Witzenhäuser Juden in der Zeit des NS-Terrors, 1933-1945

von Ludwig Watzal

Baumgardt_bildDie Behauptung, die Mehrheit der Deutschen habe von den Nazi-Gräueltaten gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern nichts gewusst, ist nach der Lektüre dieser Studie über das Schicksal der Witzenhäuser Juden nicht nur falsch, sondern auch ein glatte Lüge, weil, wie der Titel schon sagt, alles in der Zeitung stand. Wer es wissen wollte, konnte es also lesen.

Manfred Baumgardt studierte Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut und Politologe am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität in Berlin. Seine Diplomarbeit schrieb er bei Johannes Agnoli. Der Autor entstammt einer katholischen Musikerfamilie. Sein Vater hat über Jahrzehnte für einen Hungerlohn in der katholischen Kirche die Orgel gespielt, und er war darüber hinaus auch noch Kommunist, und dies in einem protestantischen Milieu. 

Der Autor hatte keine Chance, als Gymnasiallehrer in Berlin zu reüssieren. Fortan engagierte er sich über Jahrzehnte in der Schwulenbewegung, und er war 1982 der Initiator für die Gründung des Schwulen Museums in Berlin, und als Mitbegründer hat er seit 1985 ehrenamtlich und in Eigenregie die bisher einzige Bibliothek samt Archiv zur Schwulenbewegung in Deutschland aufgebaut. 1982 war er Mitbegründer der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, dessen „Institut für Sexualwissenschaft“ von den Nazis im Mai 1933 verwüstet worden ist. Baumgardt hat zahlreiche Publikationen zur Geschichte der Schwulenbewegung und Sexualwissenschaft verfasst.

Im vorgelagerten Gartenbereich des Krankenhauses in Witzenhausen entdeckte der Autor zufällig, hinter Buschwerk verborgen, einen Gedenkstein, auf dem zu lesen war: „Hier stand bis zum Jahre 1938 die Synagoge der jüdischen Gemeinde Witzenhausen.“ Auf dem Weg zum Jüdischen Friedhof erinnerte sich der Autor an eine Inschrift, die er an einem Denkmal in unmittelbarer Nähe der ehemaligen Kolonialschule und heutigen Standorts der Ökologischen Agrarwissenschaften der Universität Kassel gelesen hatte: „An dieser Stätte fiel am 9. November 1938 die Synagoge dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer.“

Die Forschungsarbeiten zum Schicksal der Witzenhäuser Juden gestalteten sich alles andere als einfach. Von den zahlreichen bürokratische Hürden konnten nur einige genommen werden. Auch mit der Auskunftsfreudigkeit einiger Witzenhäuser „Honoratioren“ war es nicht zum Besten bestellt. Oft wurde der Autor mit der Frage konfrontiert: „Warum machen Sie das?“

Es gab aber auch andere, die bereitwillig Auskunft gaben. So konnte sich ein Bürger noch an den antisemitischen Slogan vieler Witzenhäuser erinnern: „Juden, Juden gebt uns Mazzen, sonst soll euch der Deiwel (Teufel) kratzen!“ Da sowohl das Erinnerungsvermögen der wenigen als auch die Bereitschaft zu Gesprächen der vielen sehr begrenzt war, musste sich Baumgardt auf gerade freigegebenes Archivmaterial stützen, das ihm aber auch nicht umfänglich zugänglich gemacht worden ist. Das „Witzenhäuser Kreisblatt und Tageblatt“ ab 1933 erwies sich deshalb als wahre Fundgrube.

Wie das Vernebeln von Tatsachen, verhalten sich alle Anstrengungen zur Aufklärung von Sachverhalten aus der NS-Zeit. Das trifft ebenfalls auf das eher zufällige Auffinden von Quellenmaterial zu, das eindeutig auf ein Witzenhäuser Zwangsarbeiter-Lager hinweist. Während der Aufarbeitung der NS-Terrorregimes der letzten Jahrzehnte setzt sich „Das Nicht-Wissen-Wollen“ bis heute fort.

Das Buch gliedert sich in zwei Abschnitte: Im ersten Teil folgt der Autor chronologisch und zielorientiert den Zeitungsquellen, um für die Leser einen gesellschaftspolitischen Überblick von 1933 bis 1943 erstehen zu lassen, wie nach dem Aufstieg Witzenhausens zur „Kreishauptstadt“, die Welt der jüdischen Bürger immer kleiner wurde. Auf perfideste Weise wurde den Witzenhäuser Juden durch bürokratische Mittel sprichwörtlich der Strick um den Hals immer enger gezogen, wie zum Beispiel durch die Veröffentlichung von „Gesetzen“, welche die Juden benachteiligten und zum Boykott und zur Schließung ihrer Geschäfte führten. Daran beteiligten sich nicht nur die städtischen und die Kreisbehörden, sondern auch die örtliche Kreissparkasse sowie das Finanzamt, und die örtlichen Honoratioren profitierten von der kalten Enteignung der jüdischen Witzenhäuser.

Der zweite Teil besteht aus Notizen zu einer biographischen Annäherung an die Witzenhäuser Juden. Damit beabsichtige der Autor, die einzelnen „Begebenheiten, Erniedrigungen, Zwangsmaßnahmen und Verbindungen zwischen einzelnen jüdischen Familien, Berufen, Freundschaften, Ehen, Briefen und Alltäglichem sowie Leben und Tod, dem entsprechenden Leben jeder einzelnen Person zuzuordnen“. Die infrage kommenden Seiten aus dem Stadtarchiv hat Baumgardt der Originalquelle vorangestellt, um sie so für sich sprechen zu lassen. Die durchweg antisemitische Konnotation der Texte wurde vom Autor mit richtig stellenden Erklärungen und Ergänzungen versehen.

In dem abschließenden Kapitel geht der Autor der Frage nach, was die beschriebene Epoche bis heute unbeschadet überlebt habe. Seine Antwort: der Antisemitismus. „Der staatliche hetzerische Antisemitismus, verbunden mit seinen Tötungsanstalten, ist zwar überwunden, aber die Denkweisen vieler Menschen sind lediglich an das Jetzt und Heute gebunden.“ Immer wieder würden in der Nähe von Witzenhausen jüdische Friedhöfe geschändet. Ebenso lasse die Aufarbeitung der Vergangenheit mehr als zu wünschen übrig.

In den Notizen zur biographischen Annäherung der Witzenhäuser Juden befindet sich u. a. ein Schreiben von Max und Herta Verständig an die Familie Wallach vom 12. Mai 1939. Eine Zeittafel sowie das ausführliche Personen- und Sachregister stellen eine große Hilfe dar, um sich in der Fülle der erwähnten Namen und Begriffe zurechtzufinden.

Diese Studie gibt einen Einblick, wie in einer Kleinstadt – und diese waren über das „Dritten Reich“ überall verstreut – mit den jüdischen Mitbürgern umgegangen worden ist. Die Schikanen, Misshandlungen, Enteignungen bis zur Deportation und schließlich der Ermordung hat es aber flächendeckend gegeben.

Manfred Baumgardt hat mit dieser verdienstvollen Arbeit ein weiteres Mosaik in der Aufarbeitung einer unsäglichen Vergangenheit geliefert, dem weitere lokale Studien folgen sollten. Das Buch sollte über den Insiderkreis hinaus eine weite Verbreitung finden.

Manfred Baumgardt, Es stand alles in der Zeitung. Witzenhausen in der Zeit des NS-Terrors, Book on Demand, 2. erweiterte und durchgesehene Auflage, Hamburg-Norderstedt 2016, 320 Seiten, € 19.90. ISBN 978-3-7392-2929-4.

4 Gedanken zu „Witzenhäuser Juden in der Zeit des NS-Terrors, 1933-1945

  1. „Die Behauptung, die Mehrheit der Deutschen habe von den Nazi-Gräueltaten gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern nichts gewusst, ist nach der Lektüre dieser Studie über das Schicksal der Witzenhäuser Juden nicht nur falsch, sondern auch ein glatte Lüge, weil, wie der Titel schon sagt, alles in der Zeitung stand. Wer es wissen wollte, konnte es also lesen.“ (Ludwig Watzal, 9.3.2016 „Es stand alles in der Zeitung. Witzenhäuser Juden in der Zeit des NS-Terrors“)

    Auch eine solche undifferenzierte Aussage ist eine „glatte Lüge“. Selbstverständlich kannten die Deutschen die „Nürnberger Rassegesetze“, hatten von den gegenseitigen Boykottaufrufen gelesen, kannten die „Feindbilder“ der Nationalsozialisten, wussten, zu welchem Zweck KZ errichtet wurden und was Menschen erzählten, die – trotz Verbot – über ihre Lagerzeit sprachen, kannten das Euthanasieprogramm und wurden in Rassenkunde gelehrt – nicht erst seit 1933. Auch über die BBC, die u.a. auch mein Vater hörte, wurden Deutsche informiert – allerdings immer auch mit der Frage, was Wahrheit und was Kriegspropaganda ist. Denn auch meine Vorfahren und ihre Bekannten und Verwandten hatten kein Organ, das eine sicher Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit ermöglichte.

    Dass es unter Deutschen auch die beiden Viktor-Frankel-Rassen gab, wie in jedem Volk, jeder Gruppe, die der Anständigen und der Unanständigen, bedarf aufgrund seiner Offenkundigkeit keiner weiteren Beweismittel.

    Daher bleibt der Satz des Altkanzlers Helmut Schmidt glaubwürdig, dass „wir nichts gewusst haben“, denn in den Zeitungen standen nicht jene Gräuel, die in KZ oder an der Front begangen wurden, vermutlich nicht einmal in den englischsprachigen, sonst wären doch ganz sicher wenigstens die Gaskammern in Auschwitz bombardiert worden statt nur die deutschen Innenstädte, in denen auch noch Juden lebten.

    Dass „Fremdenfeindlichkeit“ ein Bestandteil jedes Volkes ist, dazu müssen wir nicht nur in die Vergangenheit schauen, dazu genügt ein Blick in unsere gegenwärtige Welt, in der sich Menschen ausgrenzen, abgrenzen, Feindbilder haben, sich noch immer Menschen den Schädel einschlagen, weil er nicht ihr Bruder im Geiste oder der Rasse ist.

    Auch weitere Bücher über die NS-Zeit werden an dem Zustand der Menschheit nichts ändern, zumal – Überraschung! – jeder so seine Lehren daraus gezogen hat. Am beeindruckendsten dabei sind die diametral entgegengesetzten Schlussfolgerungen der Regierungen in Israel und Deutschland.

  2. Der Gedenkstein am Krankenhaus war noch nie „hinter Buschwerk verborgen“ wie hier behauptet wird, seit meinen Kindertagen steht er offen einsehbar im vorderen Bereich an der Straße wenn auch nicht immer an der gleichen Stelle.

    • Ich bin Witzenhäuser und kann meinen Vorredner bestätigen. Allerdings wurde dieser Gedenkstein schon einmal geschändet und mit Farbe übergossen.

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