Wenn Israel schwächer wäre, würde es härter arbeiten, um in der Region akzeptiert zu werden. Wenn es weniger stark wäre, hätte Israel den Fluch der Besatzung längst beenden müssen.
von Gideon Levy
Am Ende, nach Abzug aller anderen Übel, stellen wir fest, dass das Schlimmste von allem, die Mutter aller Katastrophen, darin besteht, dass Israel zu stark ist. Wenn es nicht so stark – zu stark – wäre, wäre es gerechter. Wenn es nicht das tun könnte, was es wollte, wäre sein Verhalten moralischer und rücksichtsvoller. Ein großer Teil seiner Verbrechen und Launen kommt von seiner Machttrunkenheit. Ein guter Teil dessen, was es tut, ergibt sich aus der Tatsache, dass es dazu schlicht in der Lage ist. Es kann der ganzen Welt eine lange Nase machen, das Völkerrecht ignorieren, ein anderes Volk seit Generationen gewaltsam kontrollieren, die Souveränität seiner Nachbarn verletzen, so tun, als wäre es das Ein und Alles, nur weil es die Macht dazu hat.
Wie jedes andere Land muss auch Israel stark sein. Schwäche könnte in der Tat zu seiner Zerstörung führen, wie den Israelis unentwegt vom Tag ihrer Geburt an beigebracht wird. Aber zu viel Macht hat es ruiniert und ihm Schaden einer anderen Art zugefügt. Es ist nicht seine Schwäche, wie es sich selbst beschreibt – umgeben von Feinden, die nur versuchen, es zu zerstören, der kleine David gegen Goliath -, die seinen Charakter geprägt hat. Es ist der Überfluss an Macht, den es angesammelt hat, der es mehr als alles andere geprägt hat. Wenn Israel schwächer wäre, würde es härter arbeiten, um in der Region akzeptiert zu werden. Wenn es weniger stark wäre, hätte Israel den Fluch der Besatzung längst beendet.
Auch wenn es in Sünde geboren wurde, ist Israel kein Land mit besonders schlechten Menschen. Selbst die Arroganz, die Israelis der ganzen Welt gegenüber an den Tag legen, ist keine angeborene Eigenschaft. Israel hatte wahrscheinlich nicht die Absicht, zu dem zu werden, was es ist: eine regionale Macht, die dem mächtigsten Land, den Vereinigten Staaten, weitgehend vorschreibt, wie es sich zu verhalten hat; ein Land, das viele umwerben und sogar fürchten, das gleichzeitig bei allen, die über ein Gewissen verfügen, als aussätzig gilt. Israel ist so geworden, weil es vor Macht nur so strotzt. Es hat sie allmählich angesammelt, und heute hat es ihren Zenit erreicht.
Israel war noch nie so stark wie heute. Es ist kein Zufall, dass sich sein Bild jetzt an einem Tiefpunkt seiner Geschichte befindet. Das ist der Preis für zu viel Macht.
Israel stößt die ganze Welt vor den Kopf. Nicht nur mit der Besatzung, die es trotz des Einspruchs der meisten Länder der Welt ungerührt fortsetzt; nicht nur in der schrecklichen Belagerung des Gazastreifens und den grausamen Angriffen auf ihn, zu denen auch Kriegsverbrechen gehören, für die Israel nie bestraft wird; nicht nur mit den Siedlungen, deren Legitimität auch der größte Teil der Welt nicht anerkennt – die Gesamtheit seiner Außenpolitik kündet von Hybris.
Die täglichen Bombenanschläge in Syrien und anderen Ländern und das regelmäßige Überfliegen des Libanon, als gäbe es keine Grenze und kein Morgen; arrogante,
kriminelle, hemmungslose weltweite Mordanschläge; die Welt dazu bringen, das iranische Atomprogramm zu bekämpfen; die schockierende internationale Kampagne zur Kriminalisierungs der BDS-Bewegung; die Weigerung, internationalen Verträgen beizutreten, zu deren Unterzeichnern alle demokratischen Länder gehören; das endlose Ignorieren von Resolutionen internationaler Institutionen; der Versuch, sich in die inneren Angelegenheiten seiner Nachbarn einzumischen; die Beteiligung an Kriegen, die nichts mit ihm zu tun haben; sogar der Versuch, Zwist in der Europäischen Union zu entfachen und dort Uneinigkeit hervorzurufen; subversive Aktionen gegen den (ehemaligen) Präsidenten der Vereinigten Staaten und die Schließung der Botschaft in Paraguay, nur weil dieses eine Maßnahme ergriffen hatte, die Israel nicht passte – in all diesen Dingen agiert es, als ob es eine Supermacht wäre.
Es ist schwer vorstellbar, dass irgendein anderes Land – abgesehen von den Vereinigten Staaten, Russland oder China – , es wagen würde, sich so zu verhalten. Israel kann es.
Dies ist – wie es scheint – ein schwindelerregender Erfolg des zionistischen Unternehmens. Wer hätte gedacht, dass wir so werden würden? In der Tat ist dies die größte Bedrohung für seine Rechtsstaatlichkeit. Bis auf wenige Missgeschicke, wie 1973, dauert diese Machttrunkenheit bis heute an, ohne dass Israel einen nennenswerten Preis dafür zahlen musste, außer was sein Image betrifft – aber auch das hat es zu ignorieren gelernt.
Am Vorabend des neuen [jüdischen] Jahres steht Israel nicht vor Herausforderungen, die seinen kriegerischen Großmacht-Status gefährden. Es scheint, dass es vermutlich weiterhin das tun kann, was es tut – in den besetzten Gebieten, im Nahen Osten und in der ganzen Welt.
Nur die Geschichte selbst besteht darauf, uns von Zeit zu Zeit daran zu erinnern, dass solche Darbietungen ungezügelter Machttrunkenheit für gewöhnlich schlecht enden, sehr schlecht.
Gideon Levy (* 1953 in Tel Aviv) ist ein renommierter israelischer Journalist und Mitglied des Herausgeberkreises der liberalen Tageszeitung Haaretz.
Zuerst erschienen hier.
Übersetzung aus dem Englischen: Jürgen Jung.
Vielen Dank an Gideon Levy, dessen Artikel und Kommentare in der Zeitung Haaretz ich für glaubwürdig halte!