Antwort auf einen Essay von Wolf Biermann im Spiegel
Sehr geehrter Herr Biermann,
ich kenne Sie persönlich nicht, aber ich habe viele Ihrer Lieder, Gedichte und Essays gelesen und hatte deshalb den Eindruck, dass Sie ein idealistischer Pragmatiker sind oder ein pragmatischer Idealist. Ich habe Sie immer respektiert für ihren Kampf um Anständigkeit in der Politik, für ihren Einsatz für Schwächere und Benachteiligte und wegen Ihres Talents, politische und gesellschaftliche Heuchelei zu demaskieren und solche Zeitfiguren nackt darzustellen. Ich war nie ein Fan von Ihnen, aber Sie hatten immer meinen Respekt und Achtung. Natürlich habe ich Sie auch um Ihr Talent so gut und leicht schreiben zu können, beneidet. Deshalb bitte ich schon jetzt um Nachsicht, dass meine Sprache nicht so brillant, witzig und scharf ist, wie die Ihre. Ich hoffe dennoch, dass Sie meine Worte verstehen und mein Anliegen nicht verachten werden.
Ihr Essay in der letzten Ausgabe des Spiegels hat mich überrascht und enttäuscht. Ich habe eine solche zynische Einseitigkeit nicht erwartet, wobei mich weniger die Einseitigkeit als vielmehr der Zynismus gestört hat. Ich habe Sie offensichtlich falsch eingeschätzt, dass Sie immer die Partei der Schwachen und Verfolgten, die Partei der Opfer verteidigen. Sie haben sich jetzt auf die Seite von Ralph Giordano geschlagen, der darüber schreibt, dass in Deutschland ein Gespenst umgeht, das Gespenst des Antisemitismus, und damit nur billige und primitive Hetze betreibt. Auch Sie wollen uns jetzt Ihre Meinung aufdrängen, zu einem Konflikt, von dem Sie nicht nur den Weg zum Frieden nicht kennen, sondern von dem Sie offensichtlich auch sonst nicht viel wissen. Sie haben uns noch gefehlt in der Liste der vielen Politiker, Künstler und Autoren, die es gut meinen mit Israel, obwohl Israelis wie z. B. Uri Avnery oder Felicia Langer oder ihr Freund Amos Oz oft genug davor gewarnt haben, Israel mit besonderen Maßstäben zu messen. Die Überzeugung von der Allgegenwärtigkeit und Ewigkeit des Antisemitismus ist offensichtlich auch bei Ihnen, wie bei der ganzen zionistischen Bewegung, ein ideologischer Bestandteil ihres Denkens geworden.
Ich verstehe Ihre Angst und Besorgnis nicht. Sie haben viele Freunde in Israel, Freunde, die ihre Familien im europäischen Holocaust verloren haben. Glauben Sie wirklich wie Henryk M. Broder, dass wir vor einem neuen Holocaust im Nahen Osten stehen? Merken Sie nicht wie lächerlich dieser Gedanke ist angesichts der Tatsache, dass Israel seine ganze Umgebung und insbesondere den Iran mit einer totalen Vernichtung bedroht? Ich habe auch Freunde in Israel und die Reste meiner Familie leben dort, die auf wundersamen Wegen sich retten konnte, oder auch solche, die die Hitze der Öfen von Auschwitz am eigenen Leib gespürt haben. Deshalb mache ich mir noch mehr Sorgen und frage mich täglich, ob ich schon jetzt über die grausamen Bilder, die ich täglich aus Israel und Palästina sehe, weinen soll, oder ob ich meine Tränen aufsparen sollte für das, was noch kommen wird, wenn Israel weiter diesen Weg geht.
Israel lebt schon seit Jahren in ständiger Angst und kann sich davon nicht mehr befreien. So hat sich das Leben in Israel radikal geändert und die Menschen beginnen auch langsam, von den Leiden der Palästinenser zu ahnen, von denen sie nichts wussten und nichts wissen wollten. Jetzt haben die Israelis das Gefühl, sie seien die Opfer und die Palästinenser die Täter. Sie fürchten den Terror und sind sogar bereit, mit dem Teufel einen Bund zu schließen, wenn nur dieser Terror verschwinden würde. Der Terror ist aber nur ein Symptom der Krankheit, an der Israel leidet, nicht aber die Krankheit selbst.
Die Israelis wollen ein Volk sein wie alle anderen Völker. Schon Herzl träumte in seiner Vision von einem jüdischen Staat mit jüdischen Polizisten und jüdischen Kriminellen. Die jüdischen Kriminellen hat er bekommen, wenn man bedenkt, wie korrupt und unmoralisch das Land geworden ist. Jede Sonderbehandlung Israels, auch wenn sie gut gemeint ist, hilft Israel nicht. Wer eine der beiden Seiten, Israel oder Palästina, einseitig und bedingungslos unterstützt, wie Sie es gemacht haben, hilft keinem.
Israel hat seine eigenen Probleme, die mit den Problemen der Juden in der Welt nichts zu tun haben. Um die Probleme Israels zu verstehen, muss man nicht unbedingt einen Ritt durch die Geschichte der Verfolgung der Juden machen, von der Inquisition in Spanien bis zu den Pogromen in Russland. Zum Glück haben Sie nicht bei den Kreuzzügen angefangen oder gar bei der Geburt von Jesus von Nazareth. Gewiss, es kann nicht schaden darüber informiert zu sein, weil es die psychologische Situation der Israelis erklärt, die sich heute noch als Opfer betrachten und die auch Sie nur als Opfer sehen. Es ist freilich die Sicht eines Ghettojuden, der immer noch Angst vor den Gojim hat, der sich nie befreit hat und das Ghetto immer noch im Kopf mitschleppt. Aber schon 1945 sagte Martin Buber, eine andere moralische Lichtgestalt, die das Judentum der Propheten Jesaja und Jeremias wiederspiegelt, dass er sich niemals damit abfinden wird, dass man aus Unrecht Recht macht, indem man Werte und Schicksale gegeneinander abwägt. Akte der Vertreibung, die Sieger in der Regel durchführen, haben sich immer gerächt; „Ich sage das alles, weil ich mein Volk davor bewahren möchte, falsche Grenzen zu ziehen.“ Buber meinte nicht die Staatsgrenzen, über die noch heute gestritten wird, sondern Grenzen der Ethik und Moral, von denen heute leider niemand mehr spricht, seitdem Bubers Schüler und Nachfolger Jeshajahu Leibowitz gestorben ist. Buber sagte damals in Richtung von Menachem Begin und seinen Anhängern: „Es kommt natürlich darauf an, den richtigen Kompromiss zur richtigen Zeit zu machen. Die Revisionisten denken aber nicht so. Sie werden nicht aufhören, gegen die ganze Welt zu kämpfen, da sie den Weg des Heroismus gewählt haben. Dieser Heroismus aber ist so, dass der Mensch nicht nach vorn blickt und nicht um sich herum, sondern wahllos nach allen Seiten schlägt. Dieser Heroismus steht nicht im Zeichen des Prometheus, sondern im Zeichen von Don Quichotte, der nichts anderes ist, als eine tragische Figur.“
Soweit die prophetischen Worte von Martin Luther, die an unsere gegenwärtige Situation sehr stark erinnern. Und Sie, Herr Biermann, wollen auch so ein Revisionist sein. Aus Ihrem Sohn haben Sie schon einen Don Quichotte machen wollen. Leider ist aus ihm nur ein Sancho Panza geworden, der mit einem gestrickten Käppi im palästinensischen Land versucht, Palästinenser zu vertreiben und uns hier in Deutschland davon zu überzeugen, dass er im Recht ist. Recht oder Unrecht – mein Vaterland! Das kann doch nicht das Motto sein, auf das Israel seine Unabhängigkeit, seine Freiheit und seine Würde aufbauen will und schon gar nicht mit Menschen, deren Vaterland ganz woanders ist.
Ihr Freund Amos Oz, der schon seit vielen Jahren einen Weg zum ewigen Frieden sucht, weiß, dass eine Lösung nur dann länger als ein Wochenende halten wird, wenn sie möglichst gerecht ausfallen würde. Das, worauf es hier ankommt, ist eine gerechte Lösung für beide Völker, also ein Kompromiss, mit dem so viele Menschen wie möglich leben können. Deshalb hat er zusammen mit weiteren 800 Künstler, Schriftsteller, Intellektuelle, Politiker, Militärs, Akademiker, Schauspieler, Nobelpreisträger und anderen eine Petition unterschrieben, die die europäischen Staaten aufruft, den Staat Palästina anzuerkennen. Sie sollten es auch tun, lieber Herr Biermann.
Sie haben in Ihrem Essay gut und richtig angefangen, als Sie festgestellt haben, dass eine dauerhafte militärische Besetzung eines anderen Volkes von fast 50 Jahren noch schlimmer als ein Verbrechen sei, nämlich: ein fataler Fehler. Menschen wie Uri Avnery, Amos Oz und Prof. Leibowitz haben das schon sehr früh erkannt und kritisiert. Sie wurden in Israel in eine linke Ecke gedrängt, aus der sie immer wieder herauskamen und ihre Stimme erhoben haben. Seit bald 50 Jahren spricht man davon, dass es in dem Gebiet zwischen dem Jordanfluss und dem Mittelmeer zwei Staaten geben muss. Eigentlich schon seit 1948, als die UNO die Teilung des Landes zwischen Juden und Palästinensern beschlossen hatte. Dieser Beschluss war aber keine großzügige Handlung gegenüber den in Palästina lebenden Palästinenser, wie Sie und mit Ihnen viele Politiker, Journalisten, Meinungsmacher und so genannte Gutmenschen uns suggerieren wollen. Es wäre äußerst großzügig gewesen, wenn die Palästinenser sich damals damit abgefunden hätten und ein für die Juden unbezahlbares Geschenk. Leider waren die Palästinenser damals noch nicht reif und vorbereitet dazu. Heute aber sind sie es, und seit beinahe 20 Jahren haben sie den Staat Israel anerkannt. Leider hat aber Israel dieses Geschenk nicht angenommen und weigert sich immer noch, seinerseits Palästina anzuerkennen.
Es gab zwar keinen palästinensischen Staat, aber es gab fast eine Million Palästinenser, die Land besessen haben, Häuser und Gärten, Familien und Eigentum. Nur sieben Prozent des Landes gehörte 1948 den Juden. Es fiel aber den Völkern der Welt nicht schwer, ihr schlechtes Gewissen gegenüber dem im Holocaust verbrannten jüdischen Volk zu erleichtern und reinzuwaschen, indem man palästinensisches Land verschenkt hat. Dieses Land gehörte ja keinem der Staaten, die in jener unsäglichen Novembernacht mit Ja abgestimmt hatten. Wer könnte da nicht verstehen und Verständnis dafür haben, dass die Palästinenser mit der Abstimmung nicht einverstanden waren und damals den Fehler gemacht haben, den Israel heute macht, nämlich zu glauben, dass man das Problem mit militärischer Gewalt lösen könnte. Sie konnten die Katastrophe nicht mehr abwenden, als alle arabischen Nachbarn Palästina überfallen haben in der Hoffnung, für sich selber etwas erbeuten zu können. Die Palästinenser blieben als Opfer. Die Palästinenser hatten damals nicht die richtigen Freunde und nicht genügend Zeit, sich auf diese neue Situation vorzubereiten, auf die sich die Israelis seit Jahrzehnten vorbereitet haben. Soll man sie deshalb auf ewig bestrafen? Weil die Großeltern den Zeitpunkt verpasst haben, weil sie 1948 viel zu schwach und schlecht organisiert waren, sollen die Enkel jetzt die Stiefel der Sieger für alle Zeiten lecken müssen?
Seitdem ist viel geschehen, und sehr viele Leichen pflastern den blutigen Weg bis heute. Wir hatten das Jahr 1967 und den Sechstagekrieg, den Israel, nach den Worten von Prof. Leibowitz am siebten Tag verloren hat. Die Suppe, die die Israelis heute auslöffeln müssen, ist nach dem siebten Tag gekocht worden. Von allen linken wie rechten Ministerpräsidenten Israels. Allen voran von Golda Meir, die mit ihrem Slogan „Ich bin eine Palästinenserin“, den unterdrückten, gedemütigten und geschlagenen Palästinenser nicht nur Land, Hof und Garten gestohlen hat, sondern auch die Würde und die eigene Identität, das Recht auf Selbstbestimmung, wofür wir hier in Europa für fast jedes Volk der Welt auf die Straße gehen. Nur für die Palästinenser nicht.
Wenn Sie befürchten, was auch die israelische Propaganda sagt, dass die Palästinenser jeden israelischen Rückzug als Schwäche und Niederlage interpretieren werden, dann sollten Sie sich umso mehr für eine Lösung interessieren und einsetzen, die nicht mit einem Rückzug aus Gebieten beginnt, aber am Ende dazu führt, denn ein Verharren auf dieser Position bedeutet: niemals Rückzug bis der letzte Palästinenser transferiert worden ist. Aber das wird nicht das Ende sein, dass wird der Anfang eines totalen Krieges werden. Und wie ein solcher Krieg geführt wird, können Sie bei Franz Fanon nachlesen, dessen Buch „Die Verdammten dieser Erde“ Sie sicher kennen. „Sobald dieser Krieg ausbricht, ist er erbarmungslos. Man bleibt entweder terrorisiert oder wird selbst terroristisch.“
Sie kennen die Lösung nicht. Ich kenne sie auch nicht. Ich bilde mir aber ein, den ersten Schritt zu wissen. Vor einem Rückzug aus besetztem Land, der womöglich falsch interpretiert werden könnte, sollte der Rückzug aus den mit Nationalismus, Chauvinismus und Überheblichkeit besetzten Köpfen stattfinden. Die Israelis müssen endlich das Leid der palästinensischen Flüchtlinge, das sie verursacht haben, emotional und moralisch anerkennen. „Israel soll nicht gemessen werden an seinem Reichtum, noch an seiner Armee und nicht an seiner Technik, sondern an seiner moralischen Einstellung und seiner ethischen und menschlichen Werten“, sagte unmittelbar nach der Staatsgründung David Ben Gurion. Wenn man das besetzte und geraubte Land noch nicht zurückgeben kann, dann sollte man mit dem beginnen, was man leichter zurückgeben könnte: die Rückgabe der gestohlenen Identität, die Achtung vor der persönlichen Würde, die bei uns in Artikel 1 unseres Grundgesetzes garantiert wird, und die Ächtung der negativen Einstellung gegenüber Arabern, die man nicht einmal hasst, sondern nur verachtet. Hass ist eine Leidenschaft, die man besiegen und bezähmen kann. Verachtung ist eine Charaktereigenschaft, die man schwer loswird.
Sie schreiben, dass das „demokratische“ Israel inzwischen am europäischen Pranger steht, und mahnen die Völker des Abendlandes wegen ihrer Schuld gegenüber den Juden. Wollen Sie mit der so genannten Schuld gegenüber den Juden die Schuld der Israelis gegenüber den Palästinensern ausgleichen? Dazu schreibt Uri Avnery: „Das Schreckliche, das Deutsche den Juden angetan haben, hat mit der heutigen israelischen Politik nichts zu tun.“ Sie aber wollen noch weiter zurückgehen, bis zur Inquisition, bis zum Kosakenführer Chemilnietzky und bis zu den russischen Pogromen Ende des 19. Jahrhunderts. Sind denn die Palästinenser für alle diese Gräueltaten des christlichen Europa verantwortlich? Haben nicht die Araber in Nordafrika und die Moslems auf dem Balkan die vor der Inquisition geflohenen Juden aufgenommen und gerettet? Wer das nicht weiß, wie soll er ermessen können, was die Gründung des Staates Israel für seine Opfer bedeutet? Und Sie, Herr Biermann, wissen Sie was die Gründung Israels für die Palästinenser bedeutet? Es ist ihre Shoah, die bei ihnen Nakbah heißt. Dürfen die Palästinenser keine Opfer sein? In Ihrem Essay haben Sie kein einziges Wort darüber verloren. Im Gegenteil, Sie manipulieren die Geschichte, die Fakten und die Bilder. Sie vergleichen eine Palästinafahne über dem Sarg eines Getöteten mit der blauweißen Davidstern Fahne bei einem Begräbnis eines israelischen Soldaten und suggerieren dem Leser, dass es sich um einen Konflikt unter Gleichen handelt. Sie rechnen eins zu eins auf. Dabei ist die Zahl der palästinensischen Opfer, die bei Ihnen gar nicht vorkommen, fünf- bis zehn Mal größer, als die der israelischen. Sie nennen die zweite Intifada einen „systematischen Terrorkrieg“ und verlieren kein einziges Wort über den systematischen Terrorkrieg der Israelis, besonders gegen eine Zivilbevölkerung, gegen Frauen und Kinder, gegen eine zivile Infrastruktur, wie wir es 2008 und 2014 in Gaza erlebt und gesehen haben. Sie schreiben nichts von den vom israelischen Staat verordneten gezielten Tötungen, denen kein Gerichtsurteil vorlag und bei denen auch viele Unschuldige umkommen. Es sind aber Morde.
Sie empören sich über die Gleichsetzung von Sharon mit Hitler. Zu Recht, denn Sharons Verbrechen sind allein schon schlimm genug. Haben Sie sich auch empört, als man Arafat mit Hitler verglichen hat? Nein, das haben Sie nicht. Sie empören sich über den europäischen Pranger. Ich würde sehr gerne wissen, von welchem Pranger Sie schreiben. Von der Bildzeitung etwa, die in großen Lettern kündet: „WIR WEINEN MIT ISRAEL“? Von der ZEIT, von der FAZ, vom STERN, von Fernsehen und Rundfunk, die alle eindeutig pro Israel sind. Wenn sich in den letzten Wochen und Monaten nach dem brutalen Überfall auf Gaza im Sommer 2014 ein kritischer Trend gegen Israels Politik langsam und vorsichtig bemerkbar macht, dann müssen wir alle dankbar dafür sein. Oder ist bisweilen kritische aber wahre und sachliche Kritik gegenüber Israel schon der Pranger, von dem Sie schreiben? Ich habe immer noch den Eindruck, dass die deutschen Medien Israel immer noch mit Glacéhandschuhen anfassen, denn sie haben Angst, dass Zionisten wie Henryk M. Broder und Sie sie als Antizionisten beschimpfen, was unweigerlich zur Beschuldigung als Antisemit führt. Schlimmer kann man in diesem Land nicht diskreditiert werden. Ist Ihnen jemals in den Sinn gekommen, dass die Kritik der rassistischen zionistischen Ideologie eigentlich zu jedem aufgeklärten Intellektuellen gehören müsste? Sie sollten einmal die Bücher von Hajo Meyer lesen, dann wüssten Sie, dass Antizionismus mit Antisemitismus nichts zu tun hat. Sollte Ihnen der Name Israel Shahak etwas sagen, dann empfehle ich Ihnen seine Bücher ebenso; eine seiner These war, das Zionismus und Antisemitismus zwei Seiten derselben Medaille sind. Laden Sie doch einmal die Israelis Moshe Zuckermann oder Michel Warschawski ein, damit Sie ihnen den Unterschied erklären. Aber vielleicht wollen Sie gar nicht mehr aufgeklärt werden. Oder hören Sie nur darauf, was Henryk Broder Ihnen einflüstert?
Es ist für die Regierung in Israel und den Organisationen, die Israel blind und bedingungslos unterstützen, sehr bequem, jede sachliche Berichterstattung über Zerstörung von Wohngebieten, Plünderungen von Häusern und Institutionen durch israelische Soldaten, Tötung und Misshandlung von Zivilisten, als Antisemitismus zu stigmatisieren. Zuletzt waren es fast 100 000 Israelis, die auf dem Rabinplatz in Tel Aviv Sharon aufgefordert haben: Raus aus den besetzten Gebieten. Darunter auch Ihr Freund Amos Oz. Sind das alles Antisemiten?
Hören Sie auf, so zu tun, als ob hier in Deutschland alle für die Vernichtung Israels sind, am besten durch irakische oder iranische Mittelstrecken Raketen. Israels Existenz ist nicht in Gefahr. Das hat erst vor wenigen Wochen im Spiegel kein geringerer als Israels Präsident gesagt: „Unsere Armee ist die stärkste Armee im Nahen Osten.“ Und die viertstärkste der Welt, um dies noch zu ergänzen. Israel ist nicht mehr so jung und auch nicht mehr so bedroht. Aber nach Intoleranz und Korruption stinkt es dort mehr denn je. Gleichwohl hat sich in Israel einiges grundlegend geändert. Die Palästinenser haben zwar kein Quadratzentimeter Boden zurückgewonnen, dennoch ist es ihnen gelungen, den Israelis die Freude am Leben zu verderben, wie die Israelis es ihnen verdorben haben. Sie tun es auf ihre Art mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen. Das sagt Motti, ein Tel Aviver Künstler, in einem Interview. Seine Meinung ist in Israel natürlich nicht mehrheitsfähig, aber der totale Verzicht auf moralische Bewertung der palästinensischen Selbstmordattentäter ist erfrischend und wohltuend. Die Palästinenser hätten auch gerne Panzer, Kampfflugzeuge und Hubschrauber. Aber schon bei dem Verdacht, die palästinensische Behörde hätte Maschinengewehre und Munition illegal einführen wollen, hat sich ganz Israel überschlagen und die westlichen Politiker und Medien mit ihnen.
Je länger ich in Ihrem Essay eindringe, desto frustrierter bin ich über Ihre totale und radikale Einseitigkeit und Naivität. Sie sprechen von den Ängsten der jüdischen Mütter und von dem aus israelischer Sicht falschen Friedensprozess, in dem immer mehr Juden ermordet werden. Warum sagen Sie nicht, dass immer mehr Israelis ermordet werden, und warum erwähnen Sie nicht, dass das Verhältnis der Toten immer noch 1:5 zugunsten der Israelis ist? Die Terroranschläge gegen Israel häufen sich und die Terroranschläge gegen die Terroranschläge, die so genannten Vergeltungsanschläge, lassen niemals lange auf sich warten. Hier gilt allerdings nicht die alte jüdische Rechtsregel „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, sondern, wenn Israel Vergeltung übt: Für ein Auge töten Israelis ein Dutzend Menschen und für einen Zahn ebenso viel. Das ist ein Rückfall in die durch die Thora abgebrochenen Tradition der Blutrache. Hier wird Israels Sicherheit mit Gewalt verteidigt und wenn es nicht reicht, dann eben mit mehr Gewalt. Und wenn es immer noch nicht reicht, weil auch die Palästinenser etwas von Vergeltung verstehen, dann wird ein Flüchtlingslager platt gemacht. Nein, Ihr Kollege Saramago, der kürzlich die israelischen Schandtaten mit Auschwitz verglichen hatte, hat natürlich übertrieben, aber ein Vergleich mit Lidice würde nicht durchfallen, aber Israels Ehre auch nicht retten.
Das gute deutsche Sprichwort: Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende, lieber Herr Biermann, trifft doch für die Palästinenser mindestens genauso gut, wenn nicht besser. Oder wie interpretieren Sie die Selbstmordattentate? Die Palästinenser haben auch mehr vom Friedensprozess erwartet. Zum Beispiel Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und die zurückgewonnene Würde und Identität, und vor allem, dass die Israelis sich an die Verträge halten. Das sind aber Worte, die in Ihrem Beitrag fehlen. Sicherheit, von der sie sprechen, ist auch wichtig, aber wie kann ein kleines, schwaches, besetztes und unterdrücktes Volk einer vielfach stärkeren Militärmacht wie Israel Sicherheit gewähren? Wie kann ein Staatspräsident wie Arafat oder jetzt Abbas, dem die Israelis gerade noch so viel Macht überlassen haben, dass er den Straßenverkehr überwachen kann, für Israels Sicherheit sorgen?
Sie überschlagen sich fast in der Verherrlichung der israelischen Demokratie, die inzwischen kaum noch vorhanden ist. Israel ist inzwischen das geworden, was kluge, vorausschauende Menschen vorausgesagt haben, eine Demoktatur. Natürlich werden Sie immer Recht haben, wenn Sie Israel mit brutalen Regimen wie im Irak, Syrien oder Somalia vergleichen. Sharon als eine „moralische Lichtgestalt“ im Vergleich zu seinen Kontrahenten in anderen arabischen Staaten zu nennen, zeigt, dass Sie Sharon nicht kannten und das ganze System in Israel nicht kennen. Mir scheint, Sie haben überhaupt nichts verstanden. Sie dilettieren einfach auf vermeintlich hohem Niveau.
Ich weiß nicht woher Sie Ihre Informationen haben. Sie schreiben zu Recht, dass die Israelis 1967 palästinensisches Gebiet okkupiert haben. Diese Gebiete aber als Faustpfand zu benutzen, haben die Israelis verpasst, nicht die Palästinenser. Das wird Ihnen Ihr Freund Amos Oz bestätigen, wie sicherlich auch alle anderen Freunde. Die Israelis haben längst den Zeitpunkt verpasst, und es war Amos Oz, der seinerzeit zum Alon-Plan, der noch wesentlich großzügiger war als alle Pläne danach, sagte: „Dieser Plan erinnert mich an Eis am Stiel, das ich als Kind gerne genascht habe. Zuerst leckt man drum herum und dann bleibt etwas in der Mitte. Was man den Palästinensern anbietet ist die Mitte ohne das drum herum.“ Das war bei Alon der Fall. Heute bietet man nicht einmal die Mitte, sondern nur den nackten Stiel. Und selbst das wollen die Israelis noch solange wie möglich behalten, auch wenn jeder weiß, dass es am Ende zwei Staaten geben wird. Zwar träumen noch viele israelische Rechte vom „Transfer“, aber daraus wird nichts werden. Eher werden die Israelis ihr Land verlassen. Gespräche und Verhandlungen finden nicht statt,und man dreht sich im Kreise. Jede neue israelische Regierung verkündet, dass sie mit den Palästinensern sprechen will, aber man wartet darauf vergebens, denn es ist immer dasselbe Spiel: Jede israelische Regierung ist bereit, nur mit den Palästinenser zu sprechen, die mit ihnen nicht sprechen wollen.
Worauf wartet man noch? Die Palästinenser haben schon 1993 die Existenz Israels anerkannt. Das reicht offensichtlich nicht. Israel soll als „jüdischer Staat“ anerkannt werden, eine Formulierung, die Israel von keinem anderen Staat bisher verlangt hat. Die Arabische Liga hat Israel schon längst signalisiert, dass sie bereit wäre, Israel anzuerkennen, wenn Israel mit den Palästinensern endlich einen Friedensvertrag schließen würde und sich aus den besetzten Gebieten zurückziehen würde. Aber diese Gebiete, die für die nationalreligiösen Juden heilig sind, sind offensichtlich für Israel wichtiger als Frieden. Israel hat alle Angebote bisher abgelehnt und immer solche Forderungen gestellt, die die Palästinenser nicht erfüllen konnten. Die Palästinenser sollten zum Beispiel auf Jerusalem verzichten. Das können sie aber nicht tun, genauso wie die Israelis es auch nicht können.
Es geht für Israel schon lange nicht mehr um die nackte Existenz und auch nicht um die Grenzen von 1948, sondern um einen fairen und notwendigen Kompromiss. Auf das Angebot der Arabischen Liga hat Israel nicht reagiert, stattdessen immer wieder das wiederholt, was auch Sie in Ihrem Beitrag wiederholen: Man kann den Palästinensern nicht trauen, man kann den Arabern nicht trauen, alle sind gegen uns und wir müssen uns selbst helfen. Das heißt, wie schon gesagt, Gewalt, mehr Gewalt und noch mehr Gewalt. Sie, die Araber, oder wir – bis zum totalen Krieg. Und Sie, Herr Biermann, finden das gut. Es gibt aber in Israel auch noch Politiker, Künstler und Soldaten, die fest davon überzeugt sind, dass die Alternative nicht ist: Sie oder wir, sondern: Sie und wir.
Dieser bewaffnete Aufstand, den Sie ablehnen und verurteilen, ist aber der Freiheitskampf des palästinensischen Volkes gegen die seit 1967 bestehende israelische Besatzung, wenn man im Moment davon absehen will, dass den Palästinensern auch schon 1948 Unrecht geschehen ist. Leider sind die hochdekorierten israelischen Generäle – und auch die israelische Öffentlichkeit – nicht bereit, das so klar zu sehen und zu akzeptieren. Es geht ihnen und Ihnen gegen den ideologischen Strich. Darum muss man sich auf eine Eskalation einstellen und vorbereiten. Denn die Palästinenser sind sich einig, dass dieser Krieg bis zum Ende der Besatzung geführt werden muss, dass man diesmal nicht nachgeben darf, um wieder sinnlose und zeitraubende Verhandlungen zu führen, die sich nur im Kreis drehen.
Victor Hugo sagte einen inzwischen berühmt gewordenen Satz: „Keine Armee der Welt kann eine Idee aufhalten, wenn die Menschen es wollen.“ Das haben die amerikanischen Generäle in Vietnam und die russischen Generäle in Afghanistan erfahren müssen. Den israelischen Generälen steht diese Erfahrung noch bevor.
Die deutschsprachigen Medien schafften es zum Beispiel, eine heikle israelische Debatte völlig zu verschweigen. Vor einigen Wochen verglich die israelische Nationalsängerin Yaffa Yarkoni in einem Interview mit dem israelischen Militärsender den Einsatz der israelischen Soldaten in den besetzten Gebieten mit dem Vorgehen der Nazis und rief deshalb die Soldaten auf, den Dienst zu verweigern. Sie nahm damit Bezug auf die Praxis der israelischen Armee, palästinensische Gefangene zu nummerieren. Nach dem Interview ist eine regelrechte Hetzkampagne gegen die preisgekrönte Nationalheldin Yarkoni lanciert worden, eine Sängerin, die Israels Kriege und Soldaten seit über 50 Jahren begleitet hat. Sie wird immer noch boykottiert, beschimpft und sogar in der Öffentlichkeit angepöbelt. Weite Teile der israelischen Friedenskräfte haben sich hingegen mit der Grande Dame der israelischen Musik solidarisiert. Hierzulande berichtete keine Zeitung, bis auf eine kleine Notiz in der FAZ, über diese Auseinandersetzung und diese war auch manipuliert, weil man nur berichtet hat, dass Yaffa Yarkoni Soldaten zur Dienstverweigerung aufgerufen hat und den Grund nicht erwähnte. Yarkoni sei Sängerin und keine Historikerin, wird in Israels rechten Kreisen moniert, und ihre Aussage nur als emotionaler Ausrutscher einer zwar verdienstvollen, aber verkalkten alten Dame (damals 77) beurteilt.
Wo waren Sie, Herr Biermann, als eine Kollegin, eine begnadete Künstlerin, Ihre Unterstützung gebraucht hätte? Wieso haben Sie Angst, dass der „Friedensnobelpreisträger Arafat sofort, direkt oder indirekt, alle A- und B- und C-Waffensysteme besorgen wird, die nötig wären, um die Eliminierung der Juden im Nahen Osten zu vollenden“, wenn in Israel kein ernsthafter Militärexperte solch einen Unsinn von sich geben würde, wenn Israels Staatspräsident selber sagt: „Dennoch sehe ich uns nicht im Existenzkampf. Wir sind die stärkste Macht im Nahen Osten.“ Sie aber plappern den Unsinn eines Henryk M. Broder nach, oder den Unsinn der israelischen Hasbara. Trifft das Diktum der rechtsextremen Kreise in Israel über Yarkoni etwas auch schon auf Sie zu?
Wer soll denn den Palästinensern A- und B- und C-Waffen verkaufen? Deutschland etwa? Und wo sollen diese gelagert werden, ohne vom israelischen Geheimdienst entdeckt zu werden? Und wo sollen diese Waffen eingesetzt werden? Und falls sie tatsächlich eingesetzt würden, wie sollen sie zwischen Israelis und Palästinensern unterscheiden? Eine Frage, die man übrigens auch an Israel richten könnte? In dieser Beziehung sind Israelis und Palästinenser wie siamesische Zwillinge. Stirbt der eine, kann auch der andere nicht überleben. Oder kennen Sie eine intelligente Atombombe, die zwischen Täter und Opfer unterscheiden kann?
Warum nicht einmal den Versuch unternehmen den Palästinensern zu glauben und sie dann an ihren Worten und Versprechungen zu messen? Sie werden doch nicht behaupten wollen, dass Israel irgendein Existenzrisiko eingeht, wenn es ausnahmsweise einmal diesen Weg gehen würde, statt immer wieder Vergeltung und Rache zu üben? Hier steht eine 100jährige Erfahrung im Vergelten, gegen die Vernunft und die Sehnsucht der Völker nach Frieden und Sicherheit. Der militante Jassir Arafat ist nicht militanter als der moralisch verkommene Ariel Sharon, der schon länger als 50 Jahren, immerhin länger als Arafat, „anderer Leute Arsch durchs Feuer reitet“. Ja, mit dem Unterschied, dass in den ersten Jahren Sharon auch seinen eigenen Arsch riskiert hat. An seinen Händen klebt auch literweise Blut, allerdings arabisches Blut, und dies ist, nach israelischem Umrechnungskurs, immer noch billiger als jüdisches.
Man kann fast jeden Satz, den Sie pro Israel angewendet haben, umdrehen und gegen Israel verwenden. Wenn Sie schreiben, dass die Palästinenser „kalt lächelnd von ihren diversen Obrigkeiten in den einigenden Terrorkrieg gegen das kleine starke Israel gehetzt werden“, dann erinnere ich mich an die Worte meines Cousins, der Hauptmann in der israelischen Armee war und davon gesprochen hat, dass die Palästinenser klein und stark sind und dank der anti-israelischen Propaganda, alle bei uns glauben, dass Israel stark sei. Man könnte auch schreiben: „Die Israelis werden kalt lächelnd von ihren diversen Obrigkeiten an den einigenden Terrorkrieg gegen das kleine starke Palästina gehetzt.“ Was ich als 18jähriger, als ich Soldat wurde, noch nicht wusste, das weiß ich jetzt: Auch die Israelis werden in den Krieg gehetzt. Auch die Israelis werden zum Krieg erzogen und einer Gehirnwäsche unterzogen. Es ist gut zu sterben für sein Vaterland – mit diesen Worten auf den Lippen starb der in Israel als Nationalheld verehrte Josef Trumpeldor bei der Verteidigung seiner Siedlung gegen arabische Angreifer. Das war allerdings schon vor mehr als 80 Jahren, lange vor der Gründung des Staates Israel, und dies wird heute noch in jedem Kindergarten gelehrt.
Und dass der Konflikt mit den Palästinensern die Israelis einigt, ist eine Plattitüde. Die Israelis hätten sich längst gegenseitig zerfleischt, wegen der Einhaltung des Schabat, wegen des Verzehrs von Schweinefleisch, wegen der Diskriminierung der orientalischen Juden, wegen des Einflusses der Rabbiner und wegen der Frage: Wer ist Jude? Dass diese Fragen nicht zum offenen Bruderkrieg führen, verdanken die Israelis dem über allem stehenden Konflikt mit den Palästinensern.
Wie oft müssen die Palästinenser versichern, dass es ihnen nicht mehr um die „Auslöschung des jüdischen Lebens im Nahen Osten“ geht? Warum glauben Sie ihnen nicht und warum wiederholen Sie diesen Unsinn? Und warum meinen Sie, dass die Palästinenser Grund haben den Juden bedingungslos und ohne Vorbehalte zu glauben? Haben die Juden die Palästinenser nicht oft genug betrogen, belogen und über den Tisch gezogen? Woher sollen die Palästinenser das Vertrauen in die jüdische Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit nehmen? Die Erfahrungen, die sie mit den Juden und Israelis gemacht haben, lehren sie ganz was anderes. In seinen Erinnerungen schreibt David Ben Gurion über die 1934 geführten Verhandlungen mit Auni Abdul Hadi, einem Mitglied des Obersten Arabischen Komitees. Schon damals beschwerte sich Abdul Hadi: „Weizmann und die anderen zionistischen Führer geben immer wieder Erklärungen des guten Willens gegenüber den Arabern ab – doch wo ist dieser gute Wille? Wo äußere er sich praktisch? Wollt Ihr uns mit schönen Erklärungen betrügen?“
An dieser Taktik der schönen Worte und Erklärungen hat sich bis heute nichts geändert. Die Israelis wollen mit den Palästinensern verhandeln. Aber worüber? Worüber soll man verhandeln, wenn die Regierungspartei Likkud beschließt, niemals einen palästinensischen Staat zuzulassen? Wie sollen die Palästinenser den Israelis vertrauen, wenn ihnen heute noch die Worte David Ben Gurions in den Ohren klingen: „Die Araber werden keine Opfer sein für die Verwirklichung des Zionismus. Nach unserer zionistischen Auffassung wollen und können wir unser Leben hier nicht auf Kosten der Araber aufbauen. Unsererseits werde das Recht der Araber auf ihren Grund und Boden zu bleiben, respektiert werden.“
Was ist aber mit diesem Recht geschehen? Wie dieses Recht respektiert wurde und wird, sehen wir heute fast täglich: Land wird konfisziert, Häuser dem Boden gleichgemacht, alte Olivenbäume ausgerissen, und den Opfern wird zynisch empfohlen, zum israelischen Gericht zu gehen, wo sie niemals Recht bekommen, zuletzt auch von Ihrem Sohn, lieber Herr Biermann. Und sehen Sie selbst, mit Ihren eigenen Augen, nicht, was in Israel und Palästina passiert?
1954 hat der erste Chefredakteur der großen israelischen Abendzeitung MAARIV, Dr. Asriel Carlebach, dessen Familie aus der Stadt stammte, in der Sie wohnen, aus Hamburg, unter dem Pseudonym Rabbi Ichpa Mistaba, was auf aramäisch so viel bedeutet wie „Rabbi , den es sehr angeht“, einen herzzerreißenden Artikel veröffentlicht, unter dem Titel: „Weine, geliebtes Land.“ Es war eine Anspielung auf Alan Pattons Buch: Cry Beloved Country, in dem über die Apartheid in Südafrika berichtet wurde. Carlebach beschreibt darin die Diskriminierung der Araber in Israel, die Vernichtung ihrer Dörfer, den Raub ihres Landes, die Zerstörung ihrer Häuser und wie sie von den jüdischen Israelis ausgelacht und verhöhnt werden, wenn sie ihr Recht fordern. Es geht in seinem Artikel um die Verlogenheit der israelischen Gesellschaft. Aus dem langen Artikel darf ich Ihnen, Herr Biermann, eine kurze Passage zitieren, die Ihnen sicher gefallen wird. Carlebach spricht zu seiner Tochter:
„Und Du, meine Tochter, mit Deinen großen Augen, die können das nicht verstehen. Du bist ein Sabre. Dich hat man daran gewöhnt, es als natürlich anzusehen, dass die Welt in zwei geteilt ist: Sieger und Besiegte. Herren und Unterlegene. Aber ich, ich bin nur ein Jude. Ich sehe im Geiste dort einen Beamten des Königreiches Spanien sitzen, der auf eine Rolle schreibt: „Der Besitz der Juden wird zugunsten der Krone konfisziert.“ Wegen des Verbrechens meiner Väter, die nicht an den gekreuzigten Gotte der Königin Isabella glauben wollten. Ich sehe dort weiter einen deutschen Schreiber, der einen Stempel aufdrückt: „Jeglicher Besitz der Juden ist gesetzlich aufgrund der Sondergesetze konfisziert.“ Entschuldige meine Tochter, solche Augen habe ich – und diese Augen verwirren mich.“
Hier, Herr Biermann, hier habe ich gehofft Sie zu packen. Aber ich habe Sie nicht packen können. Ich kenne Sie nicht persönlich, aber ich kenne Sie als Kämpfer für Recht, Moral und Gerechtigkeit; gegen Ungerechtigkeit und Scheinheiligkeit. Ich hatte niemals bei Ihnen das Gefühl Sie seien zynisch und heuchlerisch. Bis jetzt. Leider besitze ich nicht Ihre Bücher und Texte, denn sonst könnte ich Ihnen Ihre eigenen Worte ins Gesicht schleudern. Denn wenn ich bis jetzt versucht habe, ruhig und vernünftig Sie auf Ihre Fehlinterpretation der politischen Situation aufmerksam zu machen, so bin ich jetzt richtig sauer und zornig. Sie werden zynisch und das ist das Allerletzte, was die Israelis von solchen Gutmenschen wie Sie vertragen können.
Sie schreiben: „Es ist viel leichter eine Bombe zu basteln, als die kommunale Müllabfuhr zu organisieren.“ Sie haben den Nagel tatsächlich ohne Absicht auf den Kopf getroffen. Wollen Sie in einem Staat leben, in dem Sie keine Aussicht auf anständige Arbeit und ein freies Leben in Würde haben, und das Höchste, was Sie erreichen können in Ihrem armseligen und bedauernswerten Leben ist die Verantwortung für die Müllabfuhr? Ich weiß nicht inwieweit Sie wissen, wie sehr Sie Recht haben. Denn genau das ist es, was die Israelis den Palästinensern überlassen wollen, die Verwaltung der kommunalen Müllabfuhr.
Kein geringerer als Ehud Barak, Israels tapferster Soldat, hat gesagt, dass er unter solchen Umständen auch Terrorist geworden wäre. Und versuchen Sie einmal, wo Sie doch ein Wortkünstler sind, und das meine ich mit vollen Ernst, bei allem, was Sie über den Konflikt geschrieben haben, statt „Terrorist“ das Wort „Freiheitskämpfer“ einzusetzen. Verändert nicht ein solcher Tausch gleich radikal die ganze Sichtweise und Beurteilung? Meinen Sie nicht, dass es den „Märtyrer“ weniger darum geht, 70 Jungfrauen zu deflorieren, als um das, um was es immer in solchen Konflikten geht: „To fuck the enemy.“
Und was soll ein Familienvater seinen drei gesunden und klugen Kindern anbieten in dieser grauenhaften und aussichtslosen Situation. Soll er sagen, dass es rechtens ist, wenn er vor seinen Kindern von israelischen Soldaten verprügelt wird? Und das wäre noch human.
Herr Biermann, bevor Sie wieder zu diesem Thema schreiben, sollten Sie vielleicht nach Israel fliegen und nicht zu Ihrem Freund Amos Oz gehen, sondern nach Hebron, Ramallah oder Nablus, und dort ein, zwei oder gar drei Wochen leben. Ich bin gespannt, was Sie dann schreiben. Die palästinensischen Kinder, die um ihre Würde kämpfen, wissen nichts von Ihren Freunden in Israel, die aus Warschau oder Berlin stammen. Sie hätten vielleicht in Warschau oder Berlin bleiben sollen. Die palästinensischen Kinder wollen nichts von ihnen wissen und sie müssen es auch nicht. Für sie ist ein Israeli immer nur ein Soldat mit einer Uzi in der Hand. Andere Israelis kennen diese Kinder nicht. Oder sind Ihre Freunde schon mal in Jenin, Nablus oder Hebron gewesen und haben dort mit Kinder gesprochen? Mit palästinensischen Kinder, nicht mit Kinder von national-religiösen Siedlern.
Diese Kinder haben genauso ein Recht auf eine sichere Zukunft, auf ein sorgenloses Leben und die Möglichkeit zu reisen, wie Ihre „Rochele, Chajim und Judith“. Gegenwärtig können sie kaum von Nablus nach Ramallah fahren, eine Strecke von kaum 175 Kilometer. Sie benötigen dazu eine Sondergenehmigung. Erinnert Sie das vielleicht an etwas aus unserer leidvollen Vergangenheit?
Ich komme zum Schluss und zum Höhenpunkt Ihres Zynismus: „Und blutjunge Juden stiefeln angstvoll, von der Welt geächtet als Besatzer durch die Westbank…“. Schämen Sie sich nicht, einen solch zynischen und brutalen Satz geschrieben zu haben? Jetzt soll man noch mit den jungen israelischen Soldaten Mitleid haben? Soll man sie bemitleiden, dass sie auf palästinensische Jugendliche schießen müssen? Stiefel, das wusste schon Bertold Brecht, unterdrücken immer, ganz gleich welche Farbe sie haben. Die israelischen Stiefel unterdrücken brutal ein anderes Volk und viele Juden sehen zu und schweigen. Auch Sie Herr Biermann. Schicken die jüdischen Mütter nicht auch ihre Kinder in eine Armee, die schon lange keine „Verteidigungsarmee“ mehr ist, sondern eine gemeine, brutale Besatzungsarmee, deren Soldaten inzwischen auch all das tun, was solche Armeen in allen Zeiten und überall getan haben: sie plündern, sie schlagen, sie erschlagen und sie denken sich nichts dabei. Und wenn es hart auf hart kommt, dann berufen sie sich immer und überall auf den „Befehlsnotstand“. Da ist die israelische Armee nicht besser als irgendeine andere Armee, inklusiv der Wehrmacht oder SS. Erst kürzlich haben israelische Soldaten einen palästinensischen Minister geschlagen und getötet, der gegen ihr Vorgehen protestiert hat. Die unverschämte und dumme Erklärung der Israelis: Der Minister starb an Herzversagen. Solche Briefe bekamen unzählige Haushalte in Deutschland während des Dritten Reiches.
Es geht um vieles, vor allem aber um die Menschenwürde. Und da können wir dankbar sein, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes es mit dem Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ einleiteten und das es mich schmerzt, wenn auch heute wieder Soldaten und Polizisten unter anderem auch in Israel die Menschenwürde mit Füßen treten. Leider wissen sie nicht, dass es auch ihre eigene Würde ist, die sie zertreten.
Soll man jetzt nach der Lektüre Ihres Beitrags Mitleid haben mit den armen, blutjungen israelischen Soldaten? Sie können es machen wie inzwischen mehr als 500 Soldaten und Offiziere: den Dienst in der Westbank verweigern. Vielleicht schreiben Sie mal ein Heldenepos auf diese anonymen Helden, die die Haft und die Verachtung der Gesellschaft auf sich nehmen, um einem Ideal gerecht zu bleiben, dem Ideal der Gerechtigkeit.
Das war z.B. auch das Ideal des israelischen Dichters Avot Jeshurun, der in seinen hebräischen Gedichten auch jiddische und arabische Begriffe verwendet hat. Jeshurun setzte sich ein für menschliche Solidarität, für Mitleid, Erbarmen und Barmherzigkeit. Aus dieser Ethik hat er seinen Zorn über die „ethnische Säuberung“ geschöpft. Worte, die heute keiner mehr gebraucht, vergessene Worte, wie der vergessene Dichter und sein berühmtes Epos: Schweben über Gräbern.
Die Begeisterung über den Unabhängigkeitskrieg und den Sieg hat die Erinnerung an die Vertreibung überdeckt und so war Jeshurun damals, unmittelbar nach 1948 ein „politisch nicht korrekter“ Dichter, den man zu ignorieren hatte, weil er es gewagt hat, in seinem Werk an die Araber zu erinnern, die damals im offiziellen Sprachgebrauch „Anwesend – Abwesende“ genannt wurden. Heute, mehr als 50 Jahren danach, erinnern sich die Israelis an diesen frühen Mahner. Vielleicht sollten Sie sich mit seinem Werk beschäftigen?
Übrigen kann ich Ihnen einige wichtige Bücher zum Konflikt empfehlen Lesen Sie Ihren Freund Amos Oz, die Israelis David Grossmann, Uri Avnery, Felicia Langer und Gideon Levy, den Palästinenser Said Aburish, den Drusen Rafik Halabi und die deutsche Jüdin Angelika Schrobsdorf. Natürlich gibt es noch viele andere, die ich nicht erwähnt habe, aber für den Anfang wird es reichen.
Am meisten würde ich mich freuen, wenn ich demnächst einen Beitrag von Ihnen lesen werde, in dem einige der hier geäußerten Gedanken Verwendung gefunden haben.
Dieser Beitrag ist vor zehn Jahren geschrieben worden. Er ist leider noch so aktuell wie damals. Von Wolf Biermann habe ich natürlich keine Entschuldigung für seinen damaligen misslungenen Artikel gelesen.
Danke, Abi Melzer, danke! Ich lese Sie stets mit Genuss und Freude. Sie sprechen mir voll aus dem Herzen.
Wo bleibt das Herz der deutschen Politiker und vieler Kulturschaffender? Es ist von den selben eiskalten Gedanken verdrängt, die seinerzeit die meisten deutschen Intellektuellen dazu brachten, Hitler und seinen Rassenwahn zu beklatschen.
Ich bewundere Ihre menschliche, emotionale Intelligenz und die Fähigkeit sie rhetorisch gekonnt auszudrücken.
Herzlichst – Wolfgang Behr
Lieber Herr Melzer,
was für ein Brief!!!
Alle Achtung und herzlichen Glückwunsch. Ich werde ihn weiterschicken an meine Freunde,
die immer noch die schrecklichen Taten der Israelis an den Palästinensern verteidigen.
Wie gut, dass wir wieder den Semit lesen können.
Ich hoffe, dass Sie nie aufgeben werden.
Grüße Sie ganz herzlich,
Waltraud Kötzel