Schuld und Scham, warum?

Krieg, meint sein Theoretiker Carl v. Clausewitz, sei über die erste Schlacht hinaus nicht mehr planbar. Die Kräfte entwickeln eine nicht abschätzbare Dynamik. Man kann ihn vielleicht im Laborformat mit einem Bankraub vergleichen: die Räuber wissen nicht im Voraus, wie das Personal und zufällig anwesende Kunden sich verhalten werden. In der Bank löst sich Alarm aus, die Angestellten leisten verhalten Widerstand; zuletzt endet der Bereicherungsversuch mit Geiselnahmen und Toten. Natürlich sind die Bankräuber „schuld“. Was kann das schon heißen, wenn es Tote gegeben hat. Ebenso fragt man sich, ob die Eskalation durch polizeitaktische Fehler verursacht wurde. Die Polizei trägt dann eine Verantwortung für die Toten mit, aber „Schuld“? Heiner Meulemann (in: Soziologie von Anfang an) beschreibt die relationalen Strukturen, die auch außerhalb gewollter Situationen entstehen, sobald Menschen miteinander in Beziehung treten. Schuld ist ein religiöser Begriff, einerseits diffus, andererseits linear, weil trotz eines Verhältnisses des Menschen zur Gottheit ein soziologisches Verhältnis negiert wird. Im Recht und in der Soziologie ist also der Schuldbegriff deplatziert ist. Religiös gesehen soll sich Schuld sogar vererben. Abgeleitet wird diese Vorstellung aus einem religiösen Mythos, der Mensch sei nach dem Ebenbild des ihn schöpfenden Gottes geschaffen worden, so dass er diesem ein gottgefälliges Leben schulde. Jede Abweichung von diesem Kanon wird zur „Schuld“. Anders als das jüdisch semitische Gottesbild ließen die Griechen den Menschen ein Geschöpf des Prometheus sein, dessen Göttergeschlecht von den olympischen Göttern gestürzt wurde. Der klassische Mensch schuldete den herrschenden Göttern nichts, außer den Respekt vor ihren Gewalten. Der ursprüngliche freie Mensch der klassischen Antike ließ sich also durch Übernahme des Monotheismus in eine Pflicht nehmen, aus deren Unterdrückung er sich langsam löst.

Guckt man in das vom klassischen römischen Recht her entwickelte BGB, entdeckt man den terminus technicus der „Schuldverhältnisse“. Diese werden durch Vertrag begründet oder durch einseitige Verletzung absoluter Rechte Dritter, etwa des Eigentums, erzeugt: Schadensersatzanspruch. In ähnlicher Logik kam im alten Germanien ein Mörder frei, wenn er der geschädigten Sippe ein Wergeld entrichtet hatte. Dennoch war mit dem Wergeld nicht alles abgegolten. Die Griechen studierten das Problem an Orestes. Er hatte den Mord an seinem Vater gerächt und dessen untreues Weib samt deren Liebhaber erschlagen. Das war insoweit in Ordnung, nur war das untreue Weib auch Orestes Mutter. . Die Erinnyen verfolgten ihn wegen des unlöslichen Widerspruchs der Pflichten. Die Erfüllung der Pflicht A bedeutet simultan die Verletzung der Pflicht B.

Diesen Widerspruch auf einen Krieg oder Bankraub übertragen, ergeben sich dieselben unlösbaren Widersprüchlichkeiten. Auf einseitiges Recht oder isoliertes Unrecht kommt es nicht mehr an. „Schuld“ tragen alle Beteiligten. Die Polizei könnte eine überfallene Bank belagern, bis die Räuber ausgehungert aufgeben. Problem sind die Geiseln, die man lebend befreien muss, weil man deren Rettung verpflichtet ist. Sieht man in der Totalszenerie eines Bankraubs nur die Befreiung der Geiseln als Polizeiaufgabe, dann gehen tote Geiseln auf das moralische Konto der Polizei. Sie hat etwas falsch gemacht. Sie will nämlich simultan die Räuber fassen; sonst könnte die Polizei alle Bedingungen erfüllen und die Räuber mit Beute und Fluchtauto ziehen lassen. Irgendwann wird sie die Räuber schon fassen. Diesem Widerspruch zwischen Geiselrettung und Rechtsbruchbekämpfung entwächst die orestische Schuld der Polizei.

So ist es auch mit dem Krieg; hat man ihn einmal aufgenommen, kommt es zu moralischen Komplikationen. Solange etwa die Ukraine auf dem eigenen Territorium gegen den russischen Aggressor kämpft, wird man ihr kaum „Schuld“ vorwerfen können. Aber unsere Gedanken kreisen nach wie vor um den Zweiten Weltkrieg. Polen wurde von Deutschland überfallen und verteidigte sich. England und Frankreich erklärten Deutschland den Krieg wegen des Angriffs auf Polen; im weiteren Kriegsverlauf verbündeten sich England und Russland, das mit Deutschland zusammen Polen angegriffen hatte. Und zuletzt nahmen sie hin, dass zur Gänze Polen dem russischen Joch unterworfen blieben. So gesehen hätte man auch auf die Kriegserklärungen verzichten können. Der Krieg endete auch ganz anders als er begonnen wurde. Angeblich sollen die Deutschen versucht haben, kurz nach Kriegsbeginn einen Kompromissfrieden auszuhandeln. Aber England wollte nicht mehr verhandeln. Endlich hatte es einen Kriegsgrund, der auch sein Commonwealth verpflichtete, Hilfe zu leisten. Wegen des Anschlusses Österreichs hätte England die Australier und Kanadier kaum überzeugen können, Truppen zu entsenden.

Man kann es daher auch so sehen, dass ein Krieg gegen Deutschland schon 1933von England gewollt war, nur hatte es bis zum Angriff auf Polen und bis zum Pakt mit der Sowjetunion keinen Grund gegeben, der unbeteiligten Völkern als akzeptabel erschienen wäre. „Rheinlandbesetzung“, Anschluss Österreichs und Angliederung des Sudentenlandes waren keine materiellen Rechtsverletzungen, sondern nur förmliche. Die Sieger von 1918 hätten die Grenzkorrekturen und die Aufnahme Österreichs in das Reich schon 1919 zulassen müssen. Der Zweite Weltkrieg hätte also nicht stattfinden müssen; die britische Regierung hat, um Deutschland niederzuschlagen, ihr Weltreich verspielt. Der Suezkanal ist weg, Pakistan, Indien und Ägypten sind frei, der Rest ist heute amerikanisch orientiert. Der deutsche Führer hatte sich vielleicht nicht vorstellen können, dass er Krieg gegen ein zum Selbstmord bereites Land führen werde.

Schon 1914 führte die britische Regierung den Krieg gegen Deutschland im Sinne eines totalen Krieges auch gegen die Zivilbevölkerung. 1915 litt Deutschland unter Hunger (Kohlrübenwinter); schon 1941 begannen die Briten deutsche Städte anzugreifen. Der erste große Angriff richtete sich auf das historische Lübeck, das keinerlei militärische Bedeutung hatte. Sie bombardierten die Möhnetalsperre in der Spekulation, dass die Wassermassen die Zivilbevölkerung des Ruhrgebietes ersäufe. 1.200 Zivilisten ertranken. Man muss sich nur die Bilder von deutschen Innenstädten anzusehen, um zu erkennen, wie verbrecherisch der Krieg gegen Deutschland geführt wurde. Dass der Krieg verloren gehen werde, war angeblich Hitler schon klar, als der Angriff auf die Sowjetunion nicht zügig genug voranschritt. Ende 1944 sagten sich viele Deutsche, dass der Krieg nicht verloren gehen dürfe. Das Kriegsende werde das Ende Deutschlands sein. Wäre das Regime nicht selbst „bankräuberisch“ auf Gewalt programmiert gewesen, hätte es diplomatisch geschickt nach dem Waffenstillstand mit Frankreich die Kapitulation anbieten sollen; oder im Oktober 1941. So aber kam es zum „finis Germaniae“, dessen Verhinderungsversuche obiter auch die Katastrophe des Judentums bedeutete. Angesichts eines „Aus für Deutschland“ kam es den Deutschen auch nicht mehr darauf an, anderen analoge Katastrophen zuzumuten. Und an der Katastrophe der „anderen“ hatten die Sieger ihren Anteil. Ihr starrer Blick auf den militärischen Sieg ignorierte das Unglück, das die den Deutschen unterworfenen und ausgelieferten Bevölkerungen erwartete.

Am deutlichsten zeigt dies die Endphase um den Kampf in den Niederlanden::

Den Briten war es 1944 nicht gelungen, die Niederlande zu befreien. Folglich stand deren Bevölkerung eine Hungerkatastrophe bevor. Dass die Deutschen erst an ihre eigenen Mägen denken würde, lag in der Logik des Krieges. Es war also abzusehen, dass gegen Ende des Winters die Reserven erschöpft und die holländische Bevölkerung nichts mehr zu essen haben werde. Der niederländischen Exilregierung gelang es, mit den Deutschen Versorgungsflüge für ihre Bevölkerung zu vereinbaren. „Rosinenbomber“ flogen auf einer vorgegebenen Route zum Rhein und folgten dem Strom abwärts, um dann nach Abwurf der Lebensmittel über die Nordsee den deutschen Machtbereich wieder zu verlassen. Die Hungerkatastrophe wurde für die Niederlande vermieden.

Für die anderen geknechteten Gruppen in Deutschland, allen voran für die in Lager inhaftierte Bevölkerung gab es keine Advokaten, die deren Pflichtverteidigung übernahmen. Die Leichen von verhungerten Gefangenen, die amerikanische Bulldozer 1945 propagandagerecht in Massengräber schoben, sind deren eigene Opfer. Sie SS hatte nämlich ihre Leichen immer fein säuberlich eingeäschert. Das war in der absoluten Endphase der „Todesmärsche“ nicht mehr möglich. Diese Toten kann man wie tote Geiseln beim Bankraub der Polizei den Siegermächten anlasten. Natürlich bleiben die Geiselnehmer verantwortlich, aber der Tod der Geiseln geht nicht mehr auf deren Konto allein.

Diese Überlegungen werden in Bezug auf den Holocaust unterdrückt. Sie sind quasi verboten und tabuisiert. Es hätte auch für die Juden vieles anders ausgehen können, wenn man von Siegerseite her die Einwanderung von Juden nach Palästina nicht auf Personen mit einem Kapital von 1.000 GBP beschränkt hätte. Ursprünglich dachte auch die SS nicht an Massenmorde (Hermann Greive). Wahrscheinlich wäre heute das ganze Jordantal jüdisch besiedelt, heute ist die Lebensader des Landes ein Grenzfluss. Vor der Reichskristallnacht 1938 lebten noch 50.000 Juden mit polnischen Pässen in Deutschland, die das Reichsgebiet ganz unkompliziert seit der Machtergreifung der Nazis während der vergangenen 5 Jahren hätten verlassen können. Willy Cohn (in: „..kein Recht, nirgends“) war sogar 1937 mit Familie in Palästina und musste mangels Entgegenkommens mit den dortigen Behörden nach Deutschland zurückkehren. Die westliche Politik scheint von kolonialen und imperialistischen Interessen geprägt gewesen zu sein, aber keinen Sinn für eine gerechte Ordnung in Europa gehabt zu haben. Leute wie Wladimir Ze´ev Jabotinsky haben diesen Widerspruch erkannt und die Katastrophe so kommen sehen, wie es kam, weil es letztlich so kommen musste.

Denn eines war klar: einen zweiten Versailler Vertrag werde es für Deutschland nicht mehr geben. Diesmal ging es ums Ganze, um Sein oder Nicht-Sein für alle Betroffenen. Die linkslastige Lösung des Widerspruchs kann heute nicht mehr überzeugen.

18.09.2023 von Lobenstein

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