Das Phantom des Antisemitismus

So ganz ohne Antisemitismus wird es in Deutschland nicht mehr lange weitergehen können. Ohne das Phantom des Antisemitismus schwindet auch das Judentum. Dies nicht, weil sich die Grabspalten des Kyffhäusers öffnen würden, sondern, weil Dres. Schuster und Consorten den Begriff „Antisemitismus“ entsetzlich ausgeleiert haben. Hinter jedem brennenden Dornbusch mit israelischer Fahne steckt ein antisemitisches Gespenst. Nur noch der ordentlichste Deutsche, wo absolut nichts Brennbares rumliegt, kann einem Verwurf antisemitischer Gedanken aus dem Weg gehen. Selbst Juden werden als „berüchtigte Antisemiten“ gescholten, und ein Antisemitismusbeauftragter fiel sogar den Beobachtern des Simon-Wiesenthalcenter in Kalifornien als „selektiver Antisemit“ auf. Roger Waters wird gleich „übler“ Antisemit (Spaenle) gescholten. Es muss also auch Antisemiten geben, die nicht übel sind. Gilead Atzmon schätzt Otto Weininger, der sicher Antisemit war, aber offenbar kein üblet. Atzmon definierte den Begriff so, dass Antisemit sei, wer für einen Juden zum Ärgernis werde.
Jean Paul Sartre und Adolf Böhm witzelten ihrerzeit ähnlich, dass jemand Antisemit werde, weil er zufällig von einem Juden betrogen worden sei; heute ist es umgekehrt. Ein falsches Wort, und schon gilt man als Antisemit.
Guckt man in die Werke von Adolf Böhm oder von Peter Beer länger hinein, dann kann man auch erfahren, wie sich unter Juden die Vertreter einzelner Denkrichtungen mit dem Herem belegt hatten. Je individualistischer sich die Judenheit zusammensetzt, desto antisemitischer scheint sie selbst zu werden, je nachdem, aus welcher Perspektive man das Zeitgespräch betrachtet. Isaac Deutscher (in: Der nichtjüdische Jude) stellte fest, dass nach heutiger Definition von Antisemitismus die Juden Galiziens mehrheitlich Antisemiten gewesen sein müssten, was zu behaupten natürlich absurd wäre.

Absurd scheint das richtige Wort zu sein: Antisemitismus ist längst ein Phantom.

Versimpelt gilt heute jemand als Antisemit, der an Israel als zionistischen Staat artikuliert Anstoß nimmt, und das auch noch sagt. Er mag sich damit rechtfertigen, dass „die Juden“ zu dieser Frage schon um 1900 „mit den Füßen abgestimmt“ (W. Lenin) hatten. Eine Million russischer Juden wanderte nach den USA aus, während sich nur 80.000 bis um 1920 in Palästina einfanden. Absurd wäre es nun wiederum, die US Juden als Antisemiten zu sehen. Allerdings stellte Carlo Strenger fest, dass die amerikanische Judenheit binnen zweier Generationen auf 13% des heutigen Bestandes abschmelzen werde. In einer freien Gesellschaft heiraten Juden – Marc Zuckerberg als illustres Beispiel – gerne Asiatinnen. Sie sind so gut wie nie Jüdinnen. Unser Dr. Schuster verkündete in seinem Blatt, das amerikanische Programm zur „Festigung jüdischen Volkstums“ (jewish outreach program) greife nicht. Warum sollte ein Euro-Asiate Jude werden wollen angesichts seiner kulturellen Alternativen. Ganz abgesehen davon sind „die Juden“ gegenüber Mischlngen kritischer eingestellt als es die Nazis waren. Sie lassen selbst einen israelischen (para-jüdischen) Ukrainer nach Zypern reisen, wo er im Ausland seine echt-jüdische Partnerin heiraten kann. So ganz koscher ist es also nicht in der „einzigen Demokratie in Nah-Ost.
Unbestreitbar bleiben als „echte Juden“ dann nur die Chareden und andere Sekten, die witziger Weise wiederum dem „jüdischen Staat“ kritisch gegenüber stehen (vgl. Jakov Rabkin, Im Namen der Thora).

Ganz nebenbei. Der Text bis hierher reicht aus, um als Antisemit verteufelg werden zu können. Aber steigen wir den Scheiterhaufen noch ein paar Reisigbündel höher:

Gehen wir erst einmal davon aus, dass der Vorwurf „Antisemit“ nichts anderes sein kann als ein säkulares Herem, das eine vom deutschen Staat unterhaltene Clique von bundesdeutsch-jüdischen Kollaborateuren sehr leichtfertig anwendet. Als souveräner Mensch wird einen dieses Herem genauso wenig genieren wie ein katholischer Kirchenbann. Problematisch wird die folgende Bundes-Acht. Im Mittelalter (es ist offiziell vorbei, aber wir entdecken seine Spiritualität neu) folgte dem Bann die Reichs-Acht (Ächtung). Hier liegt unser retardierendes Problem. Dem Herem folgt in unserem Land eine soziale Ächtung, weil der deutsche Mensch angstgesteuert ist. Der Redakteur Finn Canonica vom Schweizer Tagesanzeiger hatte sich viel erlauben können. Dass er aber als Korrekturzeichen für unerwünschte Germanismen in einer Schweizer Zeitschrift kleine Hakenkreuzchen als Korrekturzeichen und -begründung nutzte, das war der Skandal, an dem man ihn packen konnte.
Die Gesellschaft meidet den zum Antisemiten gestempelten wie im Mittelalter, fürchtend, selbst unter Interdiktion zu fallen.

So gesehen sind die staatlich etablierten Juden wieder eine Gefahr für die Freiheit.

Den Deutschen ist die Freiheit zwar weitgehend gleichgültig, was sogar Hendryk Boder im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg konstatierte. Deswegen respektiert es die Bundesächtung und setzt Preisverleihungen aus. Samuel Salzborn als Berliner Antisemitismusinquisitor nimmt sich im Schatten dieser Gleichgültigkeit Berliner Straßennamen vor: soll doch die Kantstrasse morgen Kantenstraße heißen Den Richard Wagnerplatz könnte man Ernst Wagnerplatz benamsen nach dem Degerlocher Hauptschullehrer und Massenmörder, der während der Nazizeit in einer Irrenanstalt verstarb. Der Bundesantisemitismusbeauftragte Felix Klein konnte als Agent des Bundesfiskus und Hauptkunden für juristische Literatur den Beckverlag zwingen, dessen Gesetzessammlungen umzutaufen, ungeachtet der Tatsache, dass kaum ein Jurist etwa vor der Umbenennung wußte, wer Otto Palandt gewesen sein soll. Palandt war – wissen wir jetzt – als Leiter des Reichsjustizprüfungsamtes angeblich für die falsche Erziehung des deutschen Juristennachwuchses verantwortlich, was eigentlich nicht sein kann, weil dieJurastudenten an den Universitäten von Hunderten von Juraprofessoren ausgebildet wurden. Aber wen interessiert es? Keine Sau. Ingo Müller (in: Furtchtbare Juristen) weiß zu berichten, dass die Nazi-Zeit juristisch keine Sonderrechtszeit war. Trotzdem: Wei politisch die Deutschen heute ziemlich willenlos sind, können Dres. Schuster und Co, ohne auf Opposition zu treffen, ihre geschichtlichen Revisionen durchziehen.

Nun scheinen die Herrschaften aber doch zu hoch zu pokern, bzw. Ihr Blatt zu überreizen. Ihre Inquisition nimmt sich inzwischen auch grundrechtlich geschützte Segmente des sozialen Lebens, die Kunst und die Meinungsfreiheit vor. Es wird den metökenden Palästinensern z. B. verboten, zu demonstrieren, weil „antisemitische“ Parolen skandiert werden könnten, bzw. weil solche schon ausgerufen worden seien. Dies verletze die Rechte der Juden. Sie fühlen sich beleidigt. Sollte tatsächlich ein arabischer Lausejunge rufen „(J-Wort), verrecke“, dann wäre dies wohl empörend, aber nicht so gravierend, dass a.) ein Jude um seine Menschenwürde gebracht werden würde noch b.) dass gleich allen Arabern das Protestieren am Jerusalemtag verboten werden muss. Auch der wenig informierte Jude könnte erkennen, dass hier Araber demonstrieren, mit denen die Regierung in Israel nicht gerade zimperlich umspringt. Deswegen protestieren sie.

Eingeschränkt werden soll aber das Demonstrationsrecht bei uns. Das ist schlimm.

Das Gleiche gilt für die Kunst. Auch hier soll der Deutsche nicht mehr sehen dürfen, wie man z. B. in Indonesien die zionistische, und damit westliche, Herrschaft über die palästinensischen Autonomiegebiete sieht. Natürlich kann der Künstler in Jakarta das jüdische Besatzungsregime noch krasser darstellen, aber bei uns wird verboten, es dem Deutschen zu zeigen. Hier liegt das Problem, zumal die „antisemitischen Kunstwerke“ in Indonesien weiter ausgestellt werden können. Der „jüdische“ Angriff richtet sich nicht nur gegen die Kunstfreiheit allein, sondern auch gegen den internationalen Gedankenaustausch. Israel hat das Problem, in der Dritten Welt geächtet zu sein. Müssen wir auch im Kulturbereich Israel folgen?

Die jüdischen Inquisitoren gehen sogar so weit, die Verleihung von Literaturpreisen an französische und dnglische Damen zu vereiteln, weil diese eine BDS-Petition unterzeichnet hätten. Aber ist die BDS wirklich antisemitisch? Viele Juden sagen „nein“.

Noch krasser wird es, Konzerte von Roger Waters verbieten lassen zu wollen, weil dieser auch irgendwelche BDS Petitionen unterzeichnet habe. Allein die Unterzeichnunv einer Petition ist grundrechtlich geschützt (Art. 17 GG). eremy Coburn, der sich zu diesem Thema abstinent zeigte, wurde auch urplötzlich als Antisemit abgestempelt. Es liegt in der Logik politisch links stehender Personen, rechte Politik generell abzulehnen und mit einem antisemitischen Verdycht zu bestäuben, aber inzwischen sind erklärte Linke des Antisemitismus verdächtigt. Simultan berichtet aber ein Pinchas Goldschmid 2023 stolz von seiner Reise nach Jerusalem über Israel, dass eine satte Mehrheit der jüdischen Israelis für den jüdischen Staat in seiner religiösen Ausrichtung seien. Kann den jüdischen Staat ein linker Demokrat als eine Art jüdischen Kirchenstaat noch für akzeptabel halten?

Ich übergehe die historische Frage, ob Israel ein banaler Kolonialstaat sei mit dem Axiom, es sei nicht ein Kolonialstaat, denn das Land gehöre seit Moses (seit 3000 Jahren) „den Juden“, die es nur der bösen Römer wegen hatten räumen müssen, was die Araber veranlasste, es zu squatten. Nun errichten die Juden einen jüdischen Staat auf ihrem ihnen zu Unrecht weggenommenen Grund und Boden, wobei man heute nicht genau abschätzen kann, was das im Detail heißt.
Greifen wir zu einer Analogie. Wilhelm Thiersch hatte 1875 eine Abhandlung über den christlichen Staat verfasst, die durchaus Theodor Herzl als Zeitgenossen als Blaupause für sein Altneuland hat gedient haben können. Thiersch räumt zwar die These der französischen Revolution als richtig ein, dass der Staat selbst ein Atheist sei und sein müsse, verweist aber darauf, dass der Staat auch eine Genossenschaft darstelle, die christlich wäre, so dass der Staat (von 1875) faktisch christlich sein müsse. Übernimmt man diese Argumentation für Israel, so wäre die jüdische Bevölkerung die religiöse Genossenschaft, die dem atheistischen Staat das Gepräge gäbe.

Seit Thiersch haben sich aber die folgenden Generationen dechristianisiert, was die Idee vom christlichen Staat erledigte. Selbst in den USA musste sich das Utah-Territorium von den Regeln des Mormonenstaates befreien, um in die Union aufgenommen werden zu können. Israel bekennt sich also zu prädemokratischen Grundsätzen.

Auch wenn man die Verhältnisse mit denen in Europa vergleicht, kommt nichts anderes bei heraus. Zwar sind noch etwa 50% der Deutschen Mitglied einer Kirche, dürften aber nach David Farbstein eher „Friedhofschristen“ sein, die nur noch ein christliches Begräbnis wünschen. Georg Liebe schrieb über die Juden um 1900, sie seien Menschen wie du und ich, so dass die selbe Dejudaisierung die Idee vom jüdischen Staat erledigen müsse. Das hakt: zwar in den USA geht die Zahl der Talmudgetreuen zurück (Carlo Strenger), aber nicht in Israel. Dort hätten wir nach Auskunft von Pinchas Goldschmid noch länger einen jüdischen Mormonenstaat.

Praktisch ist es so, dass im nicht-kolonialistischen Israel auch Araber mit dem „falschen“ Glauben leben; außerdem identifizieren sie sich – soweit Moslems – auch nur über eine Art Aberglauben. Um hier keine falsche Religion zum Zuge kommen zu lassen, muss es, so lange es Moslems geben wird, beim jüdischen Staat bleiben, auch wenn die Gläubigen zahlenmäßig zurückgehen. Als Ersatz kommt das jüdische Abstammungsbewusstsein zum Zuge. Der Staat bleibt jüdisch, weil die Leute das Sagen haben, die von drei oder mehr volljüdischen Großeltern abstammen. Dieser Realität muss man unbefangen ins Auge sehen.

Hier liegt ein Widerspruch zur Politik der Diaspora der Dres. Schuster und Co im freien Germanien. Die jüdischen Herrschaften spielen politisch immer noch die linke Karte aus und suchen sogar den Schulterschluss mit den „Feinden Israels“ (Karl Lagerfeld), wenn es um obszöne Albernheiten wie die Beschneidung oder um abergläubische Schlachtmethoden geht. In Israel ist heute kein Juden gezwungen, seine Buben beschneiden zu lassen. Für Dres. Schuster und Co wäre dies aber ein Hinweis auf Antisemitismus, die Beschneidung unmündiger Kinder verbieten zu wollen. Religionsfreiheit der Eltern? Sie endet an der Vorhaut einesr selbständigen Rechtsperson. Gleichzeitig vernebeln die Dres. Schuster die rechten Verhältnisse in Israel, wo inzwischen Neonazis zu Ministern aufgestiegen seien (Ajelet Shani).

Inzwischen hat die Politik der Dres. Schuster und Co die neue „Antisemitenliga“ ganz schön anwachsen lassen mit der Folge, dass, was gestern noch „no go“ war, Dank Schuster und Co cool und woke geworden ist. Vor 10 Jahren, z. B. erschien – natürlich auf Arabisch – in einer arabischen Zeitung Ibtisam Azems Roman vom Verschwinden der Palästinenser in Israel. 2019 erschien er auf Englich in den Staaten. Und auf der Suche nach „antisemitischem“ bzw. propalästinensischem Schrifttum wurde er jetzt für das deutsche Publikum entdeckt und verlegt. Das Buch beschreibe die Lage der Palästinenser mit touch für die Zukunft. Denn in der Tat kann Israel – als atheistischer Staat wie als jüdische Gesellschaft – nicht auf die Arbeitskraft der Araber verzichten, gewährt ihnen aber nur mindere, bzw Ausländerrechte. Und das wird erst der Anfang sein von einer Flutwelle „antisemitischer“ Literatur, deren Wassermassen die alte Garde jüdischer Kollaborateure deutscher Vergangenheitspolitk (Norbert Frei) aufgestaut hat. Die „einzige Demokratie in Nah-Ost “ hat noch nicht einmal eine geschriebene Verfassung, keine kodifizierten Menschenrechte, die die „V-Waffenschläge“ nach Gaza relativieren müssten, und ringt seit ihrer Gründung um die Gewaltenteilung nach Montesquieu.

Man kann statt von Kollaborateure der bundesdeutschen Politik auch von „Bärendienern“ an der Diaspira sprechen. Sie machen auch alberne und unrealistische Stücke wie lemmon tree oder die Vögel für ein oberflächliches Publikum, das nach Tatort-Art moralisiert, sehenswert. Denn, „etwas ist faul im Staate Israel“, würde Shakespeare sagen, aber dass die deutsche Diaspora-Führung morsch ist, das sagen ganz aktuell sogar die Leute von der Jüdischen Rundschau.

von Lobenstein

Ibtisam Azem – Das Buch vom Verschwinden, Lenos Verlag

Die Protagonisten dieses klugen, präzisen und stillen Romans, der aber vor Spannung brodelt, sind zwei Israelis, ein jüdischer und ein arabischer. Beide sind miteinander befreundet und gehen respektvoll miteinander um. Und auch wenn Ariel, der Jude, glaubt seinen Freund Alaa zu kennen, zumal sie im selben Haus wohnen, ist er erstaunt und verwirrt, als dieser eines Tages verschwunden ist und mit ihm alle anderen israelischen Palästinenser. Es klingt unglaublich und ist auch ungewöhnlich. Die Frage nach ihrem Verschwinden geht wie ein roter Faden durch das ganze Buch.

Beim Lesen dieses klugen und spannenden Romans musste ich immer wieder daran denken, dass es eigentlich der feuchte Traum vieler national-religiöser jüdischer Israelis war und ist, eines Tages aufzuwachen und festzustellen, dass die Araber bzw. Palästinenser alle verschwunden sind. Und die übrigen jüdischen Israelis, auch wenn sie das nicht träumen, hätten nichts dagegen.  Leider aber wachen die Israelis jeden morgen auf und müssen feststellen, dass die Araber, die man jetzt Palästinenser nennt, immer noch da sind.

Beim Lesen dieses Buches wird mir klar, wie wenig jüdische Israelis von den arabischen Israelis wissen, wie wenig sie sich für sie interessierten und wie wenig sie ihre Nachbarn kennen. Ein israelischer Freund aus der Mittelklasse wollte sich mir und meinen deutschen Freunden gegenüber als Humanist und Araberfreund präsentieren und gab an Araber zu kennen. Es stellte sich heraus, dass der einzige Araber, den er kannte, der Gärtner war, der im städtischen Parkt die Pflanzen pflegte, mit dem er aber keinen gesellschaftlichen Kontakt hatte. Andere Araber kannte er nicht und schon gar nicht aus seinem Bildungsmilieu. Wozu auch?

Dann stieß ich auf Seite 206 auf eine Stelle, die mich an Jakob Wassermanns Gedicht aus seinem Buch „Mein Weg als Deutscher und Jude“ erinnerte, wo er schreibt: „Bei der Erkenntnis der Aussichtslosigkeit der Bemühung wird die Bitterkeit in der Brust zum tödlichen Krampf“. Diesen Krampf habe ich auch bei Ibtisam Azem gespürt, wenn sie schreibt: „Ab und zu sprechen wir ganz ruhig. Meistens schweigen wir…Wir hassen euch. Wir gehen auf euch zu. Lieben euch sogar als Menschen. Wir imitieren euch. Wir glauben euch. Und wissen doch, dass wir zuallererst uns selbst belügen.“

Und sofort kommt mir in den Sinn Jakob Wassermanns Gedicht in seinem Essay „Mein Weg als Deutscher und Jude“: „Es ist vergeblich, das Gift zu entgiften. Sie brauen frisches. Es ist vergeblich, für sie zu leben und für sie zu sterben. Sie sagen er ist ein Jude.“ Und die nationalen Juden in Israel sagen: „Er ist ein Araber.“ Die anderen schweigen. Und die Minderheit, die darüber spricht, gilt als Landesverräter.

Auf die angebliche Entschuldigung der Juden dafür, dass sie den Palästinensern das Land geraubt haben, weil es nur eine Wüste gewesen ist und sie es fruchtbar gemacht und modernisiert hätten, antwortet die Autorin ruhig und klug: „“Und selbst wenn es nur Wüste gewesen wäre – die Lüge, an die ihr glauben wollt, gibt euch noch lange nicht das Recht uns zu töten und zu vertreiben.“ Und man möchte hinzufügen: Wir haben euch nicht darum gebeten.

Man fragt sich, wer die Vergangenheit wie ein Mühlstein am Hals mit sich trägt – die Juden oder die Palästinenser. Letztere verfolgen ihre Geschichte bis zu Nakba und kommen nicht davon los. Die Juden aber verfolgen ihre Geschichte bis zu den Pogromen in Russland im 19. Jahrhundert und kommen vom Antisemitismus nicht los.

Das Buch handelt davon, dass das Verschwinden der Araber für die Israelis keine Freude und Festtagsstimmung verursacht, sondern wie eine dunkle Wolke über das ganze Land hängt und die Menschen eher verunsichert als erfreut. Man fragt sich, ob das wirklich so sein wird, oder ob es bloß ein Wunschdenken der Autorin ist.

Manche sehnen sich nach ihrer Rückkehr. Die meisten haben aber Angst, dass sie ihnen das antun, was sie den Arabern angetan haben. Besonders grausam wird die Szene einer Vergewaltigung bei der Vertreibung der Palästinenser 1948, die für die Palästinenser die Nakba ist. Ibtisam Azem gelingt es die angeblichen Gewissensbisse der Vergewaltiger als Heuchelei zu demaskieren und bloßzustellen. Man hat die Urbevölkerung vertrieben und jetzt, wo sie nicht mehr da ist, kommen plötzlich Gedanken der Reue und Entschuldigung auf. Es gibt aber niemanden mehr, bei dem man sich entschuldigen könnte.

Eines wird aber sehr bald klar. Ibtisam Azem kennt die Israelis sehr gut und kann sogar ihre geheimsten Gedanken und Wünsche lesen. Sowohl der jüdischen wie auch der arabischen Israelis. Sie weiß, dass die Juden, mit all ihren Atombomben, ihrer grenzenlosen militärischen Überlegenheit, ihrer Arroganz und Selbstgerechtigkeit, eigentlich Angst haben vor den Palästinensern. Sie wünschen sie zum Teufel, aber sie können ohne sie auch nicht leben.

Die Juden sind zwar überrascht, aber nicht traurig oder gar entsetzt über das Verschwinden der Araber. Sie würden zwar gerne wissen, wohin sie gegangen sind, aber sie betonen selbstgerecht und zum Teil heuchlerisch, dass sie niemanden gezwungen haben zu gehen. Ist das nicht auch die Geschichte, die man heute in israelischen Schulen lernt, dass die Palästinenser „von selbst“ geflohen sind?

Sie betonen, dass die Auswertung der Überwachungskameras an öffentlichen Plätzen keinerlei Auffälligkeiten zutage gefördert haben. Ariel und manche anderen liberalen Israelis verdächtigen die Regierung, aber sie haben keine Beweise. Andere sind froh: „Endlich sind wir diese schwarzen Schlangen los.“ Und manche Selbstgerechte meinen heuchlerisch: „Ich verstehe nicht, weshalb sie uns das antun.“ Da denkt man daran, dass die Deutschen den Juden nie vergeben werden, dass sie sechs Millionen Juden ermorden mussten.

Die Mehrheit aber schweigt und wartet auf Anweisungen der Regierung. Es bleibt schlicht undenkbar, dass man in einem Land mit dermaßen vielen Überwachungskameras nicht weiß, wohin mehr als vier Millionen Palästinenser verschwunden sind. Die Häuser wirken überhaupt nicht so, als hätten ihre Besitzer beabsichtigt, sie zu verlassen.

Das versetzt mich als Leser in das Jahr 1948, als meine Familie, kaum das wir aus einem DP-Lager in Europa angekommen sind, in eine arabische Wohnung im arabischen Teil von Haifa von den Behörden einquartiert wurden, meine Eltern, mein jüngerer Bruder und ich, und ich war damals drei Jahre alt. Die Wohnung wirkte nicht, als hätten ihre Besitzer beabsichtigt, sie zu verlassen. In der Küche war noch das Essen auf dem Tisch und wir fanden alles vor, was wir für die Wohnung benötigten. Eine vollständig eingerichtete Küche, Betten, Sofas, Kleider und sogar Kinderschuhe und vieles mehr. Dabei spielt doch das Buch von Ibtisan Azem im hier und heute, im bereits seit mehr als 70 Jahren existierenden Israel. Damals erlaubte David Ben-Gurion nicht die Rückkehr der Vertriebenen. Man nannte sie Anwesende-Abwesende. Die Angst davor blieb wie ein Albtraum bis heute.

Es geht im Buch immer wieder um die Nakba, denn was wir in der Welt um uns herum sehen, ist unerträglich. Nicht nur die Kriegsverbrechen von 1948, sondern auch die Art und Weise wie die Palästinenser heute behandelt werden und wie unerträglich die israelische Kälte und Selbstgerechtigkeit ist. Galit, eine junge Soldatin, die am Checkpoint Qualandia Dienst tut, beschwert sich: „Wie sollen wir ihnen jemals vertrauen? Wir geben alles, um den Palästinensern an den Checkpoints den Alltag leichter zu machen. Aber was tun sie? Sie widersetzen sich.“ Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man lachen. Aber leider muss man hier doppelt weinen. Über die gequälten Palästinenser und über die heuchlerischen Israelis. Und wenn ein israelischer Soldat einem Palästinenser demütigt, wundert er sich noch darüber, dass man den Palästinensern den Wunsch nach Rache von den Augen ablesen kann. Das ist wohl das, was die Israelis unter „humaner Besatzung“ verstehen.

Und so geht es bis zum Schluss. Manche räsonieren sogar darüber, dass das Verschwinden der Araber die „sauberste“ ethnische Säuberung sei, die die Menschheit je gesehen hat. Man liest und liest und wartet auf eine Lösung und man ist schon auf der vorletzten Seite und hofft, dass auf der letzten Seite die Lösung kommt, dass nämlich alles ein böser Albtraum war. Das der Erzähler aufwacht und alles ist wie gehabt. Aber nein. Den Gefallen tut uns die Autorin nicht. Es bleibt dabei, dass die Palästinenser verschwunden sind. Und da denkt man an die Nakba, die für die Palästinenser ihre nationale Shoa ist und versteht, was uns die Autorin sagen will. Nein, die Shoa ist nicht die Nakba, man kann nicht gleichsetzen. Aber vergleichen kann und darf man doch. So wie die Welt bei der Shoa geschwiegen hat, so schweigt sie auch bei der Vertreibung und Behandlung der Palästinenser im Buch und in der Wirklichkeit.

Ariel der von sich glaubt ein liberaler „guter“ und „anständiger“ Mensch zu sein und sich in der Wohnung seines arabischen Freundes einquartiert, um sie, so glaubt man, zu bewachen und die Rückkehr seines Freundes nicht zu verpassen, übernimmt auf der letzten Seite des Romans die Wohnung und kann nicht schnell genug das „Türschloss wechseln“, noch bevor das neue Gesetzt in Kraft tritt, dass nämlich alles Eigentum der Araber, die bis drei Uhr nicht zurückgekehrt sind, verfällt. Er hat keine Skrupel dabei und keine Gewissenbisse. Warum auch? Es ist alles legal und wenn man kein Gewissen hat, kann man auch keine Skrupel haben.

So haben auch viele Juden 1948 arabische Häuser und Wohnungen, teure Möbel und wertvolle Bibliotheken erbeutet. Alles absolut rechtmäßig mit Erlaubnis der verabschiedeten Gesetze. So wie es auch die Nazis gemacht haben. Nur dass Juden von den Nazis beschlagnahmtes Eigentum zurückerhielten. Araber aber nicht.

Nirgends im Buch klagt die Autorin an. Sie beschreibt nur ungewöhnliche aber offensichtlich vorhandene Verhältnisse ruhig und ohne Verbitterung und Hass. Sie zeigt, dass auch gute Menschen böses und menschenrechtwidriges tun können, ohne es zu merken und ohne deshalb ein schlechtes Gewissen zu haben. Die Menschen haben die Wahl. Wenn sie bloß immer das Richtige wählen würden. In einer frei erfundenen Rede sagt der Ministerpräsident, der im Buch nicht Bibi sondern Titi heißt: „Diese außergewöhnlichen Umstände verlangen außergewöhnliche Schritte und den Zusammenhalt aller Kräfte von links bis rechts. Von heute an gibt es kein Links und Rechts mehr, keine Säkularen und Religiösen.“ Ist das nicht der Traum aller Diktatoren? Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“, ist das bekannteste Zitat von Wilhelm II als er sein Volk in den Ersten Weltkrieg schickte.

Ibtisan Azem gelingt ein eindruckvolles, originelles Plädoyer wider das Vergessen und für ein friedliches Zusammenleben. In ihrem Roman trifft die Autorin unseren Nerv mit einer Fiktion, die ebenso fasziniert wie bewegt ist. Man weiß von Anfang an, dass die Geschichte nicht möglich ist und wartet doch neugierig auf eine Lösung, die es aber im wirklichen Leben nicht gibt.