von Haaretz-Redaktion
Die Neujahrsausgabe von Markerweek, ein Online-Ableger der Tageszeitung „Haaretz“, widmete sich den Konflikten vieler junger Israelis, ob sie ihr Leben in Israel aufbauen, oder ob sie auswandern sollen, in die USA oder nach Europa; ob sie sich von der Familie und der lokalen Kultur entfernen sollen, zugunsten einer westlichen Lebensqualität. Die Rede von Benjamin Netanjahu vor der UN-Vollversammlung lieferte ihnen wenige Gründe zu bleiben. Netanjahu schilderte Israel als die Speerspitze der westlichen Kultur, die sich gegen den radikalen islamischen Einfluss wehrt, als einen Staat, der auf ewig verurteilt ist, Krieg zu führen.
Netanjahu blickt um sich und sieht die neuen Nazis, bei der Hamas, im Iran, die sich für das jüdische Volk einen neuen Holocaust ausdenken. Sogar der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas ist in seinen Augen ein Nazi, der Israel „Judenrein“ sehen will, und der Westen ist von Antisemitismus und Heuchelei befallen und würde Israel lieben heute als morgen dem Iran überlassen.
Netanjahu hat kein Interesse, zu einer Vereinbarung mit den Palästinensern zu kommen, er leugnet die Existenz einer Besatzung und ist sowieso nicht bereit, sich aus der Westbank zurückzuziehen. Wer Frieden haben will, soll ihn in Abu Dhabi oder Kairo suchen, nicht in Jerusalem oder Ramallah. Sogar Abbas, der mit seiner Rede die nationalen Traumata erweckte und sie Übertreibungen verpackte, machte einen gangbaren Vorschlag, der nicht nur aus Verzweiflung und Ohnmacht bestand.
Es scheint so, als ob Netanjahu sich immer noch als UN-Botschafter sieht und nicht als Staatsmann und Führer. Er konzentriert sich so sehr auf „Hasbara“, dass er gar nicht darauf achtet, wie seine Worte zuhause ankommen. Was würde eine junge Frau sagen, die sich damit auseinandersetzt, ob sie den Pass ihrer Großmutter benutzen soll, um nach Berlin auszuwandern, und ein Student, der sein Studium in Boston beendet hat und überlegt, ob er nach Israel zurückkehren oder seine Karriere in den USA beginnen soll? Ob sie sich auf Netanjahu verlassen können, dass er sie vor der nächsten Katastrophe schützen wird, oder ob sie ihr Zuhause in einem sichereren Ort aufbauen sollen?
Netanjahu hat keine andere Vision, als die Fortsetzung der Besatzung, Errichtung neuer Siedlungen und Kampf gegen den radikalen Islam. Er läuft nicht nur vor der Lösung des Palästina-Konflikts weg, sondern auch vor der Wohnungsnot in Israel, der Integration der Minderheiten und des Zusammenbruchs des Erziehungssystems. Der Etat, den seine Regierung zur Lösung dieser Probleme aufgestellt hat, zeigt, dass sie nicht daran interessiert ist, diese Probleme, die Israels Zukunft gefährden, zu lösen. Hauptsache der Verteidigung noch mehr Geld geben, seine politischen Gegner noch mehr schwächen und den verstopften Ohren der internationalen Gemeinschaft noch mehr Moral predigen, in einem halbleeren Saal in der UN.
Redaktion von Haaretz zum jüdischen Neujahr, 1.10.2014.
Übersetzung aus dem Hebräischen: Abraham Melzer