Sind Palästinenser keine Menschen?

Antwort auf Elie Wiesel

von Sara Roy

Herr Wiesel,

Ich habe Ihren Artikel über die Palästinenser in der New York Times vom 4. August gelesen und kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Ihr Angriff gegen die Hamas und Ihre schockierende Anschuldigung, die Hamas würde sogar Kinder opfern, in Wahrheit ein Angriff – sorgfältig verschleiert, aber unverkennbar – gegen alle Palästinenser ist, einschließlich ihrer Kinder.

Selbst ein Kind von Holocaust-Überlebenden – meine beiden Eltern haben Auschwitz überlebt –, bin ich entsetzt über Ihre anti-palästinensische Einstellung, die Sie, wie mir bekannt ist, schon lange hegen. Ich wollte Sie schon immer fragen: warum eigentlich? Welche Verbrechen haben die Palästinenser in Ihren Augen denn begangen? Etwa, dass sie der Welt vor Augen führen, dass Israel eine Besatzungsmacht ist und sie selbst nur Israels fast wehrlose Opfer? Oder dass sie sich der nun schon fast 50jährigen Unterdrückung durch die Juden widersetzen und uns durch diesen Widerstand dazu zwingen, uns als Volk der Tatsache unserer verlorenen Unschuld zu stellen, an der Sie ja so hartnäckig festhalten? 

Im Gegensatz zu Ihnen, Her Wiesel, habe ich viel Zeit in Gaza inmitten von Palästinensern verbracht. In dieser Zeit habe ich viele schreckliche Dinge gesehen und ich muss zugeben, ich versuche, mich nicht an sie zu erinnern, da sie bei mir immer noch ein starkes Gefühl der Beklemmung auslösen. Ich habe gesehen, wie israelische Soldaten auf Gruppen von Kindern gefeuert haben, die nichts weiter taten als sie zu reizen, einige mit Steinen, andere mit bloßen Worten. Ich musste so viele schreckliche Dinge mit ansehen, mehr als ich hier schildern will, aber ich muss Ihnen sagen, dass das Schlimmste, was ich gesehen habe, was mich in der Erinnerung immer noch verfolgt und sich jedem Vergessen verweigert, nicht Akte der Gewalt sind, sondern Akte der Entmenschlichung.

Es gibt da eine Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, Herr Wiesel, denn ich trage sie nun schon seit vielen Jahren mit mir herum und habe über sie nur ein einziges Mal geschrieben, und das vor sehr langer Zeit. Ich war in einem Flüchtlingslager in Gaza, als eine israelische Militäreinheit auf Patrouille auf ein kleines Baby stieß, das unmittelbar vor der Tür seines Hauses im Sand saß. Einige Soldaten kamen näher und bildeten einen Kreis um das Baby. Sie standen dicht nebeneinander und fingen an, das Baby mit ihren Füßen einander zuzuschießen, wie man sich einen Fußball zuspielt. Das Baby fing an, hysterisch zu schreien. Seine Mutter stürzte mit Schreien des Entsetzens aus dem Haus und versuchte verzweifelt, ihr Kind vor den Beinen und Füßen der Soldaten in Sicherheit zu bringen. Nach einigen weiteren Sekunden dieses „Spiels“ hörten die Soldaten auf, gingen weiter und überließen das verängstigte Kind seiner aufgelösten Mutter.

Ich weiß, was Sie jetzt denken müssen: Das war doch nur das Werk einiger weniger fehlgeleiteter Männer. Aber da bin ich anderer Meinung, denn ich habe seitdem viele weitere Akte der Entmenschlichung mit ansehen müssen, zu denen ich jetzt auch den Ihren zählen muss. Herr Wiesel, wie können Sie das Abschlachten von mehr als 500 unschuldigen Kindern mit dem Argument verteidigen, die Hamas benutze sie als menschliche Schutzschilde? Nehmen wir für einen Moment an, die Hamas verwende Kinder tatsächlich auf diese Weise: Rechtfertigt oder entschuldigt das in ihren Augen den Mord an diesen Kindern? Wie kann irgendein Mensch mit ethischen Grundsätzen so grotesk argumentieren? Bei dieser Argumentation kann ich keinen Unterschied mehr sehen zwischen Ihnen, Herr Wiesel, und den israelischen Soldaten, die das Baby als Fußball verwendet haben. Ihr Verhalten mag sich von dem der Soldaten unterscheiden und Sie würden es vielleicht niemals über sich bringen, ein palästinensisches Kind als leblosen Gegenstand zu behandeln, aber das Ergebnis Ihrer Worte ist dasselbe: den Palästinensern ihre Qualität als Menschen so weit abzusprechen und sie so sehr zu bloßen Objekten zu machen, das der Tod palästinensischer Kinder, einige davon innerhalb ihres eigenen Hauses ermordet, keine Gefühle mehr bei Ihnen hervorruft. Alles, worauf es Ihnen wirklich ankommt, ist, dass die Schuld am grausamen Auslöschen der Kinder nicht den Juden gegeben wird.

Trotz Ihrer beredten Worte ist klar, dass Sie glauben, nur Juden seien in der Lage, ihre Kinder zu lieben und zu beschützen, und nur sie verfügten über eine Menschlichkeit, die den Palästinensern fehle. Wenn dem so ist, Herr Wiesel, wie erklären Sie sich dann die sehr offen zur Schau gestellte Befriedigung, die viele Israelis über das Gemetzel in Gaza empfinden. Einige haben sich sogar in Sichtweise der Bombardements wie zu einer Party versammelt, der Vernichtung unschuldiger Menschen zugesehen und die Zerstörungen wie eine Show genossen. Inwiefern unterscheiden sich diese Israelis von den Menschen, die in Polen außen an den Mauern der jüdischen Ghettos standen und zusahen, wie die Ghettos brannten, oder die ohne irgendeine Gefühlsregung den Salven der Gewehre lauschten und den Schreien anderer, unschuldiger Menschen auf der anderen Seite der Mauer (unter ihnen Mitglieder meiner Familie  und vielleicht auch ihrer), während sie gejagt und ausgelöscht wurden.

Sie sehen uns so, wie sie wollen, dass wir sind, und nicht so, wie viele von uns tatsächlich sind. Wir stehen nicht alle dem Leid, das wir verursachen, gefühllos gegenüber und sind bei unserem grausamen Tun ruhig und gelassen. Aber Sie, Herr Wiesel, und Ihre Worte, die den Palästinensern ihr Menschsein absprechen und ihnen somit auch den Status als Opfer nehmen, sind schuld daran, dass zu viele Menschen unseren Mangel an Mitleid als etwas Edles gutheißen. Aber es ist nichts Edles; vielmehr ist es etwas Monströses.

Übersetzung aus dem Englischen: Oliver Coste.

Zuerst erschienen hier: http://www.counterpunch.org/2014/09/09/a-response-to-elie-wiesel/

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