von Reiner Bernstein
Ich entsinne mich, dass ein führender Repräsentant der Münchner Israelitischen Kultusgemeinde vor Jahren nichts davon wissen wollte, dass antisemitische Einstellungen in der Bevölkerung nur Normalität gehören. Stattdessen wurde er nicht müde, mir seine positiven Erfahrungen bei Führungen durch die Synagoge am Jakobsplatz hervorzuheben. Was hat sich seither geändert? Die israelische Politik ist innen- und außenpolitisch unter Druck geraten – in den Bevölkerungen der westlichen Welt und in der internationalen Diplomatie. Wer heute dem Staat Israel die Achtung von Rechtsstaat und Demokratie zugutehält, muss mit Hohngelächter rechnen.
In diese Konstellation fällt der Antrag „Gegen jeden Antisemitismus! – Keine Zusammenarbeit mit der antisemitischen BDS-Bewegung (‚boykott, divestment and sanctions‘)“ der Münchner CSU- und der SPD-Stadtratsratsfraktion vom 11. Juli. Bezeichnenderweise verfügen die Antragsteller nicht einmal über ausreichende Englischkenntnisse, sonst würden sie „Boykott“ nicht mit „k“ schreiben und hätten das „and“ zugunsten des Kommas vermieden.
Inhaltlich machen sie sich zum Büttel der israelischen Politik. Wie Benjamin Netanjahu und seine Gefolgsleute wittern sie hinter jeder Kritik antisemitisch kontaminierte Proteste. Doch hat nicht Saul Friedlaender geklagt, dass „der Zionismus von der äußersten Rechten eingenommen und sogar gekidnappt worden“ und es ihm „peinlich (ist), dass ausgerechnet ich, der hätte wissen müssen, was eine Besatzung den Besetzten und den Besatzern antut, das ‚Menetekel‘ nicht sah“? Er fühle sich Israel sehr verbunden. „Aber wenn es irgendwann zu einem Apartheid-System käme, würde ich meinen Freunden raten, nicht mehr dorthin zu fahren.“
Mit welchem Israel zeigen sich die Antragsteller solidarisch? Hat sich der Stadtrat gegen die öffentliche Veranstaltung verwahrt, auf der Ende Mai emphatisch die „Wiedervereinigung Jerusalems“ gefeiert wurde, obwohl die Annexion von 1980 umgehend vom UN-Sicherheitsrat einschließlich den USA zurückgewiesen wurde? Wahrscheinlich wird auch die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini zu den Antisemiten gerechnet, nachdem sie im Oktober 2016 unter Verweis auf die UN-Grundrechtscharta die BDS-Maßnahmen als Teil der Meinungs- und Assoziationsfreiheit anerkannt hat.
Der israelischen Politik nutzt den Antisemitismus, wenn ihr dieser in den Kram passt. Beispiel Budapest: Der israelische Ministerpräsident wird es sich nicht nehmen lassen, in einigen Tagen seinen Amtskollegen Viktor Orban zu besuchen, obwohl dieser kürzlich Miklos Horthy würdigte, der 1944 der deutschen Besatzung mehr als 600.000 Juden in die Gaskammern lieferte. George Soros, in Ungarn landesweit als antijüdische Karikatur plakatiert, untergrabe auch Israels demokratisch gewählte Regierung, indem er Organisationen finanziell unterstütze, die den „jüdischen Staat“ diffamieren und sein Recht in Abrede stellen, sich zu verteidigen, sekundierte der Sprecher des Auswärtigen Amtes.
Seien die beiden Münchner Großfraktionen ehrlich: Ihr Antrag soll die endgültige Inbesitznahme von „Judäa und Samaria“ unterstützen und jene mundtot machen, die ihr widersprechen. Dabei soll das Völkerrecht keine Rolle spielen, weil das Land Israel als die ewige Heimat des jüdischen Volkes reklamiert wird. Am 05. November 1995 ist Yitzhak Rabin dem rabbinischen Verdikt „Wen das Land nicht kümmert, um den kümmert sich das Land nicht“ zum Opfer gefallen, nachdem er im Osloer Interimsvertrag die Umgruppierung israelischer Militäreinheiten in der Westbank (keineswegs die Auflösung von Siedlungen!) unterschrieb.
2013 wurde Staatspräsident Reuven Rivlin als „kleiner Lügenjude“, „arabischer Agent“, „verachtenswerter Kriecher“, „Verräter“ und „Präsident der Hisbollah“ beschimpft, als er im Rahmen einer endgültigen Annexion der palästinensischen Bevölkerung die volle Rechtsgleichheit anbot. Der Staat Israel braucht heute keine äußeren Feinde, er droht zu implodieren.
MS vom 11. Juli 2017.
Traurig, wie viele gut meinende Menschen das Gehirn ausschalten, wenn nur das Wort „Israel“ und „Jude“ fällt. Noch trauriger, wie wohlmeinende kritische Menschen diffamiert werden . . .