von Nirit Sommerfeld
Liebe Wuppertalerinnen und Wuppertaler!
Mein Name ist Nirit Sommerfeld, ich bin deutsch-israelische Jüdin, bin
Sängerin und Schauspielerin von Beruf und lebe in Deutschland. Ich stehe hier als Mitglied des Vereins „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“, und als jüdische Stimme sage ich Euch: Israel handelt nicht in meinem Namen, nicht in unserem Namen, nicht im Namen des Judentums, und nicht im Einklang mit jüdischen Werten!
Genau heute vor 54 Jahren war der sogenannte Sechs-Tage-Krieg zu Ende, und mit diesem Kriegsende begann etwas, das noch schlimmer ist als sechs Tage Krieg. Was kann schlimmer sein als Krieg, fragt Ihr Euch?!
Dauerhafter Krieg ist schlimmer! Die Militärbesatzung der palästinensischen Bevölkerung in der Westbank, in Ost-Jerusalem, den syrischen Golanhöhen und in Gaza ist dauerhafter Krieg, der tagtäglich, seit 19.723 Tagen durch Einschränkung, Unterdrückung, Unfreiheit, Bespitzelung durch Geheimdienst, Folter, Verhaftungen ohne Anklage, Hauszerstörungen, Schikanen, Vertrauensverlust, rohe Gewalt und all ihre Folgen Millionen von Palästinenser*innen quält.
Neueste historische Erkenntnisse, die erst letzte Woche in der israelischen Tageszeitung Haaretz veröffentlich wurden, zeigen ganz klar, dass die Besatzung durch Israels Militär von langer Hand geplant war. Die Dokumente zeigen, dass bereits sechs Jahre vor dem sogenannten Sechs-Tage-Krieg detaillierte Pläne erstellt wurden, die für die Militär-Herrschaft in den später Besetzten Gebieten benötigt werden würden. Der Staat Israel bemüht sich, diese und andere geheime Akten weiterhin unter Verschluss zu behalten. Aber Wahrheit ist wie Löwenzahn: Man kann sie beschneiden und versuchen, sie auszurupfen und zu unterdrücken – sie wird ihren Weg an die Oberfläche finden, so wie der Löwenzahn Asphalt durchbricht.
Doch der Widerstand, den wir erleben, wenn wir über all das sprechen wollen, ist härter als Asphalt. Er geht von Israel aus und hat sich in Deutschland verselbständigt. Ich erlaube mir darüber zu urteilen, weil ich sowohl hier als auch in Israel gelebt habe. Ich bin vor 12 Jahren mit meiner Familie nach Tel Aviv gezogen. Zwei Jahre später kehrte ich mit gebrochenem Herzen nach Deutschland zurück, weil ich es nicht ertrage, dass mein Land eine „Demokratie“ ist, die aber nur für mich und meine jüdischen Mitbürger*innen existiert.
Es wird Zeit, dass wir in Deutschland offen sprechen, über die Menschenrechtsverletzungen, die ethnische und religiöse Trennung, die Benachteiligung – per UN-Definition ist das Apartheid – die den Alltag der palästinensischen Bevölkerung bestimmen, auch wenn uns das Sprechen sehr schwer gemacht wird. Wir alle sind schon mit dem Vorwurf des Antisemitismus beschmutzt worden. Für mich als Tochter eines Holocaust-Überlebenden, dessen Vater im KZ ermordet wurde, ist das besonders schmerzlich. Gleichzeitig weiß ich, wie unglaublich weh es tut, wenn Du plötzlich entdeckst, dass alle Wahrheiten, auf denen Dein Leben beruhte, Brüche bekommen. Das ist der Grund dafür, dass die allermeisten Israelis und leider auch viele Juden diese Wahrheiten leugnen und nicht sehen wollen oder können.
Israel indoktriniert seine Bevölkerung, indem die Menschen bereits im Kindergartenalter und später in der Schule darauf vorbereitet werden, ins Militär zu gehen. Wir werden darauf geeicht, Araber – man spricht in Israel nicht von Palästinensern – also Araber als Feinde zu betrachten, die angeblich nichts anderes wollen als Juden zu vernichten. Es wird uns mit den immer gleichen Sätzen zum Beispiel erzählt, „sie wollen uns ins Meer werfen!“; ich konnte keine einzige Quelle finden, die diese Aussage von arabischer oder palästinensischer Seite belegt. Aber dieser Satz ist in israelischen Gehirnen eingebrannt. Ebenso Sätze wie „Wir reichen ihnen immer wieder die Hand zum Frieden, aber die Araber verpassen keine Gelegenheit, eine Gelegenheit zu verpassen!“, oder „wir haben ihnen Gaza zurückgegeben, und das Einzige, was wir dafür bekommen haben, sind Raketen und Hamas!“ oder ganz einfach: „Sie sind alle Terroristen“. Hinzu kommt seit fast 20 Jahren diese Trennmauer, von denen die Israelis glauben, sie diene ihrer Sicherheit, und darum gebe es angeblich keine Attentate mehr in Israel.
Wenige Israelis durchschauen diese Indoktrination, weil sie vor allem eins erzeugt: Angst. Ich behaupte mal, dass praktisch jeder Mensch in Israel Angst hat, bewusst oder unterschwellig. Mir war es möglich, diese Angst zu überwinden, weil ich einen Blick über die Mauer gewagt habe. Weil ich Menschen aus Palästina durch alle Schichten hindurch kennen und schätzen gelernt habe. Aber keiner meiner Freunde oder Verwandten hat jemals mit mir eine Reise „nach drüben“ gewagt.
Gerne hätte ich ihnen Palästinenser vorgestellt, mit denen ich von Nablus bis Hebron, von Ramallah bis Bethlehem gesprochen habe, und die immer wieder sagen: „Die erste Intifada haben wir mit Steinen gekämpft, die zweite mit Bomben. Die dritte kämpfen wir gewaltfrei mit unserem Verstand. Wir hassen keine Juden, wir wollen keine Israelis vertreiben, aber wir wollen die gleichen Rechte genießen und auch wie Menschen in Würde leben und nicht wie Tiere behandelt werden.“
Ja, es sind im Mai Raketen aus Gaza geflogen. Leider beginnt die Berichterstattung hier bei uns erst damit. Als sei dem nichts vorausgegangen! Mich erreichen mehrmals die Woche übers Internet erschütternde Nachrichten, dass wieder einmal ein palästinensischer Mensch durch israelische Gewalt getötet wurde – sei es in Gaza, in Ostjerusalem oder der Westbank, manchmal sogar innerhalb Israels. Mehrmals die Woche, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Unter den Getöteten sind unbewaffnete Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer, Menschen mit Behinderungen. Hören wir hier etwas davon? Werden wir tagtäglich mit diesen Katastrophenmeldungen konfrontiert?
Über all das müssen wir hier in Deutschland reden können, ohne des Antisemitismus bezichtigt zu werden! Die schrecklichen kriegerischen Ereignisse des vergangenen Monats in Israel, Gaza und Palästina haben viel zu viele Todesopfer gefordert, dazu Verletzte und Traumatisierte auf beiden Seiten. Die zahlenmäßige Unverhältnismäßigkeit, die wir auch hier sehen, spiegelt das Kräfte-Ungleichgewicht deutlich wider. Ich vermute, dass auch hier in Wuppertal Menschen stehen, die Verwandte und Freunde in Palästina haben, um deren Leben und Sicherheit sie fürchteten und leider weiterhin fürchten müssen. Aber diese schreckliche Zeit hat auch etwas Gutes hervorgebracht: Junge Frauen und Männer aus Palästina, oder deren Eltern aus Palästina stammen und die hier in Deutschland studieren oder arbeiten, werden aktiv, gehen auf die Straße, erheben ihre Stimmen, und sie organisieren solche Veranstaltungen wie diese Kundgebung hier. Zeitgleich gibt es heute in Nürnberg eine ähnliche Veranstaltung, gestern gab es eine in München, letzte Woche eine in Kiel, in Freiburg und immer wieder welche in Berlin. Wir als Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost solidarisieren uns mit diesen Menschen! Wir sagen es in aller Klarheit: Demokratie, die zwischen Mittelmeer und Jordan nur für uns Juden gilt, ist keine Demokratie! Unsere israelische Freiheit ist nichts wert ohne die Freiheit unserer palästinensischen Mitmenschen! Erst wenn ALLE Menschen zwischen Mittelmeer und Jordan frei und selbstbestimmt in Würde leben können, erst wenn wir als Israelis unsere Verantwortung für Landraub und Vertreibung anerkannt haben werden, erst dann wird es Frieden und Sicherheit für Juden, Muslime und alle anderen Religionen und Ethnien in Nahost geben.
Es ist vollkommen unrealistisch, optimistisch zu sein. Es müsste ein Wunder geschehen, damit es gerade mit der neuen israelischen Regierung so eine Wendung geben könnte. Aber hey: War der Mauerfall nicht auch ein Wunder? Der Physiker Albert Einstein sagte: Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist. Lasst uns also hart arbeiten, real unsere Stimmen erheben – und an Wunder glauben!
Danke fürs Zuhören!