von Arn Strohmeyer
Anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz an das Menschheitsverbrechen Holocaust zu erinnern, ist eigentlich ein selbstverständliches moralisches Gebot, allerdings sollte das Gedenken an dieses Menschheitsverbrechen nicht routinemäßig ausschließlich an Jahrestage gebunden sein. Die volle Wahrheit über dieses Mega-Verbrechen ist vermutlich zu schrecklich, als dass es vollständig in das Bewusstsein der Menschen eindringen könnte. Jeder Fluchtversuch vor der Wahrheit dieses Verbrechens ist aber zum Scheitern verurteilt. Deshalb kann es keinen Schlussstrich geben. Nur eine offene und schonungslose Betrachtung der eigenen Geschichte kann von ihr frei und zukunftsfähig machen.
Ist das aber die Absicht der über 50 hochrangigen Staatsgäste aus über 50 Ländern, die sich zur Zeit in Jerusalem versammeln, um des Holocaust zu gedenken, dem Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind? Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat schon verlauten lassen, was er in der Gedenkstätte Yad Vashem sagen wird: Er will die bleibende Verantwortung Deutschlands für den millionenfachen Mord an Juden zum Ausdruck bringen; die Lehre aus dem Holocaust müsse eine bessere Gegenwart und Zukunft gestalten; das Gedenken dürfe sich nicht in der schlichten Wiederholung des „Wir haben verstanden“ erschöpfen; und schließlich will der Bundespräsident ein Bekenntnis zur unverbrüchlichen Solidarität zum Staat Israel und seinen Menschen ablegen.
Das übliche Ritual also, hundert und tausendfach von deutschen Politikern wiederholt. Und deshalb stellen sich genau an diesem Punkt die vielen kritischen Abers ein, die Widerspruch gegen das Gedenken, wie es zur Zeit in Jerusalem stattfindet, unbedingt notwendig machen. Dieser Widerspruch kommt gerade auch von jüdischer Seite, er soll hier zu Wort kommen.
Zunächst: Warum erinnert man bei solchen Gelegenheiten wie jetzt in Jerusalem nur an die ermordeten Juden? Der israelische Historiker Shlomo Sand hat in Israel immer wieder jüdische Israelis die Frage gestellt: „Wie viele Menschen haben die Nazis in den Konzentrations- und Vernichtungslagern sowie in weniger geordneten Massakern ermordet?“ Die immer gleiche Antwort habe gelautet; sechs Millionen. Sand hielt dem entgegen, er meine Menschen insgesamt und nicht allein Juden. Darauf hätten die meisten Befragten keine Antwort gewusst. Sand selbst gibt sie: „Es waren elf Millionen ermordete Menschen. Doch diese Zahl der zivilen Opfer wurde gänzlich aus dem kollektiven Gedächtnis des Westens gelöscht.“
Als Ursache für diese Merkwürdigkeit, dass der Tod von fünf Millionen Menschen gar nicht stattgefunden haben soll, gibt Sand an: „Vom letzten Viertel des 20. Jahrhunderts an verschwinden beinahe alle Opfer, die von den Nazis nicht als ‚Semiten‘ bezeichnet wurden. Der industrielle Mord wurde ausschließlich zur jüdischen Tragödie. Die westliche Erinnerung an die Konzentrations- und Vernichtungslager entledigte sich fast gänzlich aller anderen Opfer, darunter geistig Behinderte, Sinti und Roma, Angehörige des kommunistischen und sozialistischen Untergrunds, Zeugen Jehovas, polnische Intellektuelle und sowjetische Kommissare und Offiziere. Bis auf die Homosexuellen vielleicht wurden all jene, die die Nazis parallel zur systematischen Ermordung der Juden austilgten, durch die hegemonialen Erinnerungsnetzwerke ein weiteres Mal gelöscht.“
Sand fragt, wie es dazu kommen konnte und gibt die Antwort: „Der zionistisch-jüdischen Politik genügte es nicht, dass die Erinnerung im westlichen Bewusstsein eingeschrieben war; sie beanspruchte Einzigartigkeit, Exklusivität und die nationale Verfügungsgewalt über den Schmerz. Damals begann, was zu Recht als ‚Holocaust-Industrie‘ bezeichnet wird: Diese war darauf aus, das Leiden der Vergangenheit zu maximieren und aus ihm so viel Prestige und sogar wirtschaftliches Kapital zu schlagen wie nur möglich. Deshalb wurden nach und nach fast alle anderen Opfer ausgeblendet und der Genozid geriet zu einer ausschließlich jüdischen Angelegenheit.“
Aus dieser Erinnerungskonstruktion ergibt sich ein zweites große Aber. Der israelische Sozialwissenschaftler und Philosoph Moshe Zuckermann sieht ein wirkliches Gedenken an die Opfer des Holocaust nur dann als gegeben an, wenn es der historische Opfer dieses Mega-Verbrechens „im Stande ihres Opferseins zu gedenken bestrebt ist“. Aufgabe wirklichen Erinnerns sei es außerdem, politische und ökonomische Bedingungen zu schaffen, die eine Wiederholung von jeder Form der Gewalt und Unterdrückung von Menschen unmöglich macht.
Zuckermann sieht dies in der israelischen Holocaust-Erinnerung aber gerade nicht als gegeben an. Das zionistische Israel maße sich selbst den Opferstatus an, womit es den Begriff des Täter-Opfer-Verhältnisses auf das Schändlichste entleere oder sogar verkehre. Zuckermann sieht darin eine unerträgliche, ja „perfide“ Instrumentalisierung des Holocaust: „Um die Politik barbarischer Unterdrückung und fortwährender Menschenrechtsverletzungen zu verteidigen [er meint hier Israels Politik gegenüber den Palästinensern] werden die Opfer der ultimativen Barbarei [die Opfer des Holocaust] herangezogen, so als liege in ihrer Vernichtung das Vermächtnis, den Staat der Juden (wie er sich selbst sieht) zum Sachwalter barbarischer Gewalt, moralischer Repression und menschenverachtender Politik werden zu lassen.“
Israel instrumentalisiert und ideologisiert also Zuckermann zufolge den Holocaust, um die Gründung des Staates, seine staatliche Existenz und die Unterdrückung der Palästinenser zu rechtfertigen. Er wirft dem Staat Israel deshalb sogar „Verrat“ an den Opfern des Holocaust vor: „Wer das nicht sieht, dass Israel sich einer Praxis verschrieben hat, die zwangsläufig immer mehr Opfer hervorbringt, begeht Verrat an den Opfern Israels, und insofern er den Oppressor Israel im Namen der historischen Opfer des Nazismus in Schutz nimmt, begeht er Verrat an den historischen Opfern. Denn er hat nicht das historische Wesen von Tätern im Stande ihres Täterseins und von Opfern im Stande ihres Opferseins erfasst, sondern lässt stattdessen das zum Täterland verkommene Israel im falschen, von Grund auf ideologisierten Bild des Landes der Shoa-Opfer aufgehen. (…) Dabei handelt es sich um eine hohle Projektion, welche nichts mit dem Gedenken der Shoa-Opfer, nichts mit den israelischen Shoa-Überlebenden und schon gar nichts mit den Opfern des Staates Israel, den Palästinensern zu tun hat.“
Die Ideologisierung des Holocaust durch Israel hat, so Zuckermann, noch eine andere bedenkliche Folge, die er so beschreibt: „Nicht nur bediente man [Israel] sich dem Ausland gegenüber der ‚Shoa‘ als Argument für die (zumeist manipulative, allemal heteronome) Durchsetzung politischer, diplomatischer sowie militärischer und ökonomischer Ziele, auch im innerisraelischen Diskurs musste die ‚Shoa‘ als erbärmliche Pathosformel zur Förderung jedes nur erdenklichen Partikularinteresses herhalten. Nicht übertrieben ist die Behauptung, dass nirgends auf der Welt die Banalisierung der Shoa, mitunter ihre Trivialisierung durch inflationäre Verwendung in einer hanebüchenen Alltagsrhetorik so unverhohlen skrupellos betrieben wird, wie in dem Land, das die Einzigartigkeit, mithin die Unvergleichbarkeit der Shoa auf seine staatsoffiziellen Gedenkfahnen geschrieben hat.“
Ganz ähnlich argumentiert der amerikanisch-jüdische Politologe Norman G. Finkelstein. Der Holocaust werde von Israel zur „perfekten Waffe“ geschmiedet, die dazu diene, jede Kritik an der Politik dieses Staates abzuwehren. Diese Instrumentalisierung des monströsen Verbrechens verschaffe Israel moralisches Kapital und einen umfassenden Freibrief für sein politisches Handeln – gerade auch gegenüber den Palästinensern. Aus der Berufung auf den Holocaust leite Israel das uneingeschränkte Recht ab, sich zu schützen, wie es ihm beliebt: Ihm ist alles erlaubt. Menschenrechte und Völkerrecht spielen da keine Rolle. Alles ist „Selbstverteidigung“.
Die Gedenkstätte Yad Vashem, in der zur Zeit die hohen Staatsgäste Israel ihre Reverenz erweisen, ist das Symbol für das israelisch-zionistische Verständnis des Holocaust, das rein partikularistisch ist, sich also nur auf Juden bezieht. Der jüdische Autor Abraham Burg, der selbst Sohn von Holocaustüberlebenden ist und als Präsident der Jewish Agency und Sprecher der Knesset hohe Positionen in der zionistischen Hierarchie bekleidet hat, schreibt fast mit Verachtung über diesen Ort: „Für offizielle Gäste ist in Israel der Besuch von Yad Vashem, der bedeutendsten Shoa-Gedenkstätte des Landes, obligatorisch. Jede Nation hat ein Denkmal für den unbekannten Soldaten, meist dargestellt durch einen einzelnen. Wir haben eine Gedenkstätte für alle Opfer, für uns alle, und sämtliche Besucher müssen kommen und mit uns trauern. Das ist ein Ritual der neuen israelischen Religion. Staatsgäste landen auf dem Ben-Gurion-Airport, fahren kurz ins Hotel, um sich frisch zu machen, einen schwarzen Anzug, eine Krawatte und vielleicht ein große Samtkäppi wie ein Rabbiner oder Kardinal anzuziehen und werden dann nach Yad Vashem in Jerusalem gebracht. Ernste Miene, ein Blumenstrauß in der Hand, gesenkter Kopf. Ein Kantor singt das Gebet für die Verstorbenen ‚Gott voller Gnade‘. Drei Schritte rückwärts, dann steigen alle in ihre Limousinen und kommen zum Eigentlichen, zu Politik und Diplomatie. Von Zeit zu Zeit taucht ein besonders interessanter Gast auf, dessen Rede vorübergehend Aufmerksamkeit erregt und Blitzlichter aufflammen lässt. Dabei mag es sich um einen deutschen Bundespräsidenten oder das Oberhaupt eine Staates handeln, der mit den Nazis kollaboriert hat. Yad Vashem ist das Schaufenster und das Tor zum israelischen Erleben.“
Burg fügt dieser Beschreibung hinzu: „Heute ist Yad Vashem das größte Monument nationaler Ohnmacht, ein Denkmal der moralischen Taub- und Stumpfheit gegenüber anderen, die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ist der Pfahl, an den wir unsere Gäste stellen, um ihnen unsere exklusiven Shoa-Werte einzutrichtern.“ Burg schlägt vor, diesem Ort und seinen Gebäuden einen völlig anderen, eben universalistischen Charakter zu geben. Auf dem Geländer dieser Gedenkstätte sollte der internationale Strafgerichtshof für Menschenrechte seinen Sitz haben. Das Museum soll nicht mehr allein partikularistisch an die jüdischen Opfer des Holocaust erinnern, sondern soll eine Gedenkstätte allen menschlichen Unrechts sein, egal wo es stattfindet und wer auch immer es begeht. Es müsse ein Ort werden, der die Potenz des Kampfes gegen jede Gewalt ausstrahle, wo immer sie herrsche.
Eine wunderbare Vision, aber sie wird im zionistischen Israel mit Sicherheit nicht zu realisieren sein. Und die 50 in Jerusalem zur Zeit versammelten hohen Staatsgäste werden auch kein Interesse zeigen, Burgs Idee die nötige Anerkennung zu zollen. Man wird viele schöne Reden halten, die alle folgenlos bleiben. Außer Treueschwüren zu Israel und Spesen nichts gewesen!