von Eurich Lobenstein
Der Antisemit ist ein Mensch wie Du und ich; abweichendes Kennzeichen soll sein, daß er was gegen Juden habe. Nur: was ist damit gemeint? Es wird kaum einen Juden geben, der zu 100 Prozent zu allem Ja und Amen sagt, was in Israel oder in der Diaspora geschieht. Manches ist verbesserungsbedürftig, anderes schwer zu kritisieren. Die nebulöse Definition führt dazu, daß die altehrwürdige Dame Charlotte Knobloch Herrn Abraham Melzer einen „berüchtigten Antisemiten“ nennt, weil er, idealistisch wie manch ein Jude ist, der schleichenden Judaisierung arabischer Gebiete im Westjordanland schriftstellernd opponiert.
Man könnte ganz nach Sigmund Freud analytisch vorgehen; die Persönlichkeit gliedert sich in „Es“ und „Ich“ und in „Über-Ich“. C. G. Jung hat die Persönlichkeit in Intro- und Extrovertierte gegliedert, Meyer und Squibb haben dieses System immer weiter subtilisiert. Bleiben wir beim Alt-Meister Freud. Er selbst spricht von einem instinktiven Antisemitismus (des „Es“) der germanischen und slawischen Völker, denen die christliche Religion zuwider ist; weil aber das ihnen aufoktroyierte Christentum ein jüdisches Derivat ist, sublimierten diese Leute ihren Haß gegen die christlich-moralische Bevormundung auf die Juden.
Wenn Freud recht hat, dann wären quasi alle deutsch- und slawisch stämmigen Menschen potentielle Antisemiten, wenn sie nicht inzwischen Materialisten geworden wären. Das paßt wiederum zu den Thesen von Otto Weininger, der (in: Geschlecht und Charakter) ausführt, ein rein arischer Mensch könne kein Antisemit sein, sondern nur ein solcher, der (um es mit kaiserlichen Worten auszudrücken) jüdisch verseucht sei. Er bekämpfe quasi den inneren jüdischen Schweinehund in sich und reproduziert seinen Selbsthaß auf die Juden um ihn herum. Ähnliches kann man bei Theodor Lessing auch nachlesen, der etwa Maximilian Harden dieser Psychopathie beschimpft.
Um nun wieder auf die Gleise zu kommen, bleiben wir bei Freud. Antisemitismus wäre dann bei klassischen Antisemiten Theodor Fritsch und bei Wilhelm Stapel ein instinktiver des „Es“; sie verteufeln die trockene Sprache Heinrich Heines und stellen dieser die tief-romantischen Gedichte Eichendorffs parallel. Der klassische Antisemitismus von Gerhard Kittel wäre dann einer des „Ich“, denn Kittel begründet seine Ablehnung der Juden mit deren religiöser Dekadenz, die auf die noch strammen Protestanten abfärbe. Der Antisemitismus Adolf Hitlers wäre dann auch ein solcher des „Ich“ gewesen. In „Mein Kampf“ führt er aus (S. 129), daß alle großen Volksführer es verstanden hätten, die Feinde eines Volkes als Feind einer einzigen Kategorie darzustellen. Angesichts der ausgemachten Instinkte seines Volkes blieben ihm nur die Juden als Feind übrig, obwohl er den Lebensraum Deutschlands gegen das Überleben der Russen durchsetzen wollte. Thomas Weber (in: Hitlers erster Krieg) hat herausgefunden, daß Hitler im Regiment List viele jüdische Kameraden aus den „Judendorf“ Ichenhausen hatte, die bei Hitler zwischen 1914 und 1918 keine instinktive Feindseligkeit hatten feststellen können. Im Gegenteil: Hitler verdankte seinem Vorgesetzen, Leutnant Hugo Guttmann das EK I; als Führer erwies er sich dankbar; Hitler ließ Guttmann aus den Fängen der Gestapo entkommen und ähnlich privilegierte er Eduard Bloch, der als Arzt Hitlers Mutter behandelt hatte. Bloch durfte sogar samt seinem Vermögen in die USA auswandern.
Man könnte sagen, Hitler wäre einer der selteneren Fälle des intellektuellen Antisemitismus des „Ich“-Teils der Persönlichkeit.
Wie kann nun aber ein Jude wie Abraham Melzer „Antisemit“ sein? Weil sein Vater und seine Mutter „Volljuden“ nach den Nürnberger Gesetzen waren, darf man ausschließen, daß er Antisemit seines „Es“ sein könnte. Er gibt eine „unabhängige jüdische Zeitschrift“ heraus, d.h. er wendet sich in erster Linie an Juden (im weitesten Sinne), was belegt, daß er in den Juden auch keine Kategorie von Feinden sehen kann. Aber er kritisiert heftig Israel, speziell die zionistische Politik dieses Staates. Das Problem ist also:
Gibt es einen Antisemitismus des freud´schen „Über-Ichs“?
Unterziehen wir uns einer Nabelschau: man selbst fühlt sich instinktiv in jüdisch-bürgerlicher Umgebung wohl, findet die Leute kultiviert und genießt das bürgerliche Flair eines jüdischen Salons. Simone Veil verkörpert in etwa dieses freundliche Judentum. Jüdische Musik – sefardische oder die eines Yidl mitn Fidl – sprechen einen an. Man selbst liest nicht nur Freud und Weininger, sondern verehrt jüdische Denker wie Edmund Husserl, Felix Hausdorff und Baruch Spinoza und man interessiert sich für jüdische Geschichte. Also ist man weder ein Antisemit des „Es“ noch einer des “Ichs“. Aber auch hier wäre ein Antisemitismus des Über-Ichs denkbar. Man findet die Beschneidung obszön, den Kult abergläubisch (oder neurotisch im Sinne Freuds) und den Talmud gedanklich abstrus wie Elisher Ben Abuja: Antisemit? Dann wären William Hirsch, Sigmund Freud und Wilhelm Reich alles Antisemiten. Das wäre der helle Wahnsinn: Daniel Barenboim ein Antisemit, weil bei ihm das israelische Identitätsgesetz nicht gut ankam? Bald können sich alle Juden gegenseitig als Antisemiten beschimpfen, weil immer einer das jüdische Über-Ich (Ideal) eines anderen für antisemitisch halten kann. Antisemitismus des Über-Ichs wäre dann eine Form demokratischer Praxis unter Juden.
Das kann nicht richtig sein.
Der Antisemitismus des Über-Ichs ist ein Instrument gewesen, dessen sich die SS zu bedienen verstand; gerade im Vorzeige-KZ Theresienstadt ließ die SS so etwas wie eine gelenkte Demokratie unter den zwangsgemeinschafteten Juden (H.G. Adler in: Theresienstadt, Antlitz einer Zwangsgemeinschaft) zu. Das hatte seinen Grund nicht in einer Humanität, sondern im Personalmangel der SS. Anfänglich vertrauten sie Juden, die im Weltkrieg kaiserliche Offiziere waren, nach den Aufständen von Sobibor und Warschau eliminierten sie gezielt diese als potentielle „Gefährder“. Ein Hauptschlagwort der NS – Zeit ist der Begriff „rücksichtslos“. Alles sollte damals „rücksichtslos“ in Angriff genommen werden. Wo die Deutschen nicht rücksichtslos vorgehen konnten, versuchten sie es mit Freundlichkeit (ebenso: Ralph Giordano) als Synonym für List.
Einen ähnlichen Zwiespalt der Gefühle kann man in der Judenpolitik der deutschen Bundesregierung erfühlen: Ursprünglich ging es der deutschen Regierung darum, mit einem zentral organisierten Judenrat die Rückerstattung und Wiedergutmachung schrittweise zu entwickeln, weil eine totale Konfrontation mit den Ansprüchen auf Restitution die Leistungsfähigkeit des geschlagenen Deutschlands überstiegen hätte. Der ursprüngliche Zweck des Zentralrats ist aber weitgehend erledigt, aber „die Juden“ haben – gänzlich unerwartet es wie der Mauerfall und die Wiedervereinigung waren – Zuwanderung aus der Sowjetunion erhalten und sich unkontrollierbar verneun- oder gar verzehnfacht (Zahlen von Charlotte Knobloch). Sie beginnen auf ihre Weise ein wirkliches Leben in der deutschen Diaspora zu entfalten, wenn sie diese jetzt nicht überhaupt erst begründen. Die Juden in der Mehrheit entgleiten dabei dem Griff der Bundesregierung über den Zentralrat. Die alte Zentralratsriege wird nervös wie die Bundesregierung und ihre „Antisemitismusbeauftragten“.
In ähnlicher Weise bekommt die Bundesregierung die Millionen Moslems nicht in den Griff, die gar nicht damit anfangen wollen, sich einem „Zentralrat“ zu unterstellen.
Also: Ende Zentralrat der Juden? Nicht unbedingt: Aber der traditionelle Zentralrat ist in einer Sandwichposition. Für Deutschland bleibt er Ansprechpartner und Hilfsinstrument deutscher Außenpolitik, die dafür streng pro-israelisch (aus Gründen der Staatsraison) ausgerichtet ist. Will der Zentralrat trotzdem seine „zentrale“ Legitimität gegenüber der deutschen Diaspora erhalten, wird er sich neu erfinden müssen. Vielleicht sollte er sich statt an Israel mehr an der amerikanischen Diaspora orientieren, die mit einem Jewish Outreach Programm auch weniger religiöse Juden und ein jüdisches Umfeld erreicht, das nach den Regeln des Talmuds außen vor stünde. Angesichts der säkularen Entwicklung unserer Gesellschaften werden auch die Juden immer säkularer. Israel wird dann von selbst zum Orientierungspunkt für das Judentums in der Diaspora, wie es John Mearsheimer (in: Die Israellobby) beschreibt. Das bedeutet auch, daß sich die Auseinandersetzungen der israelischen Gesellschaft in der Diaspora fortsetzen können, wo sich dann keine Fraktion gegenseitig des Antisemitismus bezichtigen darf. Das bedeutet allerdings auch das Abschütteln des Einflusses der Bundesregierung und Ihrer „Antisemitismusbeauftragten“. Diese werden dann zu wirklichen Zionismusbeauftragten der Bundesregierung. Und sekundieren der Fraktion der Diaspora, die regierungskonform ist. Aber ihre Maske wäre ab.