Ab wann ist Kritik an Israels Politik antisemitisch?

Eigentlich ist es eine heuchlerische, wenn nicht sogar perverse Frage. Kritik an Israel ist entweder antisemitisch oder nicht. Ein wenig antisemitisch kann es nicht geben, dies ist genauso absurd, wie nur ein wenig schwanger zu sein. Aber in Deutschland kann man eine solche Frage stellen, ohne aufzufallen, weil Kritik von Freunden zuweilen als antisemitisch gilt und Lob von Antisemiten oft begrüßt wird, als ob sie die größten und treuesten Freunde Israels seien. Früher war ein Antisemit derjenige, der Juden hasste. Heute ist ein Antisemit derjenige, den die Juden nicht mögen. Wann also Kritik an Israel antisemitisch ist oder nicht, liegt demnach nicht in der Hand des Kritikers, sondern des Kritisierten. Es kommt aber darauf an, wie viel Kritik er vertragen kann, und es kommt ebenso darauf an, wie gut oder wie schlecht er gerade gelaunt ist. Antisemitismus hat heutzutage nicht mehr viel zu tun mit dem wirklichen Antisemitismus. Man muss kein Antisemit sein, um als solcher von Berufszionisten und Berufsjuden in die Pfanne gehauen zu werden.

Um die Frage dennoch beantworten zu können, müssen wir zuerst definieren, was Antisemitismus ist. Darüber sind zwar unzählige Bücher und eine Flut von Aufsätzen geschrieben worden, aber im Grunde ist die Beantwortung sehr einfach und leicht. Antisemitismus ist Rassismus, er bedeutet: Angriffe auf Synagogen und Schulen, Gewalt gegen Geschäfte, die Juden gehören, die Diskriminierung jüdischer Menschen und der Versuch, Juden überall, wo sie leben, anzugreifen bis zur völligen Vernichtung. Antisemitismus bedeutet Juden zu hassen und töten zu wollen, nur weil sie Juden sind.

Demzufolge kann Kritik an der Politik des Staates, an seinen ungerechten und brutalen Kriegen und an seiner völkerrechtswidrigen Behandlung der Palästinenser kein Antisemitismus sein. Der Kampf für Gerechtigkeit und die Kritik von Ungerechtigkeit kann nicht antisemitisch sein. Dennoch wird Kritik an der Politik des Staates Israel oft von Zionisten und vermeintlichen Freunde Israels sowie den unzähligen Philosemiten als „Antisemitismus“ empfunden und angeprangert. Besonders aber werden die Kritiker bloßgestellt, als Gegner Israels, als Feinde des jüdischen Volkes, als Schufte und als „nützliche Idioten“ verleumdet. 

Und das ist eigentlich das Problem. Weniger ab wann Kritik an Israel antisemitisch ist, als vielmehr wie viel Kritik an Israel von den „Beschützern“ Israels vertragen wird. Ihre Methoden sind so simpel wie primitiv: Die Kritik wird dämonisiert, und die Kritiker versucht man, zu vernichten, indem man sie lächerlich macht oder, was offensichtlich ganz einfach ist, sie als Antisemiten zu diffamieren und damit mundtot zu machen. Als „Antisemit“ zu gelten, ist heutzutage in der westlichen Welt existenzbedrohend und kann auch zuweilen tödlich sein, zumal wenn die Zionisten gar keine Kritik vertragen.

Israel wird wegen seiner Politik sowohl in der westlichen, demokratischen Welt und ganz besonders in Israel selbst, sehr hart und oft auch sehr leidenschaftlich kritisiert. Das hat damit zu tun, dass es unter den Kritiker auch viele Juden gibt, die sich dagegen wehren, dass Israel auch in ihren Namen spricht. Deshalb sind sie auch schneller bereit, Israel zu kritisieren, als etwa Tibet, Somalia oder Russland. Syrien, Irak und Ägypten behaupten nicht, wie Israel, Demokratien zu sein. Deshalb muss sich Israel auch wie eine Demokratie Kritik gefallen lassen.

Jedoch ist nicht die Kritik an Israel antisemitisch, sondern die Politik Israels selbst ist es. Sie hat den Ruf des Judentums als einer Religion der Vernunft und der Gerechtigkeit weltweit beschädigt. Es ist Israel, das nicht nachlässt, im Namen der Juden und im Namen des Judentums zu sprechen und dann alldiejenigen Juden, die das ablehnen und laut rufen: Nicht in unseren Namen, als „Antisemiten“ oder als „jüdische Selbsthasser“ zu diffamieren.

Hier liegt des Pudels Kern begraben. Israel will mit aller Gewalt und wider alle Unvernunft als jüdischer Staat anerkannt werden, besonders von seinen Gegnern, damit es den Gegnern immer wieder Antisemitismus vorwerfen kann, wenn diese Israel kritisieren. Eigentlich kann man fast davon ausgehen, dass Israel diese Kritik provoziert, um den Franzosen, Engländern und Deutschen vorwerfen zu können, dass sie Antisemiten sind, denn dann haben die dort lebenden Juden einen Grund und die Pflicht, diese Länder zu verlassen und nach Israel auszuwandern. Man braucht dann nur laut genug zu sagen, dass dort für das Leben der Juden eine Gefahr besteht, und dass sie jederzeit in Israel  willkommen sind.

Besonders infam und heuchlerisch ist es, wenn behauptet wird, dass Kritik an Israel selbstverständlich nicht antisemitisch ist, und „wie jede Demokratie kann auch die Politik der Regierung Israels kritisiert werden“. Gleichzeitig werden aber einer Kritik an der Politik des Staates Grenzen gesetzt. Kritik an Israel werde dann antisemitisch, wenn das Recht des jüdischen Volkes auf einen eigenen Staat negiert werde. Dabei ist das gar nicht Gegenstand von Kritik an Israel. Die meisten Kritiker stellen Israels Existenzrecht überhaupt nicht mehr in Frage. Es geht um Israels Kriegsverbrechen und völkerrechtswidriges Verhalten und nicht um sein Existenzrecht. Und „Kritik an Israel ist dann antisemitisch, wenn an Israel andere Maßstäbe angesetzt werden als an jeden anderen Staat“. Aber genau das ist nicht der Fall. Man legt an Israel genau die Kriterien an, die man an einen demokratischen Rechtsstaat überall auf der Welt anlegt. Aber es hilft nicht, und die zionistischen Kritiker bleiben bei ihrer Kritik, obwohl sie absolut frei erfunden ist. Es ist wie mit dem Mann, der beschuldigt wird, dass seine Schwester eine Hure sei. Er kann so viel beschwören, wie er mag, dass er überhaupt keine Schwester habe. Seine Gegner lassen sich nicht umstimmen.

Man wirft den Kritikern auch vor, dass sie Antisemiten seien, weil sie angeblich Israelis mit Nazis vergleichen. Dabei waren es doch jüdische Israelis selber, die unter den wohlwollenden Blicken von Benjamin Netanjahu und Ariel Sharon, Itzchak Rabin in SS-Uniform bei Demonstrationen in Tel Aviv gezeigt und für seinen Tod „gebetet“ haben. Sind deshalb Netanjahu und Sharon nun Antisemiten?

Kritik an Israel ist immer öfter zu hören. Sie braucht nicht erlaubt zu werden, denn ihre Legitimität ergibt sich aus unserem Grundgesetz. Sie sollte aber nicht diffamiert und die Kritiker sollten nicht mit Dreck beworfen und mit Beleidigungen überzogen werden. Die Grenze, ab wann Kritik an Israel angeblich antisemitisch sein soll, sollte nicht von denjenigen gezogen werden, die jede Kritik an Israel von vornherein als Antisemitismus verurteilen und Israels Kriegsverbrechen und Vergehen gegen das Völkerrecht permanent weißwaschen.

Ein Gedanke zu „Ab wann ist Kritik an Israels Politik antisemitisch?

  1. Mein heutiger Leserbrief an die SZ passt genau zu diesem Thema:

    Offener Leserbrief 26.9.14 an die SZ zu:
    Reiter distanziert sich von Palästinatagen (Thomas Anlauf) und Politische Naivität (Peter Fahrenholz)
    SZ vom 17.9.14 Teil München
    Ich bin erstaunt über die beiden Kommentare vom 17.September in der SZ zu den Palästinatagen in München von ihren Mitarbeitern Anlauf und Fahrenholz. Herr Anlauf macht aus der Distanzierung des neuen Münchner OB Reiter von der Wortwahl „Genozid“ im Vorwort des Programms gleich mal in der Überschrift eine „Distanzierung von den Palästinatagen“ und Herr Fahrenholz versucht sich in journalistisch fragwürdiger Art in einer Vermischung von zwei völlig verschiedenen Ebenen. Dazu möchte ich ihn fragen: Seit wann ist die Kritik an der Politik und den Handlungen eines Staates eine „Verunglimpfung Andersdenkender“? Zumal die Benutzung des Begriffs „Genozid“ (gleich Völkermord) für das letzte Gaza-Massaker durchaus gedeckt ist durch die Bestimmungen des Humanitären Völkerrechts. Selbst, wenn Herr Fahrenholz hier die Grenzen anders sehen will. Wo werden da aber „Andersdenkende verunglimpft“?. Versucht er durch diese eigenwillige rhetorische Konstruktion die Antisemitismus-Keule zu bedienen? Dass der zitierte CSU-Stadtrat Offman von der zionistisch orientierten jüdischen Kultusgemeinde München die Gelegenheit nutzt, mit ihr um sich zu schlagen und gleichmal die Statutenänderung des Münchner Eine-Welt-Hauses fordert, ist zu erwarten gewesen. Dass der OB Reiter hier seine politische Distanz aufgibt und gehorsamst auf diesen Zug aufspringt ist wohl der deutschen Staatsraison des bedingungslosen Beistands für Israel geschuldet. Ich möchte mit einem Aufruf vom 25.9.14 der jüdisch-israelischen Trägerin des Bundesverdienstkreuzes Felicia Langer zum Gaza-Massaker abschliessen: “So wende ich mich an die Gemeinschaft der Welt, die Straffreiheit der Mörder nicht mehr zu dulden, nicht mehr zu schweigen! Die israelische Regierung und alle Beteiligten am Völkermord in Gaza müssen vor Gericht gestellt werden, mit Benjamin Netanyahu an der Spitze. Ihr Platz ist auf der Anklagebank des internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Die Gerechtigkeit fordert es!“ Und mit Jürgen Todenhöfer: „Doppelte Moral ist die erbärmlichste Form von Moral.“
    Wolfgang Behr

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