Anmerkung der Redaktion: Der Artikel nimmt Anmerkungen und Ergänzungen aus deutscher Sicht mit auf.
von Helmut Suttor
Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin,
Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
Sehr geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer der digitalen Konferenz zum Thema Antisemitismus am 16. März 2021, organisiert von der Stadt Frankfurt,
wir möchten den Offenen Brief der 14 jüdischen Organisationen (OB.14) [i] an Sie unterstützen und einige Ergänzungen aus aktuell-deutscher Perspektive anfügen.
Zur IHRA-Definition:
Erstens: Für Deutschland lässt sich die im OB.14 angesprochene politische Instrumentalisierung der IHRA-Definition treffend durch eine Aktion des Simon Wiesenthal Zentrums (SWC) im letzten Jahr illustrieren. Diese Institution ist durch Herrn Marc Weitzmann auf der Konferenz nächste Woche vertreten. Das SWC hat auf seiner Liste der 10 schlimmsten antisemitischen Vorfälle des Jahres 2020 eine Initiative leitender Mitarbeiter deutscher, privater und staatlicher Kulturinstitutionen (darunter z.B. das Goethe-Institut) aufgeführt. Diese „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“[ii] wandte sich gegen den BDS-Beschluss des deutschen Bundestags, u.a. weil dieser durch Einschränkung der Meinungsfreiheit die Debattenkultur in Deutschland beschädige. Die Untergrenze des intellektuell Hinnehmbaren, mag jeder für sich selbst bestimmen. Unter objektiven Gesichtspunkten fragen wir allerdings, ob es mit der Bedrohung durch den Antisemitismus auf unserem Planeten tatsächlich so schlimm bestellt sein kann, wenn eine Initiative zu den schlimmsten antisemitischen Ereignissen des Jahres 2020 gezählt wird, die z.B. durch den Generalsekretär des deutschen Goetheinstituts unterstützt wurde – neben vielen anderen?
Zweitens: Die mit großen Defiziten behaftete IHRA-Definition wird v.a. von jenen ignoriert, die sich lauthals für deren Annahme bis ins letzte Dorf einsetzen. Das Prozedere zur Feststellung von Antisemitismus nach der IHRA-Definition besagt, es muss eine konkrete Aussage vorliegen (dafür werden Beispielssätze formuliert), diese ist im „Gesamtzusammenhang“ zu interpretieren. Im Ergebnis „kann“ dies zur Identifizierung von Antisemitismus führen. Es dürfte kaum einen politischen Repräsentanten in Deutschland geben, in dessen politischer Praxis die Missachtung des IHRA-Reglement deutlicher zum Ausdruck kommt, als durch den Mitinitiator Ihrer Veranstaltung, den 2. Bürgermeister Frankfurts Uwe Becker (Oberbürgermeister ist Peter Feldmann). Herr Becker diffamiert Teilnehmer und Organisatoren von Veranstaltungen als Antisemiten und Israelhasser, schon bevor diese stattgefunden haben, also bevor eine konkrete Aussage vorliegen kann. Auch die IHRA-Definition verlangt eine sachliche Begründung des Antisemitismus-Vorwurfs. Deutsches und Europäisches Recht formulieren höhere Ansprüche an die Begründung des Antisemitismus-Vorwurfs. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einem Urteil ein besonders hohes Maß an Sorgfalt bei der Begründung dieser Anschuldigung angemahnt,[iii] wegen deren rufschädigender Wirkung. Herr Becker fiel mehrfach dadurch auf, diesen Vorwurf ohne Beleg und Begründung zu erheben. Teilweise wird dies gegenwärtig noch vor Gericht geklärt.
Drittens: Noch wichtiger als diese beiden Punkte erscheint uns eine grundsätzlicher Paradigmenwechsel in der Debatte um die IHRA-Definition notwendig. Dieser ergibt sich einerseits als logische Konsequenz aus der Definition selbst, weil dort „israelbezogener Antisemitismus“ eine zentrale Rolle spielt. Die Notwendigkeit einer grundlegenden Ergänzung ergibt sich vor allem aber vor dem Hintergrund der Debatte um BDS, der inzwischen zentrale Bedeutung zukommt. Es geht dabei um eine methodische Selbstverständlichkeit jeder Untersuchung eines politischen Konflikts: Sie genügt nur dann Objektivität orientierten wissenschaftlichen Standards, wenn sie die Perspektive aller Konfliktparteien in den Blick nimmt. Im Nahostkonflikt haben alle Konfliktparteien Formen ethnischer Diskriminierung in Wort und Tat zu verantworten. Die Fixierung auf Antisemitismus grenzt die Thematisierung der Formen ethnischer Diskriminierung aus, unter der die Palästinenser leiden. Gerade weil eine palästinensische Organisation in den Fokus der Auseindersetzung steht, muss es deswegen auch um Rassismus gehen, nicht nur um Antisemitismus. Nicht nur „israelbezogener Antisemitismus“ ist zu thematisieren, sondern auch „palästinenserbezogener Rassismus„. Wenn sich „israelbezogener Antisemitismus“ in der Leugnung des Existenzrecht Israels ausdrückt, dann drückt sich „palästinenserbezogener Rassismus“ z.B. in einer Unterstützung des Trump-Plans aus (wie z.B. durch Herrn Becker)[iv], der, wie jeder weiß, mit einem selbständigen und lebensfähigen palästinensischen Staat nicht vereinbar ist.
Rechtslage in Deutschland zu BDS-Beschlüssen und IHRA-Definition:
Die Situation in Deutschland lässt sich einfach beschreiben: Rechtlich sind die BDS-Beschlüsse, wie sie im Bundestag, in den Landtagen und in vielen Kommunen beschlossen wurden, schon tot. Es steht nur noch deren offizielle Beerdigung aus. Diese wird in etwa zwei Jahren durch das höchste Deutsche Verwaltungsgericht vollzogen. Bisher haben alle Gerichte die BDS-Beschlüsse als verfassungswidrig eingestuft.
Da die deutsche Rechtssprechung zum Grundrecht auf Meinungsfreiheit seit Jahrzehnten als geklärt und gefestigt gilt, wird das Ergebnis darin bestehen, dass den BDS-Beschlüssen die Rechtsgrundlage auf Bundesebene offiziell entzogen ist. Das wird Rückwirkungen haben auf die IHRA-Definition, auf die sich die deutschen BDS-Beschlüsse stützen. Jeder deutsche Bürgermeister, der sich mit dem Gedanken trägt, sich dem BDS-Beschluss des Bundestages anzuschließen bzw. die IHRA-Definition zu übernehmen, wird dies bedenken.
Bürgermeister Becker lädt die Welt nach Frankfurt ein, um für die IHRA-Definition und für seinen Kampf gegen den Antisemitismus zu werben. Für die Stadt, in der er für die Umsetzung des kommunalen BDS-Beschlusses vom September 2017 zuständig ist, war er bisher nicht in der Lage, die Rechtmäßigkeit dieses Beschlusses zu begründen, hat er alle Prozesse zu dessen Durchsetzung verloren.
Das Frankfurter Stadtparlament verband den BDS-Beschluss mit einem Auftrag an Herrn Becker: Dessen Rechtmäßigkeit zu klären und darüber zu berichten. Seit über drei Jahren steht diese Klärung aus. Parlamentarische Anfragen der liberalen Fraktion im Stadtparlament blieben ohne substantielle Antwort. Herr Becker pflegt in dieser Angelegenheit inzwischen einen Umgang mit der Wahrheit, wie dies von Expräsident Trump und seiner weltberühmten Mitarbeiterin Kellyanne Conway bekannt ist. Er behandelt Gerichtsurteile als „fake news„, denen er ohne Scham seine „alternativen Fakten“ entgegen stellt: Auf die mit Verweis auf das jüngste Gerichtsurteil zu Frankfurt gestellte Frage des Abgeordneten Dr. Schulz von der liberalen Partei, ob der Magistrat weiter in „verfassungswidriger Weise“ zu agieren gedenkt, antwortete Becker am 28.1.2021: „Der Magistrat agiert (…) unter Beachtung von Recht und Gesetz, in der Vergangenheit, heut und auch in Zukunft„.
In einem Aufruf der American Jewish Conference (AJC) „U.S., EUROPEAN MAYORS UNITE TO FIGHT ANTI-SEMITISM“[v] 2016 wird richtig festgestellt: „Antisemitismus ist mit demokratischen Werten nicht vereinbar„. In dem Kontext, um den es hier geht, ist dies allerdings zu ergänzen: Mit demokratischen Werten unvereinbar ist auch die Verweigerung von elementaren politischen und zivile Menschenrechten für die Palästinenser. Die israelische Regierung verletzt diese Rechte seit Jahrzehnten, nicht nur im Widerspruch zu internationalem Recht, sondern teilweise (Stichwort: Outposts) auch unter Verletzung israelischen Rechts.
Die demokratischen Werte sind universeller Natur, sie vertragen keine Halbwahrheiten und sie eigenen sich nicht für politische Propaganda.
Den Aufruf der AJC 2016 haben 73 deutsche Bürgermeister geteilt. Bemerkenswert an der Konferenz am 16.3. erscheint uns: Abgesehen von dem 2. Bürgermeister, Herrn Becker 2021 scheint sich kein deutscher Bürgermeister an dessen Veranstaltung zu beteiligen, nicht einmal der erste Bürgermeister Frankfurts Herr Feldmann.
Wir meinen für die Bekämpfung des Antisemitismus und die Auseinandersetzung mit BDS sollten folgende Grundsätze gelten:
- Bekämpfung des Antisemitismus darf nicht im rechtsfreien Raum stattfinden:
Sie muss den verfassungsmäßigen Rahmen des jeweiligen Landes respektieren. Das gilt nicht nur weil die Gesetze einzuhalten sind, das gilt v.a. auch weil das Anliegen sonst nicht nachhaltig und mehrheitsfähig sein kann.
- Die Perspektiven der Konfliktparteien in Nahost müssen gleichberechtigt und ausbalanciert thematisiert werden:
Das gilt besonders, wegen der zunehmenden Bedeutung der Debatte um BDS. Die BDS-Kampagne reagiert mit ihren politischen Forderungen u.a. auf Formen massiver ethnischer Diskriminierung. Durch die eindimensionale Thematisierung von Antisemitismus werden die Handlungsmotive der Palästinenser ausgeblendet. Dieser unhaltbare Zustand muss überwunden werden.
- Die Befürworter der IHRA-Definition sollten diese nicht nur in Sonntagsreden propagieren, sondern sich an deren Reglement im politischen Alltag halten.
In der staatlich-kommunalen Berichterstattung zur Entwicklung des Antisemitismus sollte dies für den jeweiligen Berichtszeitraum mindestens exemplarisch untersucht werden.
- Auch der Missbrauch des Antisemitismus-Vorwurfs ist zu thematisieren:
Die IHRA-Definition thematisiert Antisemitismus, der Missbrauch dieses Vorwurfs wird zwar abstrakt und indirekt angesprochen, insofern die sog. „berechtigte“ Kritik an Israel vom Antisemitismus-Vorwurf ausgenommen wird. Angesichts der Häufigkeit politischer Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs und der extremen Formen, die das annehmen kann (s.o. SWC), halten wir es für angemessen, hier eine eigene Kategorie staatlich-kommunaler Berichterstattung zu Antisemitismus vorzusehen: „Missbrauch des Antisemitismus-Vorwurfs zum Zwecke der Abwehr von berechtigter Kritik an israelischem Regierungshandeln bzw. zur Stigmatisierung politischer Gegner„.
Unterzeichner:
Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe (JPDG), München; Judith Bernstein (Publizistin), Prof. Norman Peach (Völkerrecht); Melzer Abraham, Verleger; Dr. Jan Günther Frenzel, Zahnarzt; Christoph Glanz, Lehrer, Sprecher BDS Initiative Oldenburg; Rainer Ratmann, Referent für politische Bildung; Hildegard Lenz, AK Nahost Bremen; Frieder Wolf, Pädagoge; Gruppe Frankfurter Bürger: Herbert Kramm-Abendroth, Pädagoge; Elisabeth Abendroth, Sozialwissenschaftlerin; Prof. Dr. Dorothee Roer; Renata Berlin, Lehrerin i.R.; Marcel Stilger; Helmut Suttor, Diplom-Volkswirt;
[i] https://www.ijvcanada.org/open-letter-to-mayors-concerning-upcoming-summit-against-antisemitism/
[ii] GG steht für das deutsche Grundgesetz, die deutsche Verfassung, 5.3 ist der Verfassungsartikel zur Meinungsfreiheit
[iii]https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Justiz/JJT_20160607_AUSL000_000BSW17676_0900000_000/JJT_20160607_AUSL000_000BSW17676_0900000_000.html
[iv] https://www.deutsch-israelische-gesellschaft.de/pressemitteilung/trump-plan/
[v] https://www.datteln.de/02_Verwaltung_Politik/Dokumente/Anzeige_Wallstreet_Journal_Mayors_against_Anti-Semitism_2016-6-6.pdf
Man sollte sich den DeFa-Film „Jeder stirbt für sich allein“ ansehen; lehrreich ist die Vernehmung von Quangel (Geschonneck) durch Escherich (Kieling):18 Protestkarten von 257 seien nicht abgegeben worden. Aber sie wurden nicht weitergereicht oder gelesen. Sie waren von Leuten gefunden worden, die selbst so viel Dreck am Stecken hatten, daß sie nicht wagten, sie abzuliefern.
So ist es mit „Deutschland“. Das Land hat zu viel Deck am Stecken, als daß es wagen könnte, sich irgendwie des Antisemitismus verdächtig zu machen. Ob es ein mexikanischen Autohaus ist, wo ein Bild von der VW-Gründung hängt oder ein jüdischer Verleger, der (ähnlich wie Jakob Israel de Haan) den „Arabern“ das Menschenrecht nicht aberkennen will: jedenfalls von „Deutschland“ braucht man keine Hilfe zu erwarten. Da gilt noch heute Willi Cohns Feststellung: „kein Recht, nirgends“.