht vergleichen möchte mit Israel und die Hamas. Der Frieden aber muss von der Bevölkerung kommen. Von der israelischen Bevölkerung zuerst. Gideon Levy, der legendäre Journalist und Kritiker der israelischen Politik, sagte dem Spiegel auf die Frage nach der Zukunft Israels: Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Krieg (mit der Hamas) zu etwas Gutem führt. Ich habe immer gedacht, dass es erst extrem schlecht werden muss, bevor es gut wird. Dass Israel einen Weckruf braucht, um endlich eine echte Lösung zu finden.“ Auch ich war dieser Meinung. Aber es scheint, als ob der 7. Oktober noch nicht ein „extrem“ schlechter Tag war. Es muss wohl noch schlechter kommen, damit die rechten, messianischen und gewaltverherrlichenden Kräfte in Israel und vor allem in der Regierung Israels, kapieren, dass Gewalt nicht die Lösung ist. Und wenn sie es nicht kapieren wollen oder können, dann muss man sie entweder ins Gefängnis stecken oder aus dem Land vertreiben.
Antisemitismus ist Rassismus und davon gibt es in Israel mehr als genug. Dahinter verbirgt sich eine Haltung vieler Israelis, die schon seit Jahren andauert. Diesen Hass gegenüber den Palästinensern gab es schon immer, seit der Staatsgründung. Ich habe es schon im Kindergarten erlebt und gelernt. Aber nun kam dieser barbarische Angriff und gab all dem Hass, dem Rassismus und der Gewalt, die schon immer da waren, noch mehr Munition. Der Krieg in Gaza hat mit Israels Sicherheit nichts zu tun. Es ist pure Rache, die mit Verachtung und Hass getränkt ist. Gideon Levy sagt: „Man kann heute eine Waffe nehmen, die vom Polizeiminister Ben Gvir sogar umsonst verteilt wird, ins Westjordanland gehen, einen Hirten töten, und niemand wird das groß untersuchen“ geschweige denn bestrafen. Es werden aber immer mehr israelische Soldaten sterben, und die Lage wird noch aggressiver werden, wenn es nicht sofort zum Waffenstillstand kommt.
„Frieden, Frieden und es gibt keinen Frieden“ proklamierte schon vor mehr als 2500 Jahren der Prophet Jeremias. Es gibt wohl keine Flecken auf dieser Erde, der mit mehr Blut getränkt ist als der Nahe-Osten. Liest man die Bibel dann liest man von unzähligen Kriegen, Eroberungen, Gewalt und Hass. Hat Moses nicht seinen Kriegern befohlen das Volk der Amalekiter von der Erde zu vertilgen? Die Israelis begrüßen sich täglich mit „Shalom“ und die Araber mit „Salam“ und es gibt keinen Frieden zwischen ihnen. Die Weltgeschichte erzählt mehr von Kriegen als vom Frieden. Und Frieden gehört in das Reich der Märchen.