von Hermann Dierkes
Hallo, liebe Katja Maurer,
ich habe Ihren Beitrag mehrmals gelesen, weil mir nicht klar wurde, auf was Sie eigentlich hinauswollen und welche praktischen Konsequenzen Ihre Haltung fuer die Arbeit von medico international haben könnte. Bisher gehe ich allerdings davon aus, dass es sich nur um Ihre persönliche Sicht handelt.
Eins sollte von vornherein klar sein: Das Menschheitsverbrechen von Nazi-Deutschland an den europäischen Juden ist untilgbar und muss fuer jede fortschrittliche Politik Teil ihrer analytischen Grundlagen und ihrer Handlungsprinzipien sein. Auf die schon klassische Formel gebracht: ”Nie wieder – nirgendwo und gegen niemanden”.
In Ihrem Beitrag reflektieren Sie selbstkritisch Ihre persönliche politische Vergangenheit. Das ehrt Sie, auch wenn ich den Eindruck habe, dass Ihre Selbstkritik gegenueber dem sogenannten ”realen Sozialismus” und seinen Ablegern – die Sie eingestandnermassen einmal unterstuetzt haben – nicht weit genug geht (*). Zu recht verurteilen Sie u.a. die ”unheilvolle Praxis einer deutschen Stadtguerilla” auf ein Juedisches Gemeindehaus 1969 in Berlin. Andererseits scheinen sie aber geneigt zu sein, grundsätzlich richtige Ideen (solidarischer Universalismus usw.) wie das beruehmte Kind mit dem Bade auszuschuetten.
Sie plädieren dafuer, ”in Widerspruechen zu denken”. Politische und gesellschaftliche Wirklichkeit, Frau Maurer, ist voller objektiver und subjektiver Widersprueche. Es braucht deshalb Kriterien und Instrumente, an Hand derer wir sie analysieren, uns Klarheit verschaffen und unser Handeln orientieren. Auch im Staat Israel gibt es – wie ueberall auf der Welt – ”oben” und ”unten”, Arm und Reich, fortschrittlich und reaktionär, unterschiedliche Ethnien, religiöse Strömungen usw. Ich weiss, wovon ich rede, bin ueber 50 Jahre auf der politischen Linken aktiv, nicht zuletzt, weil ich Palästina/Israel mehrmals besucht, Freunde und Bekannte dort habe. Ich kann nur davor warnen, immer in staatlichen oder gesellschaftlichen ”Ganzheiten” zu denken und seine Politik daran auszurichten. Es gibt ein offizielles Israel – aber es gibt auch ein ”anders Israel”, das die Politik des ersten ablehnt.
Sie selber sprechen es aus – es handelt sich um Siedlerkolonialismus (ohne die Palästinenser an dieser Stelle zu erwähnen. Das ”koloniale Ding” hat auch in ihrem gesamten Text keinen Namen!). Aber Sie streuen diesen politischen Begriff und weitere in Ihren Text ein, ohne sie zu entwickeln und ihre Konsequenzen auszuleuchten. Fortschrittliche Politik, humanistisch geprägtes Handeln, Hilfe fuer die Notleidenden und Unterdrueckten zur Selbsthilfe – wie es sich medico vorgenommen hat – kann nicht umhin, eine Seite zu wählen. Sie muss aufgeschlossen mit denen zusammenzuarbeiten, die unter diesem Unrecht leiden und mit denen, die gegen dieses Unrecht angehen, einschliesslich der juedischen und palästinensischen Israelis.
Auch humanitäre Organisationen wie medico sollten sich immer wieder ihrer Grundsätze vergewissern und sie in ihre praktischen Aktivitäten einfliessen lassen, sonst droht der ”Kampf fuer eine bessere Welt” zum fernen Traumbild zu verschwimmen. Sonst drohen die Aktivitäten von heute sich mit Ruecksicht auf die sog. ”praktischen Zwänge des Lebens” tendenziell ins Gegenteil zu verkehren, wie wir es in Deutschland (und anderswo) in den letzten Jahrzehnten mit etlichen Akteuren erlebt haben. Dazu gehört, dass Unrecht auch Unrecht genannt wird, Unterdueckung auch Unterdrueckung, Rassismus auch Rassismus usw. ”Nie wieder, nirgendwo und gegen niemanden” kann und darf nicht dazu fuehren, schweres Unrecht, apartheid(ähnliche) Verhältnisse, Kriegsverbrechen und gewohnheitsmässige Missachtung von Menschen- und Völkerrecht – wie wir sie in Israel/Palästina vorfinden, mit dem Holocaust quasi zu entschuldigen oder … ”Verständnis” dafuer zu entwickeln, wie manche Passagen in Ihrem Beitrag nahelegen. Das kann und darf nicht die Konsequenz aus dem Holocaust sein, weil es geschichtsvergessen wäre und so Unrecht komplizenhaft perpetuiert und die Grundlagen fuer neue gelegt werden.
Aufschlussreich ist auch folgender Absatz in Ihrem Beitrag: ”Aus dem globalen Sueden auf die israelische Besatzung geschaut zeigt sich eben auch eine Wahrheit. Nämlich, dass der israelische Siedlerkolonialismus in der Westbank mit allem einhergeht, was zu Siedlerkolonialismus gehört. Formen von ausgetueftelter Klassifizierung und Einteilung der urspruengliche Bevölkerung, um sie besser kontrollieren zu können; die beständige Delegitimierung ihrens Sprechens und ihrer Anliegen und klassische Repression. Um nur einige zu nennen.” Alles richtig, Ihre Aufzählung, aber es ist doch alles noch viel schlimmer: Warum erwähnen Sie nicht den fortgesetzten Landraub – Besiedlung und Annexion – und stetigen Ausbau von Apartheid-Infrastruktur und die fortgesetzte ethnische Säuberung? Warum erwähnen Sie nur das Westjordanland nicht auch das ”grösste Freiluftgefängnis der Welt” – Gaza, die wiederholten regelrechten Massaker an der dortigen Zivilbevölkerung und die Zerbombung und Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur? Auch ”Gaza” gehört zu diesem Siedlerkolonialismus, in dem Teile der unerwuenschten Bevölkerung auf brutale Weise eingepfercht, ausgegrenzt und ”zwischengelagert” werden. Mildern Sie ihre Kritik an der israelischen Politik ab, um sie mit den zweifellos schrecklichen Verhältnissen in Syrien positiv zu kontrastieren? Ihre eingangs gemachten Ueberlegungen lassen diesen Schluss zu. Warum erwähnen Sie ausserdem nicht den rassistischen Suprematieanspruch gegenueber den arabisch-stämmigen Israelis? Warum nicht die schreckliche Aussenpolitik der israelischen Regierungen, die sich systematisch mit schlimmen Diktaturen, mit rechtsautoritären Regierungen (Trump, Orban, Bolsonaro und Co.) gemein machen? Warum nicht, dass Israel ein world-player in Kriegswaffen und ”Sicherheits”technik ist?
Und warum, liebe Katja Maurer, zeige sich nur aus der ”Sicht des globalen Suedens” diese ”andere Wahrheit”, wie Sie schreiben? Ist uns aus ”europäischer Sicht” die Wahrnehmung dieser grausamen Realität des Siedlerkolonialismus (eigener Art) – mit Ruecksicht auf den Holocaust – etwa verstellt? Muessen wir sie quasi wegwischen, hinnehmen, wie es im politischen Mainstream ja weitgehend geschieht und bestenfalls mal wieder rituelle Lippenbekenntnisse erzeugt? Sollen die Palästinenser mehr oder weniger offen ausgesprochen fuer die Nazi-Verbrechen bezahlen, indem ihnen alle Rechte und ihre Menschenwuerde genommen werden, sie deutscherseits mit Hilfsgeldern ruhiggestellt werden sollen (von denen die meisten in israelischen Kassen landen!) und sie obendrein im Gefolge der israelischen Mainstream-Propaganda als ”Terroristen”, (und Schlimmeres) abgetan werden?
Sie plädieren dafuer, ”auch in der Debatte um Israel keinen anderen Ausweg als legitime Sprechweisen auszuhalten. Und die bestehen eben darin, aus deutscher und europäischer Sicht die Verantwortung fuer Judenverfolgung und Judenvernichtung Teil eines Diskurses ueber Israel sein muss (…)”. Den zweiten Satz unterschreibe ich mit beiden Händen. Kritik an der israelischen Politik muss scharf abgegrenzt weden von rassistischen Argumentationsmustern und Stereotypen. Aber was, liebe Frau Mauerer, ist fuer Sie ”legitime Sprechweise”? Zählt fuer Sie die Verteidigung der grausamen Wirklichkeit in Palästina/Israel wirklich zu einer ”legitimen Sprechweise”, die wir auszuhalten hätten, wie Sie fordern? Kann es ”legitim” sein, fuer eine derartige Unrechts- und Unterdrueckungspolitik Unterstuetzung – mindestens aber Verständnis und Stillschweigen einzufordern – und sie nicht zu ”delegitimieren”, wie es die israelische Regierung und ihre Unterstuetzer tagein – tagaus verlangen? Kann es legitim sein, auch immer mehr juedische Kritiker der israelischen Politik zu behindern und auszugrenzen? Merken Sie nicht, dass Sie mit derartigen Argumentationsmustern gefährliche Fussangeln legen, die irgendwann zuschnappen? Es ist doch genau diese billige Art und Weise, wie deutsche Mainstream-Politik historische Schuld entsorgen will, indem sie sich geradezu philosemitisch geriert und mit der Unterstuetzung Israels als Staatsräson die Hand ueber neue schwere Verbrechen hält. Und es ist der israelische Mainstream, der mit ständigem Verweis auf den Holocaust seine ”notwendige Selbstverteidigung” (sprich: seine eigenen Verbrechen) legitimiert und sich mit dem Vorwurf ”Antisemit” gegen berechtigte Kritik immunisieren will. Uri Avnery, Avraham Burg und andere haben schon vor vielen Jahren davor gewarnt, dass eine solche Politik des israelischen und des ”westlichen” Mainstreams sich zu einer Brutstätte fuer neuen – rassistischen – Antisemitismus zu entwickeln droht.
Und ist es fuer ein unterdruecktes Volk wie die Palästinenser nicht vollkommen legitim (und völkerrechtlich abgesichert) sich zu wehren, an die Weltöffentlichkeit immer wieder zu appellieren, einem uebermächtigen Unterdruecker auch mit wirksamen Sanktionen in den Arm zu fallen, bis er Menschen- und Völkerrecht einhält und sich so verhält, wie es die einzige Konsequenz aus dem Holocaust sein kann, nämlich zunächst einmal die völkerrechtlichen Regeln einzuhalten und auf einen gerechten Frieden hinzuarbeiten und in der Perspektive solidarische, freie Gesellschaften aufzubauen? Was bleibt den Palästinensern denn noch, nachdem sie so oft und so kaltherzig alleingelassen werden, als umfassender zivilgesellschaftlicher Druck? Wie können Sie das im Grundsatz auf eine Ebene stellen mit der rassistischen – und in der Konseqenz völkermörderischen – Ausgrenzung durch die Nazis? (**)
Aus Ihrer Argumentation schliesse ich, dass Sie sich mit BDS gar nicht eingehend beschäftigt haben, sonst wuerden Sie die gängigen Vorverurteilungen und Stigmatisierungen gegen BDS – sicher zurueckhaltender als andere, aber im Grundsatz nicht so leichtfertig wiederholen. BDS richtet sich nicht ”gegen Juden, nur weil sie Juden sind”, wie die Hasbara-Propaganda unermuedlich wiederholt. Wo gibt es Aufrufe, etwa Buecher von Ilan Pappe, Judith Butler, Noam Chomsky, Tom Segev, Gideon Levy, Moshe Zuckermann, Eyal Weizman, Shir Hever, Avram Burg, Rolf Verleger, der verstorbenen Felicia Langer und Uri Avnery, des Publizisten Abi Melzer und vielen anderen zu ”boykottieren”? Wer aus dem BDS-Spektrum verbreitet, Bob Dylan oder Daniel Barenboim zu ”boykottieren”, weil sie Juden sind? Wer ”boykottiert” Veranstaltungen mit ”Breaking the Silence” und anderen kritischen NGOs oder Rednern aus Israel? Wer lehnt es ab, der ”Juedischen Stimme fuer einen gerechten Frieden in Nahost” den Göttinger Friedenspreis zu verleihen? Propagiert BDS etwa, Bernie Sanders abzulehnen? Wird an diesen Fragestellungen allein nicht schon deutlich, dass es bei der Kritik an der israelischen Mainstream-Politik und BDS ueberhaupt nicht um Antisemitismus/Rassismus geht, sondern ausschliesslich um eine politische Auseinandersetzung, die allerdings von einer Seite extrem unfair und verleumderisch gefuehrt wird? Ist es nicht pervers, dass die international anschwellende Kritik an der Politik des israelischen Mainstreams inzwischen immer umstandsloser unter dem Stichwort ”Antisemitismus” einsortiert wird? Und zwar völlig unabhängig davon, ob Kritiker der israelischen Politik BDS unterstuetzen! Befuerwortern von BDS droht Einreiseverbot nach Israel. Unterstuetzern von BDS in Israel droht strafrechtliche Verfolgung. Frankreich hat sich dem angeschlossen, die USA sind auf dem Weg dorthin und der Beschluss des Bundestags vom letzten Jahr hat bereits erste Schritte auf dem Weg dorthin gemacht.
BDS – und das muss immer wieder klargestellt werden – fordert zu Boykott und Sanktionen auf gegen alle, die an der Unterdrueckung der Palästinenser verdienen, ihr wissenschaftlich zuarbeiten, staatliche Gelder in Israel in Anspruch nehmen, Besatzung und Apartheid politisch gutheissen oder flankieren. Und das sind beileibe nicht nur israelische Akteure – ich erwähne beispielhaft nur Heidelberger Zement, die am Mauerbau verdienen, den französischen Konzern Veolia, der sich inzwischen aus Wasserbau- und Strassenbahnprojekten zuerueckgezogen hat, das grösste, US-amerikanische ”Sicherheits”- und Gefängnisunternehmen der Welt G4S, Caterpillar-Baumaschinen, die portugiesische Firma CEiiA, die unlängst den Tueröffner gemacht hat fuer den israelischen Ruestungs- und Luftueberwachungskonzern Elbit, um Fluechtlinge auf dem Mittelmeer abzuwehren. Ich rate Ihnen dringend, wenigstens einmal einige authentische Publikationen zum Thema BDS zu studieren,.u.a das Buch des palästinensischen Aktivisten Omar Barghouti Boykott – Desinvestment – Sanktionen (Neuer ISP Verlag) und das Buch der beiden israelisch-französischen Medienschaffenden Eyal Sivan und Armelle Laborie Legitimer Protest – Plädoyer fuer einen kulturellen und akademischen Boykott Israels (ProMedia).
Zurueck zu meiner Eingangsfrage: Was sollen Ihrer Ansicht nach die praktischen Konsequenzen fuer die Arbeit von Medico sein, so wie Sie argumentieren? Sie – und medico – können sich entscheiden, die zivilgesellschaftliche und friedliche Kampagne der Pälestinenser – BDS – auf Grund Ihrer Befindlichkeiten, taktischer Ruecksichtnahmen oder um sich angesichts grassierender ”Antisemitismusbekämpfung” nicht ”angreifbar” zu machen, nicht zu unterstuetzen. Es gibt eine ganze Reihe von Persönlichkeiten, die die israelische Politik scharf, sogar sehr scharf kritisieren, aber aus bestimmten Gruenden BDS nicht unterstuetzen. Ich finde das schade, muss es aber akzeptieren. Ich finde/fände es auch schade, wenn Medico international sich so entscheidet – aber es wäre mit den Grundsätzen von medico eigentlich nicht vereinbar – nämlich die Selbsthilfe und die Eigenständigkeit der Unterdrueckten und Leidenden zu stärken. Wenn der – inzwischen weltweit sehr erfolgreiche Appell der Palästinenser allerdings abgelehnt und bekämpft und – wie es aus durchsichtigen Motiven von der israelischen Regierung, ihrer Lobby und seitens der Mainstream-Parteien und -Gremien in Deutschland inzwischen geschieht – auch noch als ”nazistisch” oder ”antisemitisch” verleumdet wird, hört bei mir allerdings jedes Verständnis auf. Unabhängig von der Streitfrage BDS erwarte ich allerdings, dass medico eine eindeutige Haltung zur israelischen Kolonial- und Unterdrueckungspolitik beibehält. Ich hoffe, dass Sie, Katja Maurer und medico international vor lauter ”Differenzierung” das nicht irgendwann aufweichen, sonst muesste ich meine Unterstuetzung einstellen.
Mit freundlichen Gruessen,
gez. Hermann Dierkes
(*) die von Ihnen zitierte Zustimmung der frueheren Sowjetunion zum Teilungsbeschluss der UNO entsprach lediglich konjunkturellen Nuetzlichkeitserwägungen der Politbuerokratie. Der Stalinismus hatte immer eine deutlich antisemitische Dimension (s.u.a. Isaac Deutschers Ausfuehrungen in seiner Stalin-Biografie S. 759 ff)
(**) Boykott ist in der politischen Geschichte erstmals in Irland im Rahmen von Auseinandersetzungen zwischen Grossgrundbesitzern (Charles Cunningham Boycot war einer ihrer Agenten) und einer Landarbeitervereinigung entstanden. Schwache haben sich damit gegen Starke gewehrt. Die Nazis haben diesen Begriff – wie so Vieles – okkupiert und mörderisch entstellt. Es wäre besser, von rassistischer Ausgrenzung durch die Nazis zu sprechen, anstatt von Nazi-Boykott.
Beitrag hier verlinkt, in der Hoffnung, dass sich Katja Maurer und Hermann Dierkes
sich auch in persönlichen Gesprächen begegnen, da beide doch im Sinne unteilbarer Menschenrechte unterwegs sein dürften:
https://www.medico.de/blog/fuer-ein-denken-in-widerspruechen-17308/?fbclid=IwAR09d_RsyWAGK3k5xOrWcwkylYRTg4QEK8-vmPGAB9GoT0TUyMAmINTxW80&cHash=fb91454fd6067ee67e8b37c04e21de70#comment102