Hic Rhodos, Hic Salta!

von Uri Avnery

Im alten Griechenland gab einen Sportler an mit seinen außergewöhnlichen Erfolgen auf der fernen Insel Rhodos.

Das ging seinen Zuhörer auf die Nerven und um ihn zu prüfen, riefen sie ihm zu: „Hic Rhodos, Hic salta!“

Das heißt: Hier ist der Ort uns zu zeigen, was du kannst.

In den letzten Tagen kreist dieser Satz in meinem Kopf, aber in einem etwas anderen Zusammenhang.

Freunde und Bekannte erzählen mir mit Stolz über die Erfolge ihrer Söhne und Töchter in Berlin und anderen Orten in der Welt. Es stellt sich heraus, dass sie aus Israel ausgewandert sind (auch wenn diese Auswanderung mit einem dumpfen Versprechen verbunden ist, irgendwann in der Zukunft zurückzukehren.) Die Söhne und Töchter dieser Auswanderer sprechen schon die Sprache ihrer neuen Länder und nach und nach verlieren sie den Kontakt zur hebräischen Sprache. 

Ich vertrete die Meinung, dass jeder Mensch leben sollte, wo er mag, falls die dortige Macht es ihm erlaubt. Aber ich gebe zu, dass diese Auswanderung nicht in meinem Sinne ist.

Ich vermute, dass die Israelis, die ausgewandert sind, aus allen gesellschaftlichen Schichten kommen und allen Ethnien angehören. Aber es liegt auf der Hand davon auszugehen, dass die Auswanderer gerade die Fleißigen, die Kreativen, die Unternehmungslustigen, die Begabten sind – eben diese Menschen, denen es leicht fällt, sich überall zu integrieren.

Ich gehe auch davon aus, das die Auswanderer nicht aus der Mitte jener Israelis kommen, denen es gut geht in der gegenwärtigen Atmosphäre im Land, dass Benjamin Netanjahu und seine Clique ihnen nahe sind, dass die Besatzung sie nicht stört und der Verfall der liberalen und säkularen Demokratie sie sogar erfreut.

Die Auswanderer hassen diese Situation, sonst hätten sie das Land nicht verlassen. Sie reizt die Freiheit, die heute in der deutschen Hauptstadt weht und die günstigen Preise.

Warum stört es also mich? Es stört mich, weil diese jungen Männer und Frauen hier im Lande gebraucht werden. Besonders die Unternehmenslustigen, die Kreativen, die Freiheit liebenden, sie werden gebraucht, um das Land aus den Händen von Netanjahu und seiner Clique zu retten.

Die häufig gehörte Ausrede ist die Verzweiflung. „Der Staat hat keine Zukunft mehr“, sagen viele. „Es gibt keinen mehr, der die Demokratie retten soll. Es gibt niemanden, der uns vor dem Ansturm der religiösen Orthodoxen retten soll, vor den Siedlern und ihren Dienern.

Das wird absolut passieren – wenn es keinen geben wird, der dagegen kämpfen wird. Es wird passieren, wenn jeder, der in der Lage ist, sich dagegen zu wehren, die Hände heben wird und zu den Caféhäuser und Lokalen von Unter den Linden wechseln wird.

Kürzlich erschein in Haaretz eine ausgezeichnete Überschrift: „Die Verzweiflung korrumpiert“. Es gibt nichts Richtigeres. Nicht nur die „Besatzung“ korrumpiert – die „Verzweiflung“ korrumpiert noch mehr. Sie blockiert den Kampf gegen die Besatzung.

All den herrlichen Jugendlichen in Berlin möchte ich zurufen: Hic Rhodos! Hier ist der Platz zu kämpfen. Hier in Israel ist der Ort die Politik zu stürmen, zu organisieren, zu ändern, neue Kräfte aufstellen, die Macht erobern.

All das stimmt umso mehr für unsere Freunde die Araber, Bürger des Staates, die von einer Zukunft jenseits des Meeres träumen. Ich möchte ihnen zurufen: Bleibt hier! Hier ist Rhodos!

Das stimmt noch mehr für die Palästinenser in Gaza, der Westbank und Jerusalem, die unter der Besatzung ächzen.

Vor einigen Tagen hatte ich eine eindringliche Diskussion mit einem fremden Freund, der soeben von einem Besuch in Gaza zurückkam. In seinem Munde waren herzzerreißende Geschichten über Kranke, denen man nicht erlaubt, ins Ausland zu fahren, um eine Behandlung zu bekommen, die ihr Leben rettet, über ausgezeichnete Studenten, denen man nicht erlaubt, zu ihren Universitäten im Ausland zurückzukehren, oder von Omas und Opas, denen man nicht erlaubt zu ihren Kindern und Enkelkinder zu fahren. Der Freund ist damit beschäftigt, ihnen zu helfen aus diesem größten Gefängnis der Welt auszubrechen.

Mein Freund war entsetzt, als ich behauptete, dass er eigentlich mit dem Besatzungsregime zusammenarbeitet, da doch das höchste Ziel der Siedler und ihrer Freunde ist, die besetzten Gebiete von den arabischen Bewohnern zu entleeren.

Der wahre Widerstand gegen die Besatzung soll sich nicht darin zeigen, dass die palästinensische Diaspora größer wird, sondern umgekehrt – in der Überzeugung der Palästinenser hier zu bleiben und hier um ihre Freiheit und nationale Auferstehung zu kämpfen. Hier ist Rhodos.

Wer an eine Zukunft von zwei befreundeten Staaten glaubt, die Seite an Seite im gemeinsamen Heimatland bestehen sollen, muss die jungen Leute beider Völker zu den Fahnen rufen. Wir werden gemeinsam für eine bessere Zukunft kämpfen. Wir werden hier kämpfen!

Erschienen in der hebräischen Ausgabe von „Haaretz“. Übersetzung: Abraham  Melzer.

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Es gab sofort zahlreiche Reaktionen auf Uri´s Artikel. Ich habe hier eine typische Antwort übersetzt. So und ähnlich haben 70 Prozent der Antworten gelautet. 30 Prozent lobten Uri wegen seines zionistischen Engagements und empfahlen den Auswanderer nicht zurückzukommen.

Liebe Freunde, steckt den ethnischen Teufel wieder zurück in die Schublade, denn darum geht es hier nicht wirklich, und kapiert endlich, dass die Linke in Israel schon lange nicht mehr nur Aschkenasi sind, und diejenigen, die nach Berlin abgehauen sind oder in die USA, sind nicht nur Aschkenasi. Ich bin Sephardi und will hier nur raus. Der einzige Unterschied zwischen mir und denen, die es schon gemacht haben, ist, dass es ihnen viel leichter war dank der europäischen Pässe ihrer Eltern. Es fällt mir schwer zu glauben, dass Spanien oder Portugal den Juden aus diesen Ländern die Staatsbürgerschaft anbieten werden. Aber ich habe ernsthaft vor, es nächstes Jahr zu versuchen. Gleichzeitig versuche ich, im Studium Erfolg zu haben, in der Hoffnung im Ausland von einer Universität angenommen zu werden, an der ich mein Doktorat machen werde.

Und an Uri Avneri – ich habe keinen Grund meine Zeit zu verschwenden auf Versuche, den Staat zu ändern, in dem das Leben unerträglich geworden ist. Deshalb hör auf, mir zu predigen. Das Volk, das in Zion wohnt, hat einen ganz bestimmten Weg gewählt, und es bleibt sein Recht, es zu tun. Ich akzeptiere die Meinung der Mehrheit, denn noch ist es ein demokratischer Staat. Aber ich bin nicht verpflichtet hier zu bleiben und wegen dieser dämlichen Entscheidung der Mehrheit zu leiden. Wir haben 2011 versucht zu kämpfen und du siehst, wohin es geführt hat – nichts hat sich verändert. Es wurde nur schlimmer. Es gibt keine Worte zu beschreiben, wie leid man diese Kriege hat, die nie aufhören. Wie leid man die Gewalt in den Straßen hat, die Korruption der Politiker, von der Teuerung des Lebensunterhalts, die uns erwürgt, ganz zu schweigen, und vom religiösen Zwang, weswegen ich jedes Wochenende eine Gefangene in meiner Wohnung , und wegen der Tatsache, dass ich nicht heiraten kann, ohne mich an einem Rabbinat anzuketten, das in mir das Eigentum meines Ehemannes sieht.

Ich habe nicht einen Tropfen Liebe mehr für das Land und seine Kultur, und ich habe die Hitze Leid und von den Landschaften, die hauptsächlich aus gelben, toten Sträuchern bestehen, habe ich die Nase voll.

Und was erwartet mich wenn ich bleibe? Sollte ich Kinder haben, werden sie in einem Erziehungssystem lernen, das mehr und mehr religiös und esoterisch wird; sie werden gezwungen in eine Armee zu dienen, die eine Besatzungsarmee ist. Es gibt hier keine Zukunft für säkulare Menschen mit einer liberalen Einstellung. Jede Minute, die ich hier bin, ist Leiden und was mich am meisten beschäftigt ist die Frage, wie ich aus diesem Gefängnis, in dem ich geboren wurde, abhauen kann.

Berlin wird von mir überhaupt nicht favorisiert, aber mir ist jedes Land und jede Stadt lieber als Israel. Und was traurig ist, ist die Tatsache, dass ich nicht einmal ernsthaft denke, dass es mir in Europa oder den USA gut gehen wird. Aber ich bin so verzweifelt, dass ich bereit bin, mich damit zu begnügen, dass es mir dort nur weniger schlecht gehen wird.

Erschienen in „Haaretz“ vom 24. Juli 2016.

2 Gedanken zu „Hic Rhodos, Hic Salta!

  1. Ich verstehe das nicht, denn es ist doch sehr einfach, denn die Folgerung kann ja nur lauten: 1. Juden können keine Zionisten sein, und Zionisten keine Juden. Und 2. Die Zionisten bedrohen mit ihren Atomraketen den Weltfrieden und damit auch uns Deutsche, und das selbst dann, wenn Köln nicht zu ihren Zielen gehören sollte. Daraus folgt: Juden schützen nicht Atomraketen, sondern die Menschenrechte. Sie also gilt es zu gewährleisten. Dazu bedarf es aber keines zionistischen Staates. Das ist doch leicht einzusehen, oder?

  2. Ich kann beide verstehen: Uri Avnery wie auch den Schreiber des längeren
    Antwortbriefes. Es ist alles verzwickt. Beide haben aus ihrer Sicht recht!
    Allerdings ist Uri Avnery kein Zionist. Grüße – Hans

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