Ibtisam Azem – Das Buch vom Verschwinden, Lenos Verlag

Die Protagonisten dieses klugen, präzisen und stillen Romans, der aber vor Spannung brodelt, sind zwei Israelis, ein jüdischer und ein arabischer. Beide sind miteinander befreundet und gehen respektvoll miteinander um. Und auch wenn Ariel, der Jude, glaubt seinen Freund Alaa zu kennen, zumal sie im selben Haus wohnen, ist er erstaunt und verwirrt, als dieser eines Tages verschwunden ist und mit ihm alle anderen israelischen Palästinenser. Es klingt unglaublich und ist auch ungewöhnlich. Die Frage nach ihrem Verschwinden geht wie ein roter Faden durch das ganze Buch.

Beim Lesen dieses klugen und spannenden Romans musste ich immer wieder daran denken, dass es eigentlich der feuchte Traum vieler national-religiöser jüdischer Israelis war und ist, eines Tages aufzuwachen und festzustellen, dass die Araber bzw. Palästinenser alle verschwunden sind. Und die übrigen jüdischen Israelis, auch wenn sie das nicht träumen, hätten nichts dagegen.  Leider aber wachen die Israelis jeden morgen auf und müssen feststellen, dass die Araber, die man jetzt Palästinenser nennt, immer noch da sind.

Beim Lesen dieses Buches wird mir klar, wie wenig jüdische Israelis von den arabischen Israelis wissen, wie wenig sie sich für sie interessierten und wie wenig sie ihre Nachbarn kennen. Ein israelischer Freund aus der Mittelklasse wollte sich mir und meinen deutschen Freunden gegenüber als Humanist und Araberfreund präsentieren und gab an Araber zu kennen. Es stellte sich heraus, dass der einzige Araber, den er kannte, der Gärtner war, der im städtischen Parkt die Pflanzen pflegte, mit dem er aber keinen gesellschaftlichen Kontakt hatte. Andere Araber kannte er nicht und schon gar nicht aus seinem Bildungsmilieu. Wozu auch?

Dann stieß ich auf Seite 206 auf eine Stelle, die mich an Jakob Wassermanns Gedicht aus seinem Buch „Mein Weg als Deutscher und Jude“ erinnerte, wo er schreibt: „Bei der Erkenntnis der Aussichtslosigkeit der Bemühung wird die Bitterkeit in der Brust zum tödlichen Krampf“. Diesen Krampf habe ich auch bei Ibtisam Azem gespürt, wenn sie schreibt: „Ab und zu sprechen wir ganz ruhig. Meistens schweigen wir…Wir hassen euch. Wir gehen auf euch zu. Lieben euch sogar als Menschen. Wir imitieren euch. Wir glauben euch. Und wissen doch, dass wir zuallererst uns selbst belügen.“

Und sofort kommt mir in den Sinn Jakob Wassermanns Gedicht in seinem Essay „Mein Weg als Deutscher und Jude“: „Es ist vergeblich, das Gift zu entgiften. Sie brauen frisches. Es ist vergeblich, für sie zu leben und für sie zu sterben. Sie sagen er ist ein Jude.“ Und die nationalen Juden in Israel sagen: „Er ist ein Araber.“ Die anderen schweigen. Und die Minderheit, die darüber spricht, gilt als Landesverräter.

Auf die angebliche Entschuldigung der Juden dafür, dass sie den Palästinensern das Land geraubt haben, weil es nur eine Wüste gewesen ist und sie es fruchtbar gemacht und modernisiert hätten, antwortet die Autorin ruhig und klug: „“Und selbst wenn es nur Wüste gewesen wäre – die Lüge, an die ihr glauben wollt, gibt euch noch lange nicht das Recht uns zu töten und zu vertreiben.“ Und man möchte hinzufügen: Wir haben euch nicht darum gebeten.

Man fragt sich, wer die Vergangenheit wie ein Mühlstein am Hals mit sich trägt – die Juden oder die Palästinenser. Letztere verfolgen ihre Geschichte bis zu Nakba und kommen nicht davon los. Die Juden aber verfolgen ihre Geschichte bis zu den Pogromen in Russland im 19. Jahrhundert und kommen vom Antisemitismus nicht los.

Das Buch handelt davon, dass das Verschwinden der Araber für die Israelis keine Freude und Festtagsstimmung verursacht, sondern wie eine dunkle Wolke über das ganze Land hängt und die Menschen eher verunsichert als erfreut. Man fragt sich, ob das wirklich so sein wird, oder ob es bloß ein Wunschdenken der Autorin ist.

Manche sehnen sich nach ihrer Rückkehr. Die meisten haben aber Angst, dass sie ihnen das antun, was sie den Arabern angetan haben. Besonders grausam wird die Szene einer Vergewaltigung bei der Vertreibung der Palästinenser 1948, die für die Palästinenser die Nakba ist. Ibtisam Azem gelingt es die angeblichen Gewissensbisse der Vergewaltiger als Heuchelei zu demaskieren und bloßzustellen. Man hat die Urbevölkerung vertrieben und jetzt, wo sie nicht mehr da ist, kommen plötzlich Gedanken der Reue und Entschuldigung auf. Es gibt aber niemanden mehr, bei dem man sich entschuldigen könnte.

Eines wird aber sehr bald klar. Ibtisam Azem kennt die Israelis sehr gut und kann sogar ihre geheimsten Gedanken und Wünsche lesen. Sowohl der jüdischen wie auch der arabischen Israelis. Sie weiß, dass die Juden, mit all ihren Atombomben, ihrer grenzenlosen militärischen Überlegenheit, ihrer Arroganz und Selbstgerechtigkeit, eigentlich Angst haben vor den Palästinensern. Sie wünschen sie zum Teufel, aber sie können ohne sie auch nicht leben.

Die Juden sind zwar überrascht, aber nicht traurig oder gar entsetzt über das Verschwinden der Araber. Sie würden zwar gerne wissen, wohin sie gegangen sind, aber sie betonen selbstgerecht und zum Teil heuchlerisch, dass sie niemanden gezwungen haben zu gehen. Ist das nicht auch die Geschichte, die man heute in israelischen Schulen lernt, dass die Palästinenser „von selbst“ geflohen sind?

Sie betonen, dass die Auswertung der Überwachungskameras an öffentlichen Plätzen keinerlei Auffälligkeiten zutage gefördert haben. Ariel und manche anderen liberalen Israelis verdächtigen die Regierung, aber sie haben keine Beweise. Andere sind froh: „Endlich sind wir diese schwarzen Schlangen los.“ Und manche Selbstgerechte meinen heuchlerisch: „Ich verstehe nicht, weshalb sie uns das antun.“ Da denkt man daran, dass die Deutschen den Juden nie vergeben werden, dass sie sechs Millionen Juden ermorden mussten.

Die Mehrheit aber schweigt und wartet auf Anweisungen der Regierung. Es bleibt schlicht undenkbar, dass man in einem Land mit dermaßen vielen Überwachungskameras nicht weiß, wohin mehr als vier Millionen Palästinenser verschwunden sind. Die Häuser wirken überhaupt nicht so, als hätten ihre Besitzer beabsichtigt, sie zu verlassen.

Das versetzt mich als Leser in das Jahr 1948, als meine Familie, kaum das wir aus einem DP-Lager in Europa angekommen sind, in eine arabische Wohnung im arabischen Teil von Haifa von den Behörden einquartiert wurden, meine Eltern, mein jüngerer Bruder und ich, und ich war damals drei Jahre alt. Die Wohnung wirkte nicht, als hätten ihre Besitzer beabsichtigt, sie zu verlassen. In der Küche war noch das Essen auf dem Tisch und wir fanden alles vor, was wir für die Wohnung benötigten. Eine vollständig eingerichtete Küche, Betten, Sofas, Kleider und sogar Kinderschuhe und vieles mehr. Dabei spielt doch das Buch von Ibtisan Azem im hier und heute, im bereits seit mehr als 70 Jahren existierenden Israel. Damals erlaubte David Ben-Gurion nicht die Rückkehr der Vertriebenen. Man nannte sie Anwesende-Abwesende. Die Angst davor blieb wie ein Albtraum bis heute.

Es geht im Buch immer wieder um die Nakba, denn was wir in der Welt um uns herum sehen, ist unerträglich. Nicht nur die Kriegsverbrechen von 1948, sondern auch die Art und Weise wie die Palästinenser heute behandelt werden und wie unerträglich die israelische Kälte und Selbstgerechtigkeit ist. Galit, eine junge Soldatin, die am Checkpoint Qualandia Dienst tut, beschwert sich: „Wie sollen wir ihnen jemals vertrauen? Wir geben alles, um den Palästinensern an den Checkpoints den Alltag leichter zu machen. Aber was tun sie? Sie widersetzen sich.“ Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man lachen. Aber leider muss man hier doppelt weinen. Über die gequälten Palästinenser und über die heuchlerischen Israelis. Und wenn ein israelischer Soldat einem Palästinenser demütigt, wundert er sich noch darüber, dass man den Palästinensern den Wunsch nach Rache von den Augen ablesen kann. Das ist wohl das, was die Israelis unter „humaner Besatzung“ verstehen.

Und so geht es bis zum Schluss. Manche räsonieren sogar darüber, dass das Verschwinden der Araber die „sauberste“ ethnische Säuberung sei, die die Menschheit je gesehen hat. Man liest und liest und wartet auf eine Lösung und man ist schon auf der vorletzten Seite und hofft, dass auf der letzten Seite die Lösung kommt, dass nämlich alles ein böser Albtraum war. Das der Erzähler aufwacht und alles ist wie gehabt. Aber nein. Den Gefallen tut uns die Autorin nicht. Es bleibt dabei, dass die Palästinenser verschwunden sind. Und da denkt man an die Nakba, die für die Palästinenser ihre nationale Shoa ist und versteht, was uns die Autorin sagen will. Nein, die Shoa ist nicht die Nakba, man kann nicht gleichsetzen. Aber vergleichen kann und darf man doch. So wie die Welt bei der Shoa geschwiegen hat, so schweigt sie auch bei der Vertreibung und Behandlung der Palästinenser im Buch und in der Wirklichkeit.

Ariel der von sich glaubt ein liberaler „guter“ und „anständiger“ Mensch zu sein und sich in der Wohnung seines arabischen Freundes einquartiert, um sie, so glaubt man, zu bewachen und die Rückkehr seines Freundes nicht zu verpassen, übernimmt auf der letzten Seite des Romans die Wohnung und kann nicht schnell genug das „Türschloss wechseln“, noch bevor das neue Gesetzt in Kraft tritt, dass nämlich alles Eigentum der Araber, die bis drei Uhr nicht zurückgekehrt sind, verfällt. Er hat keine Skrupel dabei und keine Gewissenbisse. Warum auch? Es ist alles legal und wenn man kein Gewissen hat, kann man auch keine Skrupel haben.

So haben auch viele Juden 1948 arabische Häuser und Wohnungen, teure Möbel und wertvolle Bibliotheken erbeutet. Alles absolut rechtmäßig mit Erlaubnis der verabschiedeten Gesetze. So wie es auch die Nazis gemacht haben. Nur dass Juden von den Nazis beschlagnahmtes Eigentum zurückerhielten. Araber aber nicht.

Nirgends im Buch klagt die Autorin an. Sie beschreibt nur ungewöhnliche aber offensichtlich vorhandene Verhältnisse ruhig und ohne Verbitterung und Hass. Sie zeigt, dass auch gute Menschen böses und menschenrechtwidriges tun können, ohne es zu merken und ohne deshalb ein schlechtes Gewissen zu haben. Die Menschen haben die Wahl. Wenn sie bloß immer das Richtige wählen würden. In einer frei erfundenen Rede sagt der Ministerpräsident, der im Buch nicht Bibi sondern Titi heißt: „Diese außergewöhnlichen Umstände verlangen außergewöhnliche Schritte und den Zusammenhalt aller Kräfte von links bis rechts. Von heute an gibt es kein Links und Rechts mehr, keine Säkularen und Religiösen.“ Ist das nicht der Traum aller Diktatoren? Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“, ist das bekannteste Zitat von Wilhelm II als er sein Volk in den Ersten Weltkrieg schickte.

Ibtisan Azem gelingt ein eindruckvolles, originelles Plädoyer wider das Vergessen und für ein friedliches Zusammenleben. In ihrem Roman trifft die Autorin unseren Nerv mit einer Fiktion, die ebenso fasziniert wie bewegt ist. Man weiß von Anfang an, dass die Geschichte nicht möglich ist und wartet doch neugierig auf eine Lösung, die es aber im wirklichen Leben nicht gibt.

 

 

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