Annalena Baerbock reist nach Israel

Sehr geehrte Frau Außenministerin,

meine besten Wünsche begleiten Sie bei ihrem Antrittsbesuch in Jerusalem. Ein solcher Besuch ist keine leichte Aufgabe, weil Sie nicht nur die Juden in Israel besuchen, sondern auch die sechs Millionen durch die Nazis ermordeten Juden im Gepäck haben, und die Palästinenser, die heute die Juden der Juden sind. Jede dieser Gruppen hat aber Rechte und eigene Vorstellungen über die Lösung des Konflikts.

Einige Ihrer Vorgänger haben Israel als erstes Land besucht. Sie haben zugewartet und dafür Ihre Gründe gehabt. Sie wollten offensichtlich nicht nach Yad Vashem gehen und die Reden anhören, die Sie davon überzeugen sollten, dass Deutschland und Israel die gleichen (moralischen) Werte haben.

Das ist nicht der Fall. Deutschlands moralische Basis ist heute das Grundgesetz mit seinem erhabenen Artikel 1, Absatz 1, der lautet: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Vor einigen Tagen hat Amnesty International einen über 200 Seiten umfassenden Bericht veröffentlicht, in dem Israel bezichtigt wird, in den Palästinensergebieten ein Verbrechen gegen die Menschheit zu begehen – Apartheid. In dem Report heißt es, Israel übe gegenüber den Palästinensern sowohl in Israel selbst als auch in den besetzten Gebieten ein „System der Unterdrückung und Herrschaft“ aus. Dazu gehören die Beschlagnahmung von Grund und Boden, unrechtmäßige Tötungen sowie drastische Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. Man verwende den Begriff „Apartheid“ in seinem völkerrechtlichen Sinne. Können Sie – als Grüne, Völkerrechtlerin und Menschenrechtlerin – Apartheid rechtfertigen? 

Israelische Beamte verurteilten den Bericht als „Antisemitismus“. Amnesty International, das 1977 den Friedensnobelpreis erhielt, hat zuvor die israelische Politik im besetzten Westjordanland verurteilt. Auch hier sollten Sie sich zwar zurückhalten, aber andeuten, dass Sie den Bericht kennen.

Amnesty Deutschland hat den Bericht aus seiner website entfernt mit dem Hinweis auf die „besondere Verantwortung“ der deutschen Amnesty-Sektion wegen des Holocaust. Ich darf Ihnen versichern, sehr geehrte Frau Außenministerin, dass meine Großeltern, die in Auschwitz umgekommen sind, froh gewesen wären, wenn es damals schon eine solche Organisation wie Amnesty International gegeben hätte. Menschenrechte sind universal und es darf niemals einen Grund geben sie zu verschweigen oder zu ignorieren. In Israel haben aufrechte und mutige Demokraten schon längst festgestellt, dass Israels grausame Politik der Segregation, Enteignung und Ausgrenzung eindeutig Apartheid gleichkommt. Wenn Amnesty Deutschland sich nicht eindeutig solidarisiert mit Amnesty International, liegt es an der ideologischen Macht der Verleumdung, die trotz Gerichtsurteil unsere Gesellschaft weiterhin einschüchtert.

Lassen Sie sich nicht von Israels Außenminister Yair Lapid vortäuschen, dass Amnesty International sich auf „von Terrororganisationen verbreitete Lügen“ stützt und auch nicht vom Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, der die Veröffentlichung wieder wie üblich als „israelbezogenen Antisemitismus“ bezeichnete. Israels „Nationalstaatsgesetz“ von 2018 hebt ausdrücklich hervor, dass Israel „der Staat des jüdischen Volkes“ sei, keineswegs aller seiner Bürger. Eine analoge Klausel in einem europäischen Staat wäre ein Verstoß gegen das EU-Recht. Natürlich dürfen Sie die Israelis nicht schulmeistern, aber sie sollten wissen, dass in den israelischen Personalausweisen bis vor kurzem zwischen Juden und Araber unterschieden wurde. In meinem israelischen Personalausweis von 1968 steht: Leum–Jehudi, auf Deutsch: Nationalität-Jude. Bei den palästinensischen Israelis stand: Leum-Arawi, auf Deutsch: Nationalität-Araber. Das reicht wohl, um alle Proteste gegen den Amnesty-Bericht ad absurdum zu führen, zumal seit geraumer Zeit bekannt ist, dass 25 Prozent der US-amerikanischen Juden Israel für einen „Apartheidstaat“ halten. Sind das alles Antisemiten?

Hinsichtlich der von deutschen Stellen vorgebrachten heftigen Verurteilung der Verwendung des Begriffs „Apartheid“ im Amnesty-Bericht ist vielleicht wichtig zu erwähnen, dass Israel zuerst durch den südafrikanischen Premierminister Hendrik Verwoerd als Apartheid-Staat bezeichnet wurde: ‚Israel, like South Africa, is an apartheid state‘. Allerdings verstand Verwoerd dies nicht als Kritik, sondern als Kompliment. Verwoerd wusste jedenfalls, wovon er sprach.

Allgemein wird behauptet, Israel sei die einzige Demokratie im Nahen Osten. Demokratie allein ist jedoch nicht alles. Demokratie ohne Rechtstaatlichkeit, Moral und ein Grundgesetz wäre nur eine Diktatur der Mehrheit. Ein Grundgesetz wie es Deutschland besitzt hat Israel leider nicht. Daher meine Bitte:  sehen Sie die Verhältnisse so, wie sie sind und nicht durch die Schwaden des Holocaust, die das Verschweigen der palästinensischen Katastrophe von 1948, unterstützten. Was der Holocaust für die Juden ist, ist die Nakba für die Palästinenser.

Deutsche sind nicht völlig unschuldig an der Situation im Nahen-Osten. Deshalb ließe es sich durchaus rechtfertigen, wenn Deutschland sich für Israels Sicherheit verantwortlich fühlt, sie sogar zur „deutschen Staatsraison“ erklärt. Aber vergessen wir nicht auch taktvoll die Sicherheit der Palästinenser mit einzuschließen. Denn ohne Sicherheit für die Palästinenser, wird es auch keine Sicherheit für die Israelis geben.

Israelis und Palästinenser sind einer des anderen Spiegelbilds. Beide wollen das gesamte Land vom Jordan bis zum Mittelmeer an sich reißen. Da dies jedoch ausgeschlossen sei, müssen beide Parteien in der Realität aufwachen und ihre Träume begraben. Das tun heute viele Israelis und Palästinenser. Nicht mehr alle Israelis wollen das, auch wenn die führenden Parteien das noch in ihren Programmen haben. Und auch nicht alle Palästinenser wollen das; das gilt zwar für Hamas, aber nicht für die offizielle Politik der PLO.

Der Kern des Konflikts liegt darin, dass die Palästinenser die Teilung durch die UN-Resolution 1948 inzwischen akzeptiert haben, aber die Kontrolle über die 1967 von Israel eroberten Gebiete zurückhaben wollen und die Israelis nicht bereit sind sie zurückzugeben. Die Besatzung schnürt aber der Bevölkerung die Luft zum Atmen ab. Eine solche brutale und völkerrechtswidrige Politik kann nur früher oder später als Bumerang auf Israel zurückkommen. Als Freund sollte Deutschland aus eigene Erfahrung Israel davor warnen.

Es ist bekannt, dass Deutschland mit dieser Vergangenheit nicht in der Lage ist Israel Moral zu predigen. Aber andererseits darf Deutschland auch nicht schweigen angesichts der Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten. Deutschland sollte sich auch nicht ablenken lassen mit permanenten Hinweisen auf den Holocaust, insbesondere wenn sie dazu dienen israelische Verbrechen gegen das Völkerrecht zu verschweigen.

Deshalb bitte ich Sie, sich nicht mit dem Kürzel „BDS“ einschüchtern zu lassen. Die BDS-Kampagne ist eine palästinensische Volksbewegung, die nicht primär gegen Israel als Staat kämpft, sondern für Menschenrechte und die Freiheit der Palästinenser. Und lassen Sie sich nicht einreden, dass der Boykott israelischer Waren etwas zu tun hat mit dem antisemitischen Nazi-Slogan: Kauft nicht bei Juden. Es gibt inzwischen viele Juden überall auf der Welt, auch in Deutschland, die BDS unterstützen. Und die jüdisch-österreichische Schriftstellerin Eva Menasse nannte die Resolution des deutschen Bundestages: „Dieser Popanz von Resolution hat die letzten Reste von Vernunft zerstört.“ Lassen Sie sich nicht auch Ihre Vernunft zerstören.

Die gegenwärtige israelische „Siedlungspolitik“ auf der Westbank bedeutet faktisch Annexion und ist gleichzeitig Kolonisation, die auf die Zerstörung eines lebensfähigen palästinensischen Staates ausgerichtet ist. Im Koalitionsvertrag mit SPD und FDP haben auch die Grünen, auf Seite 155 festgehalten: „Wir fordern den Stopp des völkerrechtswidrigen Siedlungsbaus“. Darum geht es aber inzwischen nicht mehr. Nach Ansicht der meisten Experten existieren die Voraussetzungen für die von der Bundesregierung immer noch favorisierte Zweistaatenlösung schon seit geraumer Zeit nicht mehr. In der Region sprechen die Menschen heute von der Ein-Staat-Lösung. Sie erfüllt die maximalen Wünsche beider Seiten: Siedler können in Judäa und Samaria bleiben und sogar ausbauen, palästinensische Flüchtlinge können an ihre Heimatorte zurück, und Jerusalem wird gemeinsame Hauptstadt. Es wird ein Groß-Israel und ein Ganz-Palästina, mit gleichen Rechten für alle.

Sie könnten zukunftweisend dafür eintreten, dass es kein Apartheid-Staat wird. Indem Sie Palästina ernst nehmen, fördern sie die Menschenrechte der Palästinenser durch deren Anerkennung, auch wenn eine solche Anerkennung spät kommt.

Ich schreibe Ihnen nicht als Politiker, Jurist oder Völkerrechtler, weswegen ich Sie bitte, über technische Fehler hinwegzusehen. Ich schreibe als Bürger mit gewöhnlichem Menschenverstand. Ich gebe wieder was ich von allen Seiten höre. Menschenrechte sind universal und wenn Deutschland sich einsetzt für die Freiheit und Unabhängigkeit der Ukraine, dann sollte es sich auch einsetzen für die Freiheit und Unabhängigkeit der Palästinenser. Kein Volk der Welt möchte durch eine Armee, schon gar nicht von einer fremden Streitmacht beherrscht werden und die Palästinenser sind nicht weniger wert als Menschen eines jeden anderen Volks.

Ich schreibe Ihnen das als Deutscher, Jude und Israeli, der sich für die menschenverachtende Politik Israels schämt und immer Herzklopfen bekommt und rot wird, wenn Israel behauptet, dass es im Namen aller Juden spricht.

Abraham Melzer

Ein Gedanke zu „Annalena Baerbock reist nach Israel

  1. Klar und ueberzeugend, lieber Abi! Ob allerdings Frau Baerbock das intellektuelle und politische standing und den Mut hat, sich Deine Ueberlegungen zu eigen zu machen, muss ich leider bezweifeln! Sie wird eher die unsägliche Politik der Vorgänger-Regierung fortsetzen. Wir aber muessen auch weiterhin Druck machen, dass sich etwas ändert. Es gibt inzwischen viele Anzeichen dafuer, dass politische Feigheit, Verlogenheit und interessengeleitetes Spiel mit Völkerrecht an ihre Grenzen kommen.
    Hermann Dierkes, ehem. Mitglied des Rates der Stadt Duisburg und Stadtältester

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