Jedem das Seine

von Eurich Lobenstein

In der Jüdischen Rundschau vom 27.1.2020 kritisiert eine Julia Bernstein diesen Slogan und meint, er sei nationalsozialistischer Herkunft und erwartet, daß er in der heutigen Alltagssprache nicht mehr verwendet werde; Julia Bernstein schreibt allen Ernstes:

„Jedem das Seine« steht in der Tradition der nationalsozialistischen Vernichtungspraxis. Es ist auf keine Weise doppeldeutig zu verstehen, und trotzdem wird diese Losung noch heute benutzt!? Unternehmen wie Rewe, Microsoft, Burger King, Nokia, Tchibo zusammen mit Esso und Peek und Cloppenburg haben die Losung bereits genutzt. Dabei wird die nationalsozialistische Todesformel perfider Weise zur Glücksformel für den Konsumenten, der sich bei der Kaufentscheidung sicher sein soll, ihm werde verdientermaßen oder passend »das Seine« zuteil, und er trete deshalb aus der Konsumentenmasse hervor. Auf den Gebrauch als Werbung folgte dann jeweils die Diskussion darüber, ob er angesichts der Schoa vertretbar sei. Werbekampagnen sind gestoppt worden.“ 

Solche Stellungnahmen machen Risches. Julia Bernstein stellt die Fakten auf den Kopf. „Perfider Weise“ wird nicht „die nationalsozialistische Todesformel zur Glücksformel für den Konsumenten“, sondern die „Nazis“ haben perfider Weise einen ewigen Grundsatz römischen Rechts mißbraucht. Man kann nicht etwas verbieten, weil sich das Dritten Reich dessen bediente. Bei WIKIPEDIA hätte Juliua Bernstein erfahren können, daß in „den Institutionen des Kaisers Justinian es ganz zu Beginn, im ersten Teil des Corpus Iuris Civilis heißt: iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere. Die Gebote des Rechts sind diese: Ehrenhaft leben, den anderen nicht verletzen, jedem das Seine gewähren (Inst. 1,1,3). Bei Ulpian im Corpus Iuris Civilis, Digesten 1, 1, 10, heißt es: Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi („Die Gerechtigkeit ist der beständige und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zukommen zu lassen“). Dieser Satz wurde dann vom Verfasser der Institutionen, Tribonian, als Definition an den Anfang des Gesamtwerkes gestellt (Inst. 1,1,1).“

Der Satz „Jedem das Seine“ ist ein Grundprinzip des römischen Rechts und der westlichen Kultur. Schon Platon lehrte dieses Prinzip. Auf den preußischen Fahnen war dieser Satz eingestickt und, wie Julia Bernstein erwähnt, auch die Bundeswehr verwendet diesen. Im Talmud? Fehlanzeige?

Die Nationalsozialisten habe diesen Spruch auch verwendet; sie haben diesen Spruch vielleicht ironisch mißbraucht; das könnte man so annehmen, wenn man die Verwendung des Spruchs an den von Julia Bernstein zitierten anderen Sprüchen mißt; Julia Bernstein erwähnt:

„Arbeit macht frei“,

der eine Vermengung zweier uralter Sprüche „Stadtluft macht frei“ und „Arbeit adelt“ darstellt. „KZ-Luft macht frei“ oder „Zwangsarbeit adelt“ hätte selbst die SS kaum schreiben können. Die Spruchmotive über den Lagern werden nicht nur von Häftlingen gelesen; Besucher, Passanten, Wachmannschaften sollen ein Gefühl der Seriosität der Lagerverwahrung empfinden. Deswegen dürfte es überhaupt falsch sein zu meinen, die Lagermotive sollten die Häftlinge verhöhnen. Die Häftlinge können diese so verstanden haben, müssen es aber nicht.

An den Text des Buchenwaldliedes, das die Häftlinge zu singen hatten, soll erinnert werden:

„Wenn der Tag erwacht, eh‘ die Sonne lacht,

die Kolonnen ziehn zu des Tages Mühn

hinein in den grauenden Morgen.

Und der Wald ist schwarz und der Himmel rot,

und wir tragen im Brotsack ein Stückchen Brot

und im Herzen, im Herzen die Sorgen.

 Refrain:

O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen,

weil du mein Schicksal bist.

Wer dich verließ, der kann es erst ermessen.

wie wundervoll die Freiheit ist!

O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen,

und was auch unsre Zukunft sei,

wir wollen trotzdem „ja“ zum Leben sagen,

denn einmal kommt der Tag: dann sind wir frei!“

Das Motiv „suum cuique/Jedem das Seine“ stand nicht über dem Eingangstor zu Auschwitz. Lager war nicht gleich Lager, speziell nicht die Lager auf Reichsgebiet. Arbeitsscheue, d.h. Personen, die zwei Mal die Annahme einer Arbeit verweigerten, konnten schon vom Arbeitsamt aus in das KZ eingewiesen werden. Gewohnheitsverbrecher („Dissoziale“ nach Udo Rauchfleisch) und von den Gerichten abgeurteilte Kriminelle, die „berühmten“ Wilderer und politische Gefangene ohne Ende, Homosexuelle. Bibelforscher und Zeugen Jehovas waren genauso in diese Zwangsgemeinschaften (H.G. Adler) integriert wie Juden; vor Kriegsbeginn hatten viele eine gewisse Aussicht auf Entlassung. Auch Juden kamen aus einem KZ wieder raus: Beispiele: Bruno Bettelheim, Edgar Seligmann (Continental), wenn jemand im Ausland für sie die Aufnahme dort garantierte. Ruth Klüger (in: weiterleben) berichtet, daß ihr Vater hätte überleben können, wenn ihre Verwandten in den USA ein Affidavit zu seinen Gunsten unterzeichnet hätten.

Am 29. April 1939  – also lange vor „Auschwitz“ –  hatte Heinrich Himmler in einer Rundfunkrede erläutert:

„Ich darf bei dieser Gelegenheit in aller Offenheit über die Konzentrationslager ein Wort sagen. Das Konzentrationslager ist sicherlich wie jeder Freiheitsentzug eine scharfe und strenge Maßnahme. Harte, neue Werte schaffende Arbeit, ein geregelter Lebenslauf, eine unerhörte Sauberkeit, eine strenge aber gerechte Behandlung, die Anleitung, Arbeit wieder zu erlernen und Fähigkeiten handwerklicher Art dazu zu gewinnen, sind die Methoden der Erziehung. Die Devise, die über diesen Lagern steht, lautet:

 „Es gibt einen Weg in die Freiheit. Seine Meilensteine heißen: Gehorsam, Fleiß, Ehrlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit, Opfersinn und Liebe zum Vaterland“[

Die Verpflichtung zu Gehorsam, Fleiß, Ehrlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit, Opfersinn und Liebe zum Vaterland galt aber für jeden Volksgenossen, dem im Unterschied zum Häftling diese nicht mehr anerzogen werden mußten. Daß ein Freiheitsentzug eine scharfe Maßnahme und kein Sanatoriumsaufenthalt sei, erwartet jeder Bürger heute noch. Das zeigt, daß „die Nazis“ die KZ´s gegenüber der Bevölkerung ständig hatten rechtfertigen müssen. Bruno Bettelheim berichtet über Beschwerden von Passanten, die beobachten hatten, daß Arbeitstrupps von Häftlingen schikaniert wurden. Zwar führten diese Beschwerden nur zum Tod der Zeugen und Betroffenen der Umstände, weil die unteren Chargen Macht über Leben und Tod hatten. Das ändert aber nichts daran, daß das Regime seine Maßnahmen immer neu legitimieren mußte, weshalb es ein Ministerium für „Volksaufklärung und Propaganda“ benötigte. Und das war auch ein Grund, warum die Menschenvernichtung im großen Stil, speziell die Vernichtung unschuldiger Menschen, sich in den besetzten Gebieten im Osten und im Schatten des Krieges abspielte. Man hätte in Keinem KZ in Deutschland noch in Ungarn 3.000 Leichen am Tag verbrennen können.

Es ist also höchst albern, gegen die Formel „Jedem das Seine“ herzuziehen. Der Artikel demonstriert mir, wie wenig manche Juden von der römischen Zivilisation wissen.

Ein Gedanke zu „Jedem das Seine

  1. Im Allgemeinen ist es wohl schändlich missbrauchte Worte oder Sätze verbieten zu wollen. Egal in welcher Zeit wir uns auch befinden mögen, der menschliche Geist ist wohl gemacht, um sich manipulieren zu lassen und gefühlsbefeuert zu handeln. Ein sehr schönes Beispiel.

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