von Heiko Flottau
Es gibt Bücher, die man unseren politischen Entscheidungsträgern als Pflichtlektüre auf den Tisch legen sollte, bevor sie sich mit den üblichen abgenutzten Schlagworten in die alltägliche Medienschlacht begeben.
Und bevor sie zu ihren nächsten politischen Taten schreiten, sollten sie glaubhaft versichern, dass sie diese Werke auch intensiv studiert haben. Zu diesen grundlegenden Arbeiten gehört sicher Alan Harts umfangreiche, detaillierte und vor allem lehrreiche Geschichte des Zionismus. Wer sie gelesen und in seinen politischen und historischen Wissensschatz aufgenommen hat, wird nicht mehr glaubhaft versichern können, dass er – zum Beispiel – die israelische Siedlungspolitik verurteile, dass es ihm aber, leider, die deutsche Vergangenheit und die Ermordung von sechs Millionen Juden verbiete, Israel wirklich zu kritisieren.
Alan Hart nämlich verfolgt die Geschichte des Zionismus von ihren Wurzeln an. Durch diese grundlegende Darstellung wird klar, dass den Protagonisten des politischen Zionismus von Anbeginn an klar war, oder doch klar sein musste, dass die Gründung eines „jüdischen Staates“, wie sie ihn anstrebten, nur auf Kosten der einheimischen Bevölkerung zu bewerkstelligen, das heißt durch Vertreibung möglichst vieler Palästinenser und durch Unterdrückung des verbliebenen Restes zu bewerkstelligen sei.
Dieser Geburtsfehler aber hatte zur Folge, dass der politische Zionismus dieselben politischen und militärischen Mittel anwendete wie der europäische Nationalismus, Imperialismus und Kolonialismus, deren später Spross der Zionismus schließlich ist. Die Europäer hatten sich in Übersee genommen, was sie wollten. „Facts on the Ground“ nennt man diese Politik: man schaffe unwiderrufliche Tatsachen – die ersten Siedlungen, die ersten befestigten Plätze, man verschrecke die Eingeborenen durch Massaker wie etwa das Massaker von Deir Yassin – man rufe einen Staat aus, man baue weiter Siedlungen auf dem noch nicht eroberten Territorium, man erweitere so sein Staatsgebiet – und dann verhandle man über Frieden, der aber nicht mehr möglich ist, weil dem Gegner, dem Feind, den Palästinensern also, kein Land mehr geblieben ist. Alan Hart schildert diesen hier im Schnellgang und natürlich bewusst stark verkürzt skizzierten expansiven politischen und militärischen Prozess Schritt für Schritt.
Und er beweist auch, dass erst Briten und später, als ihre kolonialen Nachfolger die Amerikaner dem Zionismus Schritt für Schritt nachgegeben haben – ohne auf die Interessen der einheimischen Palästinenser wirklich Rücksicht zu nehmen. Dabei hat es viele andere Möglichkeiten gegeben.
Die Bewegung Brit Shalom etwa forderte, die einwandernden Juden müssten in erster Linie Rücksicht nehmen auf die Palästinenser. Die jüdische Philosophin Hannah Arendt, selbst Zionistin, warnte, ohne Einbindung der palästinensischen Bewohner in einen gemeinsamen Staat würde ein rein „jüdischer“ Staat Israel stets in einer „Wagenburgmentalität“ leben – umringt von Feinden wie einst die europäischen Siedler in Nordamerika.
Zuvor schon hatte Ahad Aham, (1856 bis 1927) jüdischer Gelehrter Philosoph und Moralist, wie Alan Hart ihn nennt gewarnt, wenn die Zionisten in Palästina mit Gewalt ohne Rücksicht auf die Araber einen Staat errichteten, würden sie alle Werte des Judaismus aufgeben. Ahad Aham hieß eigentlich Asher Zevi Ginsberg und war in der heutigen Ukraine geboren. Sein angenommener Name Ahad Aham bedeutet „Einer aus dem Volk“. Sein Ruf blieb ungehört. Stattdessen setzten sich Radikale wie Vla-dimir Jabotinsky durch, welche die, taktisch bedingte, auf Kompromisse mit den Arabern beruhende Politik eines Ezer Weizmans „revidieren“ wollten. Der Revisionist Jabotinsky forderte, zwischen Juden und Arabern müsse es so etwas wie eine „eiserne Mauer“ geben, die Juden müssten so stark werden, dass die Araber in ihrem Widerstand gegen den Zionismus wie vor einer eisernen Mauer stünden. Alan Hart schreibt weiter – die Geschichte gibt ihm mit dieser These Recht – dass die Briten durch die Balfour-Erklärung die Juden bzw. die Zionisten für die Zwecke des britischen Imperiums genutzt hätten, indem sie, wie Theodor Herzl schrieb, einen „Vorposten westlicher Kultur“ gegen die östliche Barbarei schufen. Die Zionisten wiederum, so schreibt Alan Hart, hätten sich nutzen lassen, weil sie die Briten benötigten, um ihren Staat auf dem Boden Palästinas aufbauen wollten. Und eine solche Neugründung auf fremden Territorium konnte, wie so unter-schiedliche Persönlichkeiten wie Ahad Aham und Vladimir Jabotinsky schrieben, nur über Terror und Vertreibung führen.
So gesehen, aus der geschichtlichen Entwicklung heraus gesehen, hat Israel, wie Alan Hart schreibt, keine Existenzberechtigung. Nun aber ist Israel ein international anerkannter Staat, der, nicht zuletzt, entstanden ist, nachdem Nazi-Deutschland mehr als sechs Millionen Juden umgebracht hatte. Es wäre nur konsequent, wenn dieser Staat, dessen Volk in der Vergangenheit so viel erlitten hat, nun nicht selbst ein anderes Volk,nämlich die Palästinenser misshandeln und vertreiben würde. Doch das Gegenteil ist der Fall. Einst litten die Juden unter dem europäischen Rassismus, genannt Antisemitismus; heute leiden die Palästinenser unter israelischem Rassismus, genannt Zionismus. Denn nichts anderes hatten so gut wie alle israelischen Regierungen seit 1948 im Sinn: die Vollendung des Zionismus, das heißt die Ausbreitung Israels bis an den Jordan, mindestens – und das auf Kosten der Palästinenser.
Für deutsche Politikeraugen und Politikerohren mögen solche Worte fast eine Häresie sein. Ja, räumen viele von ihnen, eher widerwillig ein, man dürfe Israel kritisieren – aber diese Kritik dürfe nicht in neuen Antisemitismus ausarten.
Wer aber wie der Autor dieses Vorwortes am zweiten Tag des zweiten Weltkrieges geboren wurde, die letzten Kriegstage im Luftschutzkeller verbrachte, von seinen Eltern im strikten Anti-Rassismus erzogen wurde und später in seiner beruflichen Laufbahn viele viele Male durch Palästina gereist ist, der kann aufrecht sagen, dass die Verurteilung der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern nichts mit Antisemitismus zu tun hat. Vielmehr hat, wie Alan Hart schreibt, der politische Zionismus die wahren humanen Werte des Judentums korrumpiert.
Ein Volk wie das deutsche, das den Holocaust zu verantworten hat, sollte der Misshandlung der Palästinenser nicht wort- und tatenlos zusehen. Vielmehr wäre es die Aufgabe aller deutschen Regierungen, dem Staat Israel immer wieder klar zumachen, dass die Konsequenz aus dem Holocaust nicht die sein kann, dass die Opfer der Shoa nun ein anderes Volk knechten.
Es liegt vielleicht nicht unbedingt nahe, dass, wie Alan Hart das tut, den israelisch-palästinensischen Konflikt mit dem biblischen Amargeddon (heute das israelische Megiddo) zu vergleichen, wo, laut neuem Testament, der Endkampf zwischen Gut und Böse stattfinden und damit das Ende der Geschichte erreicht werde. Aber, schreibt Alan Hart, Golda Meir, Israels Premierministerin von 1969 bis 1974, habe dem Autor einst gesagt, Israel werde sogar Nuklearwaffen einsetzen, falls seine Existenz ernsthaft bedroht sei. Laut Alan Harst habe Israel im Yom Kippur Krieg von 1973 zwei Raketen mit Atomsprengköpfen beladen – eine gerichtet auf Kairo, die andere auf Damaskus. Einen solchen Endkampf wünscht sich niemand, und er ist auch äußerst unwahrscheinlich. Dass aber Alan Hart, wie das auch andere Autoren schon getan haben, im israelisch-palästinensischen Konflikt auch das Potential für einen Nuklearkrieg sehen – zeigt, wie brisant dieser Konflikt latent immer noch ist. Wahrscheinlicher aber ist, langfristig, ein anderes Szenario. Juden werden im historischen Palästina in absehbarer Zukunft in der Minderheit sein. Palästinenser werden dann, abermals, nach Gleichberechtigung rufen und einen gemeinsamen, jüdisch-arabischen Staat fordern.
Alan Hart, übrigens, ist schon 1987 mit einem Buch über Jassir Arafat an die Öffentlichkeit getreten. „Arafat – Terrorist or Peacemaker“ lautet der Titel. Schon damals scheute sich Alan Hart nicht, gegen die zumindest in Deutschland gängige Meinung zu verstoßen, nach der Jassir Arafat nichts als ein Terrorist sei. Ein Jahr später gab ihm Arafat recht – auf dem Palästinensischen Nationalkongress in Algier erkannte die PLO Israel an und bot dem „jüdischen Staat“, wie sich Israel gerne nennen lässt, eine Zweistaatenlösung an. Dieser Vorschlag bedeutete, dass die Palästinenser auf 77 Prozent ihres ursprünglichen Wohngebietes verzichteten. Im Jahre 1999 strich die PLO in Gaza in Anwesenheit des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton eine Passage aus ihrer Satzung, welche die Vernichtung Israels gefordert hatte. Im Jahre 2002 bot die arabische Welt auf ihrer Gipfelkonferenz in Beirut Israel volle Anerkennung an – als Gegenleistung forderte sie die Gründung eines palästinensischen Staates auf den den Arabern verbliebenen 23 Prozent Palästinas. Mehr als ein Viertel Jahrhundert nach Algier, eineinhalb Jahrzehnte nach Gaza und vierzehn Jahre nach Beirut hat dieser palästinensische Generalverzicht noch immer nicht zum Frieden geführt – eben weil Israel seinen zionistischen Traum – einen „jüdischen Staat“, ursprünglich vom Mittelmeer bis zum Jordan – nicht aufgeben will.
Journalisten und andere Autoren hätten, so heißt es zu Recht, bei ihren Analysen stets alle Seiten zu betrachten. Aber es gibt Grenzfälle – dort etwa, wo bewusst ein Volk oder dessen Regierung ein anderes Volk kolonisiert. Genau dies ist in Palästina der Fall. Und deshalb dürfen Journalisten und andere Autoren hier auch klar Stellung beziehen – gegen die Unterdrückung der Palästinenser.
Alan Hart tut das, indem er die gesamte Geschichte des politischen Zionismus aufzeichnet. Deshalb gehört sein Werk, wie eingangs erwähnt, zur Pflichtlektüre aller, die sich mit Palästina und seinem politischem Schicksal befassen.
Vorwort von Heiko Flottau.
Das Buch kann über den Zambon-Verlag oder Amazon für 20 Euro erworben werden.