Es werden mehr israelische Soldaten sterben, wenn es nicht sofort zum Waffenstillstand kommt

Von Abraham Melzer, 19.11.2023

Franz Fanon hat in seinem Buch „Die Verdammten dieser Erde“ solche Gewalt wie am 7. Oktober 2023 vorausgesehen. Zu den Unterdrückten und kolonisierten, die er in seinem Buch beschreibt, gehören auch die Palästinenser. Weil Greta Thunberg Empathie für diese Elenden und Unterdrückten hat, wirft der Spiegel ihr vor, sie würde jüdisches Leid missachten. Missachtet denn jemand, der jüdisches Leid sieht zwangsläufig palästinensisches Leid? Nein. Ist Grete deshalb eine Antisemitin, wie es der Spiegel suggeriert? Nein. Unsere Moral und unsere Erziehung zu Gerechtigkeit fordern von uns das Leid derjenigen zu sehen und die Stimme derjenigen zu hören, die unterdrückt werden und für Frieden und Gerechtigkeit kämpfen.
Ich habe in ihrem langen Artikel nirgends gelesen, dass Greta Thunberg mit der Hamas sympathisiert oder auch nur mit einem Satz die bestialischen Taten der Hamas entschuldigte oder rechtfertigte. Für sie und viele aus der Umweltbewegung war die Brutalität des Hamas-Angriffs vom 7.Oktober unvorstellbar, ebenso wie das Ausmaß und die Grausamkeit der israelischen Vergeltungsmaßnahmen. Aber die Palästinenser sind seit Generationen einer ständigen unvorstellbaren Gewalt ausgesetzt, ebenso wie einer schleichenden Annexion ihres Landes durch Israel und israelische Siedler. Diese Tatsachen werden in der Debatte um den Nahost-Konflikt ständig ausgeblendet, so, als ob die Angriffe vom 7. Oktober völlig willkürlich gewesen wären. Es interessiert offensichtlich auch niemanden, dass im Gazastreifen etwa zwei Drittel der Bevölkerung Flüchtlinge sind.
Wenn Greta Thunberg die Lage der Palästinenser anspricht, und nicht Antisemitismus predigt, zeigt sie nicht zwangsläufig, dass ihr Blick auf Israel kalt und distanziert ist. Sie kann Mitleid empfinden mit Palästinenser und gleichzeitig auch mit den jüdischen Opfern des Überfalls. Es ist ja nicht verboten mit beiden Seiten des Konflikts Mitleid zu haben. Und ihr vorzuwerfen, dass sie die „Klima-Bühne“ für eigene Zwecke benutzt bzw. missbraucht ist zynisch und verwerflich. Denn dann müsste man auch Joseph Schuster und Benjamin Netanjahu vorwerfen, dass sie den Holocaust für eigene Propaganda benutzen.
In Deutschland reagieren viele reflexartig, wenn es um Israel geht. Sie unterstützen „bedingungslos“ Israel und die Juden, aus Angst, dass jede Kritik an Israel, ein Zeichen von Antisemitismus sein könnte. Wenn man die palästinensische Seite unterstützt oder nur Verständnis für sie hat, ist man ein Antisemit. Und wenn man es so tut wie ich, dann wird man von einer Charlotte Knobloch beleidigt und diffamiert man sei ein „Berüchtigter Antisemit“, obwohl ich Jude und Israeli bin, der sogar in der israelischen Armee gedient hat.
Man wirf Greta und anderen kritischen Zeitgenossen, sie würde Israel vernichten wollen, wenn sie „Free Palestine from the River to the Sea“ skandieren. Dabei steht in der Gründungscharta von Benjamin Netanjahus Likud und früher auch in Menachem Begins Herut-Partei: „Israel – zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan-Fluss.“ Ist das nicht dasselbe? Nicht ganz. Während die Israelis ein ethnisch rein jüdisches Land wollen, meinen die Palästinenser Freiheit und Unabhängigkeit für alle.
Für viele, besonders in Deutschland, beginnt die Gewalt am 7. Oktober. Aber die Gewalt zwischen Juden und Palästinenser hat eine lange Geschichte. Diese Geschichte wird in Jahrzehnten, nicht in wenigen Wochen gemessen. Es handelt sich nicht um eine einzige, wenn auch bestialische, Terrortat, sondern um eine lange Liste von Zerstörung, Rache, Trauma. Seit der Nakbah 1948. Hunderte palästinensische Dörfer sind von der Landkarte getilgt worden und auf deren Ruinen sind israelische Kibbuzim und Städte gebaut worden. Und während das moderne Israel entstanden ist, wurden die im Land übriggebliebenen unterdrückt und unter Militärverwaltung unterstellt.
Dann wurde auch die Westbank erobert und seit Jahrzehnten leiden die Palästinenser unter militärischer Besatzung und militärischer Gerichtsbarkeit. Die Kriege von 1967 und 1973 haben nochmals die Geografie des Gebietes zugunsten Israels geformt und die Palästinenser zu Fremden in ihrem eigenen Land gemacht, zu Staatenlosen. Im Gazastreifen, der oft als das größte „Freiluftgefängnis der Welt“ bezeichnet wird, ist es den Palästinensern untersagt das Gebiet zu verlassen oder zu betreten.
Alle diese Tatsachen wurden in der Diskussion um den Krieg zwischen Israel und der Hamas weitgehend ausgeblendet, so als ob der Angriff vom 7. Oktober, wie es UN-Generalsekretär Guterres gesagt hat, in einem luftleeren Raum stattgefunden hat.
Seit Gründung des Staates Israel sind die Palästinenser Bürger zweiter Klasse – wenn sie überhaupt als Bürger angesehen werden und nicht als die fünfte Kolonne. Nach israelischem Recht haben die Palästinenser nicht das Recht auf nationale Selbstbestimmung. Jüdische Einwanderer haben dieses Recht vom ersten Tag ihrer Ankunft im Land. Palästinenser genießen nicht das Recht auf Freizügigkeit und dürfen nicht überall wohnen. Sie besitzen besondere Ausweise und dürfen nicht Verwandte und Freunde in anderen Ländern ohne weiteres besuchen. Und vom „Rückkehrrecht“, dass jüdischen Einwanderer zustehen, auch wenn ihre Familien niemals in Israel oder Palästina gelebt haben, es sei denn vor mehr als zweitausend Jahren, können die 1948 vertriebenen Palästinenser nicht einmal träumen.
Die Gewalttat vom 7. Oktober war grausam und schrecklich. Aber, wie schon gesagt, sie fand nicht in einem Vakuum statt. Die totale Kontrolle des täglichen Lebens, die gewaltsamen nächtlichen Razzien, die Verhaftung von Jugendlichen und der Bau illegaler israelischer Siedlungen bilden den Hintergrund für diesen Ausbruch, den ich keineswegs toleriere. Leider ignoriert die israelische Gesellschaft aber auch der gesamte Westen diese historisch belegbaren Tatsachen.
Im Laufe der ganzen Zeit seit Gründung des Staates Israel haben die verschiedenen israelischen Regierungen sehr deutlich gemacht, dass sie an Frieden nicht interessiert sind, dass ein separater, souveräner, palästinensischer Staat nicht auf dem Verhandlungstisch liegt und dass sie überhaupt kein Interesse haben, dass es eines Tages dort liegen soll. Der Status quo der endlosen Besatzung – und die regelmäßigen Zyklen der Gewalt – haben sich derart normalisiert, dass Benjamin Netanjahu zuletzt gemeint hat, dass es reicht „den Konflikt zu verwalten“. Die internationale Gemeinschaft hat es geduldet und war nicht willens oder in der Lage die israelische Regierung bzw. Regierungen zur Verantwortung zu ziehen.
Die Anschläge vom 7. Oktober haben aber diesen Zustand durchbrochen. Die Unmöglichkeit den Konflikt zu „verwalten“, wurde allen sichtbar, ebenso wie die Unmöglichkeit zwei Völker zu regieren und eines davon zu privilegieren mit vollen Bürgerrechten und den anderen zu benachteiligen durch den Entzug solcher Rechte.
Was nun? Jede Art von gemeinsamer Zukunft ist noch weiter entfernt als noch vor einem Monat. Es liegen dunkle Zeiten vor uns. Wenn man den „Frieden“ vor dieser radikalen Tat beschwört, dann galt dieser Frieden, wenn überhaupt, nur für die Israelis, die frei waren überall hin zu reisen und wo sie nur begehrten zu wohnen, abgesehen von allen anderen Freiheiten, die sie genossen, zuletzt die Demonstrationen gegen Netanjahu. Für die Palästinenser gab es seit 1948 keinen Frieden. Diejenigen, die im späteren Israel geblieben sind, lebten bis 1956 unter Militärverwaltung. Sie durften ohne Erlaubnis seitens des Militärs ihre Dörfer nicht verlassen und wurde beschossen, wenn sie demonstriert haben.
Schon Anfang der 50er Jahre sagte die jüdische Philosophin Hannah Arendt, dass es in Palästina bzw. Israel zu Jahrzehnten langer Gewalt kommen würde, weil Ben-Gurion auf eine jüdische Souveränität beharrte. Und der israelische Religionsphilosoph Leibovitz sagte 1967, unmittelbar nach dem Sieg im Sechstage Krieg, dass Israel am siebten Tag den Krieg verloren hat, weil es sich entschlossen hatte die eroberten Gebiete zu behalten.
Wenn man heute, nachdem man diesen und andere Fehler gemacht hat und es wäre zynisch und falsch auf die Palästinenser zu zeigen, die damit nicht einverstanden waren, fragt, wie man aus diesem Teufelskreis herauskommt, dann gibt es nur eine Antwort: Das Ende der Besatzung und einen gerechten Weg zur Anerkennung des palästinensischen Rechts auf einen eigenen Staat. Aber Israel und jüdische Zionisten wie Josef Schuster und andere müssen endlich auch aufhören den Vorwurf des Antisemitismus zu instrumentalisieren, um eine Zensur bei dem Diskurs über den Nahost-Konflikt zu erzwingen. Der Konflikt hat mit Antisemitismus nicht das Geringste zu tun. Es ist ein Konflikt um Land, Freiheit, Unabhängigkeit und Frieden. Die Palästinenser hassen nicht die Juden, sondern ihre Unterdrücker. Und wenn diese Eskimos wären, dann würden sie die Eskimos hassen. Aber es sind nicht die Eskimos, die Gaza platt machen und tausende von Kindern und Erwachsene töten.
Das Morden in Gaza muss aufhören. Es reicht. Fast alle Menschen verurteilen das, was die israelische Armee als Krieg gegen die Hamas nennt. Es ist aber eine Strafaktion, die von hasserfüllten, fanatischen israelischen Politikern inszeniert wurde und wird. Manche nennen es „Völkermord“, denn es entspricht der Definition der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen. Dort heiß es: …Handlungen in der Absicht eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten.“ Massentötungen von Zivilisten sind ein Mittel, mit dem Völkermord begangen wird.
Ich bin aber auch der Meinung, dass die Hamas benannt und für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden muss, auch wenn ich der Meinung bin, dass ein unterdrücktes Volk sich wehren darf gegen seine Unterdrücker, und das ist nicht immer „Terrorismus“. Wir dürfen nicht vergessen, dass zB die Engländer, als sie das Mandat des Völkerbunds für Palästina hatten, Politiker wie Begin und Organisationen wie den „Irgun“ oder „Lechi“ auch als Terroristen bezeichnet haben. Und die Mau-Mau Gruppe, die für die Unabhängigkeit Kenjas gekämpft hat und grausame Massaker verübte, wurde selbstverständlich auch als Terroristen benannt. Aber kaum war der Krieg 1963 beendet und Jomo Kenyata, der „berüchtigte Terrorist“ zum Ministerpräsidenten gewählt, wurde er in London von der Königin mit allen Ehren empfangen.
Das Ende der Besatzung wird sicherlich dazu beitragen der Gewalt ein Ende zu setzen, auch wenn ich Kenya und England nicht vergleichen möchte mit Israel und die Hamas. Der Frieden aber muss von der Bevölkerung kommen. Von der israelischen Bevölkerung zuerst. Gideon Levy, der legendäre Journalist und Kritiker der israelischen Politik, sagte dem Spiegel auf die Frage nach der Zukunft Israels: Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Krieg (mit der Hamas) zu etwas Gutem führt. Ich habe immer gedacht, dass es erst extrem schlecht werden muss, bevor es gut wird. Dass Israel einen Weckruf braucht, um endlich eine echte Lösung zu finden.“ Auch ich war dieser Meinung. Aber es scheint, als ob der 7. Oktober noch nicht ein „extrem“ schlechter Tag war. Es muss wohl noch schlechter kommen, damit die rechten, messianischen und gewaltverherrlichenden Kräfte in Israel und vor allem in der Regierung Israels, kapieren, dass Gewalt nicht die Lösung ist. Und wenn sie es nicht kapieren wollen oder können, dann muss man sie entweder ins Gefängnis stecken oder aus dem Land vertreiben.
Antisemitismus ist Rassismus und davon gibt es in Israel mehr als genug. Dahinter verbirgt sich eine Haltung vieler Israelis, die schon seit Jahren andauert. Diesen Hass gegenüber den Palästinensern gab es schon immer, seit der Staatsgründung. Ich habe es schon im Kindergarten erlebt und gelernt. Aber nun kam dieser barbarische Angriff und gab all dem Hass, dem Rassismus und der Gewalt, die schon immer da waren, noch mehr Munition. Der Krieg in Gaza hat mit Israels Sicherheit nichts zu tun. Es ist pure Rache, die mit Verachtung und Hass getränkt ist. Gideon Levy sagt: „Man kann heute eine Waffe nehmen, die vom Polizeiminister Ben Gvir sogar umsonst verteilt wird, ins Westjordanland gehen, einen Hirten töten, und niemand wird das groß untersuchen“ geschweige denn bestrafen. Es werden aber immer mehr israelische Soldaten sterben, und die Lage wird noch aggressiver werden, wenn es nicht sofort zum Waffenstillstand kommt.
„Frieden, Frieden und es gibt keinen Frieden“ proklamierte schon vor mehr als 2500 Jahren der Prophet Jeremias. Es gibt wohl keine Flecken auf dieser Erde, der mit mehr Blut getränkt ist als der Nahe-Osten. Liest man die Bibel dann liest man von unzähligen Kriegen, Eroberungen, Gewalt und Hass. Hat Moses nicht seinen Kriegern befohlen das Volk der Amalekiter von der Erde zu vertilgen? Die Israelis begrüßen sich täglich mit „Shalom“ und die Araber mit „Salam“ und es gibt keinen Frieden zwischen ihnen. Die Weltgeschichte erzählt mehr von Kriegen als vom Frieden. Und Frieden gehört in das Reich der Märchen.

DIESER KRIEG BEGANN NICHT VOR EINEM MONAT

von Dalia Hatuqa

Dalia Hatuqa ist eine unabhängige Journalistin, die sich auf Palästina und Israel spezialisiert hat. Diesen Artikel hat sie in Ramalllah, Westjordanland, geschrieben.

Seit einem Monat ist das normale Leben in Ramallah – einer Stadt im Westjordanland, die normalerweise für ihre junge Bevölkerung und ihr pulsierendes Nachtleben bekannt ist – zum Stillstand gekommen.
Seit den tödlichen Angriffen der Hamas am 7. Oktober haben die israelischen Streitkräfte zahlreiche Razzien im Westjordanland durchgeführt und Menschen aus allen Gesellschaftsschichten verhaftet: Studenten, Aktivisten, Journalisten und sogar Personen, die im Internet zur Unterstützung des Gazastreifens posten. Luft- und Drohnenangriffe haben Häuser und Straßen zerstört, zahlreiche Flüchtlingslager ins Visier genommen und die Al-Ansar-Moschee fast dem Erdboden gleichgemacht. Letzten Monat zerstörten die israelischen Streitkräfte die Gedenkstätte für die Al Jazeera-Journalistin Shireen Abu Akleh an der Stelle, an der sie vor mehr als einem Jahr bei einer Reportage getötet wurde.

In der Zwischenzeit hat ein Siedlungsrat Hunderte von Sturmgewehren an zivile Gruppen in Siedlungen im nördlichen Westjordanland verteilt. Dies ist Teil einer größeren Anstrengung des Ministers für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir, der selbst ein Siedler ist, zivile Gruppen nach den Anschlägen vom 7. Oktober zu bewaffnen. Bislang hat das Ministerium 10.000 Sturmgewehre für solche Teams im ganzen Land gekauft. Dies ist Teil der eskalierenden Gewalt, die seit dem 7. Oktober mehr als 130 Palästinenser im Westjordanland getötet hat.
Für die Palästinenser ist diese Art von systematischer Gewalt nichts Neues.
Für viele innerhalb und außerhalb dieses Krieges war die Brutalität der Hamas-Angriffe vom 7. Oktober unvorstellbar, ebenso wie das Ausmaß und die Grausamkeit der israelischen Vergeltungsmaßnahmen. Aber die Palästinenser sind seit Generationen einem ständigen Strom unvorstellbarer Gewalt ausgesetzt – ebenso wie der schleichenden Annexion ihres Landes durch Israel und israelische Siedler.

Wenn die Menschen diesen jüngsten Konflikt verstehen und einen Weg in die Zukunft für alle sehen wollen, müssen wir ehrlicher, nuancierter und umfassender über die jüngsten Jahrzehnte der Geschichte in Gaza, Israel und dem Westjordanland sprechen, insbesondere über die Auswirkungen von Besatzung und Gewalt auf die Palästinenser. Diese Geschichte wird in Jahrzehnten, nicht in Wochen gemessen; es handelt sich nicht um einen einzigen Krieg, sondern um ein Kontinuum von Zerstörung, Rache und Trauma.
Seit der Nakba von 1948 – bei der ganze palästinensische Dörfer von der Landkarte getilgt und der moderne Staat Israel gegründet wurde – haben die Palästinenser eine Unterdrückung erduldet, die ihr tägliches Leben bestimmt hat. Seit Jahrzehnten leiden wir unter der militärischen Besatzung Israels sowie unter einer Reihe von tödlichen Invasionen und Kriegen. Die Kriege von 1967 und 1973 haben dazu beigetragen, die moderne Geografie und Geopolitik des Gebiets zu formen, in dem Millionen von weitgehend staatenlosen Palästinensern zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland aufgeteilt sind. Im Gazastreifen, der oft als das größte Freiluftgefängnis der Welt bezeichnet wird, ist es den Palästinensern untersagt, das Gebiet zu betreten oder zu verlassen, es sei denn, dies geschieht unter äußerst seltenen Umständen.

Diese Geschichte wurde in der Diskussion um den Krieg zwischen Israel und Hamas weitgehend ausgeblendet, so als ob die Angriffe vom 7. Oktober völlig willkürlich gewesen wären. Die Wahrheit ist, dass die Palästinenser selbst in Zeiten relativen Friedens in Israel Bürger zweiter Klasse sind – wenn sie überhaupt als Bürger angesehen werden. Nach israelischem Recht haben Palästinenser nicht das Recht auf nationale Selbstbestimmung, das jüdischen Bürgern des Staates vorbehalten ist. Eine Vielzahl von Gesetzen schränkt das Recht der Palästinenser auf Freizügigkeit ein und regelt alles, von der Frage, wo sie wohnen dürfen, über die Frage, welche persönlichen Ausweise sie führen dürfen, bis hin zu der Frage, ob sie Familienangehörige in anderen Ländern besuchen dürfen oder nicht.
Das „Rückkehrrecht“ – das Recht der Palästinenser und ihrer Nachkommen, in die Dörfer zurückzukehren, aus denen sie während des Krieges von 1948 ethnisch gesäubert wurden – ist für viele Palästinenser von zentraler Bedeutung, da so viele von ihnen rechtlich gesehen immer noch Flüchtlinge sind. Im Gazastreifen zum Beispiel sind etwa zwei Drittel der Bevölkerung Flüchtlinge. Dieser Status ist keine abstrakte Größe, sondern bestimmt alles, vom Wohnort bis hin zu den Schulen und Ärzten, die sie besuchen.
Viele Bewohner des Gazastreifens haben Eltern und Großeltern, die nur wenige Kilometer von dem Ort entfernt aufgewachsen sind, an dem sie jetzt leben, in Gebieten, die sie natürlich nicht mehr betreten dürfen. Sie erinnern sich noch gut an ihre Kindheit oder Jugend, als sie durch Zitrushaine in Yaffa oder Olivenfelder in Qumya spazierten – letzteres wurde, wie viele Dörfer, deren Bewohner während des Krieges von 1948 nach Gaza vertrieben wurden, später in einen Kibbuz umgewandelt.

In den letzten 75 Jahren gab es Zeiten, in denen die Zusammenarbeit zwischen Israelis und Palästinensern zunahm. Diesen Zeiten gingen jedoch in der Regel Zeiten verstärkter Konflikte voraus, wie die erste und zweite Intifada oder Volksaufstände. Die Intifadas, in denen die Palästinenser im Westjordanland in großem Stil Widerstand leisteten, mal zivil, mal gewaltsam, werden von den westlichen Medien oft als willkürliche oder wahllose Ausbrüche mörderischer Grausamkeit dargestellt – wie im Fall der Anschläge vom 7. Oktober. Diese Gewalttaten fanden jedoch nicht in einem Vakuum statt. Die schwierigen Bedingungen in den palästinensischen Gemeinden – einschließlich der immer strengeren Kontrolle des täglichen Lebens durch gewaltsame nächtliche Razzien, Verhaftungen, militärische Kontrollpunkte und den Bau illegaler israelischer Siedlungen – bildeten den Hintergrund für diese Ausbrüche. Leider scheinen diese Gewalttaten aus historischer Sicht das Einzige zu sein, was die Palästinenser politisch bewegt hat.
Der Tod und die Zerstörung, die wir Palästinenser kollektiv miterlebt und ertragen haben, haben unser Generationstrauma verlängert. Schon vor diesem Konflikt waren PTBS und Depressionen in den palästinensischen Haushalten weit verbreitet. Als junge Bevölkerung sind die Kinder die Hauptleidtragenden der israelischen Militärherrschaft: Viele werden nachts aus ihren Betten oder aus den Armen ihrer Mütter gerissen, geschlagen und inhaftiert, nachdem sie willkürlich vor Militärgerichte gestellt wurden. Andere werden erschossen und gelähmt, wenn nicht gar getötet.

In Gaza haben diese Opfer praktisch keine rechtliche Möglichkeit, sich an den israelischen Staat zu wenden. Während der 16-jährigen Belagerung des Gazastreifens haben die israelischen Behörden den Zugang zu Elektrizität, Lebensmitteln und Wasser kontrolliert und zu einem bestimmten Zeitpunkt die Anzahl der Kalorien festgelegt, die die Bewohner des Gazastreifens zu sich nehmen durften, bevor sie in die Unterernährung rutschten. Sie haben auch zugelassen, dass der Gazastreifen und die besetzten Gebiete als Testgelände für Israels gepriesene Sicherheitstechnologiefirmen dienen. Viele Menschen aus dem Gazastreifen haben die gefährliche Reise über das Mittelmeer gewagt, nur um auf dem Weg dorthin zu sterben.
Da der Gazastreifen seit 16 Jahren abgeriegelt ist und das Westjordanland durch die Gewalt der Siedler und der Armee weitgehend unter Kontrolle gehalten wird, konnte Israel seine Besetzung auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten. Die periodischen Gewaltausbrüche – wie gelegentliche Angriffe kleiner Gruppen oder Einzelkämpfer und Raketenbeschuss – untermauern die Rechtfertigung des Staates für die langfristige Kontrolle der Palästinenser und des palästinensischen Landes.

Im Laufe der Jahre haben Premierminister Benjamin Netanjahu und seine Berater sehr deutlich gemacht, dass ein separater, souveräner palästinensischer Staat nicht auf dem Verhandlungstisch liegt. Ebenso wenig wie die Möglichkeit, den Palästinensern die Rechte einzuräumen, die Israelis genießen. Der Status quo der endlosen Besatzung – und die regelmäßigen Zyklen der Gewalt – haben sich also normalisiert, und die internationale Gemeinschaft scheint nicht willens oder in der Lage zu sein, die israelische Regierung zur Verantwortung zu ziehen.
Die Anschläge vom 7. Oktober haben diesen Zustand durchbrochen. Die Unhaltbarkeit der Besatzung wurde für alle sichtbar, ebenso wie die Unmöglichkeit, zwei Völker zu regieren, ohne eines von ihnen gegenüber dem anderen zu privilegieren.

Es liegen dunkle Zeiten vor uns – so viel wissen wir. Da wir Kriege, Invasionen und Bombardierungen miterlebt haben, haben wir uns auf das Schlimmste eingestellt. Im Westjordanland ist die Moral auf den ruhigen Straßen niedrig. Arabische Satellitennachrichtensender, die rund um die Uhr senden, untermalen das tägliche Leben mit einer dröhnenden, allgegenwärtigen Geräuschkulisse. Sie zeigen einen ständigen Strom schrecklicher Bilder und Videos: alle schockierend, aber nicht beispiellos.
Ein Gefühl der Hilflosigkeit durchdringt die Städte und Dörfer des Westjordanlandes, während wir zusehen, wie immer mehr palästinensische Mitbürger – nach Angaben des Gesundheitsministeriums im Gazastreifen inzwischen mehr als 11.100 – ihr Leben verlieren. Israelische Beamte haben vorgeschlagen, die Bevölkerung des Gazastreifens in die ägyptische Sinai-Wüste zu drängen, was sie doppelt und dreifach zu Flüchtlingen machen und das israelische Siedlerprojekt vielleicht in eine neue, noch expansivere Phase führen würde. Im Westjordanland schauen wir uns um und fragen uns: Könnte das auch hier passieren? Passiert es bereits?

Jede Art von gemeinsamer Zukunft ist höchstwahrscheinlich noch weiter entfernt als noch vor einem Monat. Aber das wussten die Palästinenser bereits. Galt der Tag vor den Angriffen der Hamas als „Frieden“? Für die Israelis vielleicht schon, für die Palästinenser aber nicht.

(Geöffneter) Brief an Markus Lanz und Dr. Himmler Von Abi Melzer

Sehr geehrter Herr Markus Lanz,
sehr geehrter Herr Dr. Norbert Himmler

ich bin immer ein Fan von Markus Lanz´ Talkshows gewesen. Ich fand auch Genugtuung, dass Sie für die Sendung vom 15.11.2023 eine Person wie Frau Khala Maryam Hübsch eingeladen haben, die ich seit Jahren kenne. Ich war mit ihrem Vater befreundet., und ich schätze sie für ihre Klugheit und Besonnenheit. Auch die Teilnahme von Yazan Abo Rhamie war ein Gewinn, auch wenn er zu wichtigen politischen Fragen keine gleichgewichtigen Argumente zu Frau Hübsch vortragen konnte.
In Ihrer ersten Sendung nach dem 7.10. saß Melony Sucharewicz an Ihrem Table. Sie versuchte, ohne auf irgendeinen Widerspruch zu stoßen, die deutsche Öffentlichkeit auf erwartete Kriegsverbrechen im entstehenden Gaza-Krieg einzuschwören. Sie forderte zur Einschränkung der Meinungsfreiheit auf. Demonstrationen gegen „Zionismus“ sollen nicht mehr gestattet werden. Wahrheitswidrig behauptete sie, die Hamas habe angedroht, auf Bombardierung von Häusern mit der Tötung von entführten israelischen Zivilisten zu antworten. Die Hamas hatte solches für den Fall angekündigte, wenn Häuser ohne Vorwarnung bombardiert werden würden.
In der Folge gab es eine Sendung mit Michael Wolffsohn, der unwidersprochen sagen konnte, die Palästinenser hätten „auf dem Silbertablett präsentierte Friedenslösungen immer wieder abgelehnt“ usw. Sie, Herr Lanz und Herr Himmler, saßen da wie ein Schuljunge im Frontalunterricht. In Wirklichkeit hat Israel jede Chance vorrübergehen lassen, die zu einem Frieden hätte führen können.
Verglichen mit den beiden Sendungen war die gestrige ein Fortschritt, obwohl Frau Hübsch leider nicht hart genug gegen Ihre feindselige Art der Moderation opponierte. Ich greife als Beispiel die Diskussion zum Begriff „Apartheid“ auf: Natürlich besteht im traditionellen Staatsgebiet Israels keine Apartheid. Trotzdem lässt es sich nicht verschleiern, dass die palästinensischen Staatsangehörigen auf allen Gebieten benachteiligt sind. Frau Hübsch sprach aber von den sog. „Besetzten Gebieten“, in denen für die indigene Bevölkerung Militärrecht gilt, aber israelisches Recht für die Juden der Siedlungen wie im israelischen Kernland. Sie meinte auch, dass es in diesen besetzten Gebieten getrennte Straßen für Juden und Palästinenser gäbe und vieles mehr. Diesen Zustand bezeichnen viele Organisationen und Experten als Apartheid. Ihre Aufregung, Herr Lanz, war nutzlos und unnötig.
In letzter Zeit empfinde ich die Art und Weise, wie Sie ihre Gäste befragen, wie Sie sie regelrecht attackieren, beleidigen und diskreditieren, als sehr befremdet und zuweilen als unerträglich.
Gerade die Sendung vom 15.11.2023 fand ich als ausgesprochen skandalös. Wir als Zuhörer wollen schließlich die Meinungen der Gäste erfahren, auch wenn diese zwischen langweilig und empörend oszillieren. Wir möchten aber nicht lange und aggressive Einschübe von Herrn Lanz anhören und zusehen müssen, wie er seine Gäste kränkt und herabsetzt. Die Art und Weise, wie er gestern z. B. Frau Khala Maryam Hübsch angegriffen hat, war kaum auszuhalten. Dabei war sie die Einzige, die zur Sache vernünftige Ansichten hatte, zusammen mit dem jungen Palästinenser Yazan Abo Rahmie.
Sie dürfen doch nicht Frau Hübsch derart aggressiv und besserwisserisch fragen, ob sie schon mal in Gaza gewesen sei. Das hätte doch über ihre Qualität und zur Richtigkeit Ihrer Meinung nichts ausgesagt. Niemand braucht in Gaza gewesen zu sein, um zu wissen, was dort derzeit abläuft. Die Medien berichten hierzu überaus anschaulich. Unsere Massenmedien halten uns minütlich und beinahe jede Sekunde auf dem Laufenden. Es ist auch nicht von elementarer Bedeutung, ob „nur“ 9000, 10000 oder 11000 Menschen von der israelischen Armee getötet wurden. Warum bestanden Sie so hartnäckig darauf, dass man den Zahlen der Hamas nicht vertrauen könne, so dass man zuweilen den Eindruck bekam, Sie stünden im Sold der israelischen „Hasbara“. Dabei hatten uns die früheren Gaza-Kriege, die auch nur Kriege in Anführungszeichen, in Wirklichkeit jedoch brutale Strafaktionen Israels waren, schon gezeigt, dass die Zahlen der Hamas stets mehr oder weniger mit den Zahlen der UNO oder anderer Organisationen übereingestimmt haben. Sie haben den Eindruck erweckt, dass Frau Hübsch leichtgläubig die Zahlen der Hamas wiedergäbe. Hat es denn überhaupt eine Bedeutung ob 5000 Kinder getötet wurden oder „nur“ 3000? Und als Höhepunkt der Arroganz und Beleidigung haben Sie noch behauptet, dass Sie in Gaza waren. Damit wollten Sie den Eindruck erwecken, dass Sie es besser wüssten. Da möchte ich von Ihnen erfahren: Wie lange? Wie viele Tage oder besser wie viele Stunden? Und, weil Sie mal als Reporter durch Gaza gefahren sind, wollen Sie glauben, dass Sie besser wissen, was in Gaza los ist?
Ich war vor 40 Jahren auch in Gaza, als man noch unbefangen und furchtlos durch Gaza fahren konnte. Dennoch würde ich nicht behaupten, Gaza zu kennen. Sie sollten Ihre persönlichen Eindrücke bescheidener ausschlachten und nicht den Eindruck erwecken, dass man Gaza mit seiner Struktur und seinen Flüchtlingslagern nach einem Tagestrip kennen würde.
Frau Hübsch hat absolut zu Recht die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen verlangt. Das müsste jedem halbwegs vernünftigen Menschen einleuchten. Ganz besonders müssten sich die Freunde Israels dieser Forderung anschließen. Ich halte es deshalb für unaufrichtig und zynisch, wenn unsere Politiker behaupten, dass sie Freunde Israels seien und gleichzeitig die Israelis ermuntern, den Krieg mit der Tötung von Kindern fortzuführen. Fühlen sich die Deutschen dann weniger schuldig, wenn sie Juden verführt haben, in der Panik eines Krieges Frauen und Kinder getötet zu haben?
Die Freunde Israels stimmen einer gefährlichen militärischen Doktrin zu, die unverzeihliche Fakten schafft, die einem irgendwann gewollten Frieden im Wege stehen werden. Frieden schließen nicht Freunde. Frieden müssen Feinde machen. Aber das sinnlose Töten von Zivilisten kann doch nur immer neue Feinde und immer neue „Terroristen“ hervorbringen. Das zeigen uns die Kriege seit 1948 wieder und wieder sehr anschaulich. Die Kinder von heute, die zusehen müssen, wie ihre Familien „ermordet“ werden, müssen geradezu die „Freiheitskämpfer“ von morgen sein wollen. Sie werden von Generation zu Generation radikaler, brutaler und unversöhnlicher. Unverständlich? Wenn man Menschen keine Hoffnung lässt, wenn sie als Kinder schon wissen, wie ihr elendes Leben ablaufen wird, dann soll und darf man sich nicht wundern, wenn aus ihnen „Freiheitskämpfer“ werden. Mögen sie von Israel und von den meisten westlichen Staaten als Terroristen bezeichnet werden, es ändert nichts. Sie sind genauso wenig Terroristen wie es die Kämpfer des Vietcongs waren, die ebenfalls für ihre Freiheit kämpften.
Leider wird in unserer Gesellschaft zu ungenau, leichtsinnig und falsch mit den Begriffen „Terrorist“ oder „Antisemit“ umgegangen. Für mich war der Überfall vom 11. September 2001 ein Terrorakt. Es wurden Menschen ermordet, die mit dem, was die Terroristen bekämpfen wollten, nichts zu tun hatten. So war es auch mit vielen anderen Anschlägen, die unschuldige Zivilisten getroffen haben. Im Nahost-Konflikt handelt es sich immer eine Stufe weniger um Terror, weil die Gewalt zum Dauerzustand geworden ist. Von Antisemitismus lässt sich im Nah-Ost-Konflikt auch nicht sprechen. Es ist kein religiöser Konflikt, in dem fanatisierte Gläubige sich gegenseitig ermorden. Es ist zum einen ein Konflikt um Land, zum anderen ein Kampf um Recht und Gerechtigkeit. Wenn die Methoden der Hamas den Israelis und der ganzen Welt missfallen, was absolut gesehen verständlich und berechtigt ist, dann sollte man aber auch berücksichtigen, dass eine brutale Gewalt der israelischen Armee die Brutalität der anderen Seite mitsteigern lässt. Eine schutzlose Bevölkerung mit 1000 Kg Bomben zu attackieren und ungezielt zu töten muss immer neue Kampfmethoden provozieren. Und das geschieht nicht erst seit dem 7. Oktober, sondern schon seit ewigen Zeiten, mindestens aber seit dem Vertreibungskrieg von 1948. Es muss auch langsam Schluss sein mit dem manipulierenden Geschwätz über Antisemitismus. Die Palästinenser sind keine Antisemiten. Sie kämpfen nicht gegen „Juden“, sondern gegen eine Gesellschaft, die sie vertrieben, und die ihnen bitteres Unrecht zugefügt hat. Diese Menschen würden um ihr Recht und um ihre Menschwürde genauso kämpfen, wenn die Israelis keine Juden wären. Sie haben auch schon gegen die Türken gekämpft, gegen die Briten und in früheren Zeiten gegen die Kreuzritter. Wenn man noch tiefer in die Geschichte zurückbohren möchte, dann haben sie schon gegen die Griechen, Römer und andere Eroberer gekämpft. Sie kämpfen also nur in unserer Zeit gegen Juden, die für sie aber ihre israelischen Feinde sind. Der Konflikt kommt doch nicht aus dem Nichts. Der Konflikt findet nicht, wie es UN-Generalsekretär Guterres gesagt hat, in einem luftleeren Raum.
Langer Rede kurzer Sinn: Ich wünschte die Talkshows beim ZDF würden alle Seiten zu Wort kommen lassen. Statt einer türkisch-deutschen CDU-Politikerin, die Israel mit einer Leidenschaft verteidigt, dass es mir als Israeli und Jude schon peinlich wurde, könnte man vielleicht einen echten Israeli einladen, der sein Land verteidigt. Und man könnte vielleicht auch deutsche Juden einladen, die nicht „Juden in Deutschland“ sind, sondern eine kritische pro-israelische Meinung vertreten im Gegensatz zu den Wolffsohns, Broders, Knoblochs und Schusters. Ein solcher Jude hätte es nicht nötig, ein anti-antisemitisches Glaubensbekenntnis abzugeben. Oder haben Sie protestiert, als Charlotte Knobloch mich einen „berüchtigten Antisemiten“ nannte, nur weil ich eine andere Meinung zum Nahost-Konflikt habe.
Vielleicht werden Sie, wenn Sie beim ZDF genügend Mut aufbringen, einen Israeli einladen, der für das „andere“ Israel eintritt, welches seiner rechts-radikal orthodoxen Koalitionsregierung unter Benjamin Netanjahu weniger vertraut. Es wäre für die Zuschauer interessant zu erfahren, dass es auch un-orthodoxe Israelis gibt, und wie sie denken.
Eine Alternative wäre es aber diese Sendung abzuschaffen oder einen anderen Moderator einzusetzen, der seine Gäste auch zu Wort kommen lässt. Ein Mensch mit derart deutlichen narzisstischen Zügen wie Markus Lanz ist die falsche Besetzung.

Abraham Melzer
Jüdischer Verleger und Publizist

Rede anlässlich der Kundgebung gegen Staatsterror in Frankfurt, 12.11.23

von Abraham Melzer

Vor mehr als 2500 Jahren predigte der Prophet Jeremias: „Frieden, Frieden und es gibt keinen Frieden.“ (Jeremias 6.14) An dieser Aussage hat sich nichts geändert. Sie ist so aktuell, als ob sie gestern gerufen wurde. Es gibt wohl keine Region auf der ganzen Welt in der mehr Kriege stattgefunden haben und offensichtlich immer noch stattfinden wie der Nahe-Osten bzw. die Region, die man Israel bzw. Palästina nennt.
Den letzten Kriegsausbruch nannte UN-Generalsekretär Guterres: Eine Krise der Menschheit. Aber ist es wirklich „eine Krise der Menschheit“? Welchen Chinesen interessiert das Drama? In vielen Ländern nimmt man den Konflikt als theoretische und verspätete Auseinandersetzung mit dem europäischen Kolonialismus wahr.

Natürlich war die Tat der Hamas bestialisch, unmenschlich und nicht akzeptabel. Ich bin der letzte, der das in Frage stellen würde. Aber es gibt ein „aber“. War die Tat nur deswegen bestialisch, unmenschlich und inakzeptable, weil sie quasi von Hand vollbracht wurde, während man von Israel aus mit hochtechnischen Waffen viel mehr Menschen tötet? Oder weil sie an jüdischen Menschen begangen wurde, während die Palästinenser von den Israelis und ihren Freunden als „Tiere“ angesehen werden? Man sieht grundsätzlich nur das Leid der Juden, der unmittelbar betroffenen Menschen, von denen es Bild und Namen gibt. Man kann es nicht übersehen. Aber, und da kommt mein „aber“, man muss endlich auch das Leid der Palästinenser sehen . Auch sie erwarten Solidarität und Mitgefühl. Bei aller Verpflichtung zur Solidarität mit Israel schaffen es unsere Politiker nicht mal, einen Satz der Empathie für die Menschen in Gaza aufzubringen. Sie schweigen zur Abschlachtung von palästinensischen Zivilisten, Frauen und Kinder durch technische Distanzwaffen. Viele Menschen in Deutschland schockiert die Tat der Hamas, weil man die Leichen zählen kann. Die Leichen nach einem Raketenangriff der Israelis sind in ein Nichts verschwunden. Aber sie merken doch, dass die deutsche Regierung das Leid der Palästinenser geradezu ignoriert. Man hat den Palästinensern das Recht genommen, öffentlich zu trauern. Die Polizei hat sogar Kerzen entfernt, die an die Opfer erinnerten, selbst wenn sie die Toten der anderen Seite einschlossen.
Natürlich soll die Tat vom 7.Oktober von allen Menschen verurteilt werden. Warum wird das Abwerfen einer 1000 Kg Bombe auf ein Wohngebiet in Gaza und die „kollaterale“ Tötung von unzähligen Zivilisten, darunter Kinder, Säuglinge und alte Menschen, nicht als bestialisch und unmenschlich verurteilt? Für das Massaker am 7.10. wurde die Hamas diskreditiert. Für das Abwerfen eine 1000 Kg Bomber bekam der Pilot einen Verdienstorden. Der Befehl der Bombenattacke, aber erst recht der Verdienstorden diskreditiert die israelische Militärführung als bestialisch. Man soll nicht vergleichen, aber von den Vorkommnissen muss man eben wissen, bevor man die Palästinenser verurteilt. Es ist leider doch so, wie es Guterres gesagt hat: Die bestialische Tat der Hamas geschah nicht in einem luftleeren Raum. Sie hat eine Fortsetzungs-Vorgeschichte, für deren frühere Folgen sich die Weltgemeinschaft nie gekümmert hat. Kümmert sie sich inzwischen darum? Wie viele Staffeln soll diese Soap noch bekommen?

Sogar Palästinenser schweigen. Sie haben Angst, dass ihre Worte verdreht und als antisemitisch interpretiert werden, wie es laufend gemacht wird. Sie verzweifeln an der innerdeutschen Debatte, die sich an abstrakten Begriffen aufhält, während in Gaza Menschen verhungern und verdursten. Andere können ihren Angehörigen in Deutschland vermelden: „Wir leben noch“. „Noch“ (!); denn schon kann ein Bombardement am nächsten Tag kann sie schon töten.

Jüdische Opfer haben Namen und Gesichter. Palästinensische Opfer sind nur Zahlen ohne Gesicht und ohne Namen. Wenn Palästinenser sterben, sagen die Opfer in Gaza, gebe es niemanden, der ihren Tod herbeigeführt hat.

Ein Engagement für Menschenleben in Gaza ist nicht, kann nicht und darf nicht als antisemitisch diskreditiert werden. Es wäre eine zynische und perfide psychologische Manipulation mit dem Zweck, uns hier in Deutschland unseren moralischen Kompass verlieren zu lassen. Man will uns komplett aus dem Diskurs heraushaben. Dazu benutzt man die Angst in Deutschland, als Antisemit diffamiert und diskreditiert werden zu können.

Man nutzt gegen uns viele Worte und Begriffe aus einer abgeschlossenen Vergangenheit. Die Gegenwart im Nahen Osten ist eine andere. Wir brauchen neue Begriffe für die Situation und die aktuellen Ereignisse. 100 in Deutschland lebende jüdische Künstler und Künstlerinnen, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, und Schriftsteller und Schriftstellerinnen haben einen Brief unterschrieben, in dem sie die Beendigung der grausamen und wirkungslosen Strafaktion fordern. Ich habe den Brief auch unterschrieben.

Der Angriff der Hamas hat auch Menschen getroffen, die sich für Frieden und eine Lösung des 100jährigen Konflikts eingesetzt haben. Menschen wie wir. Jetzt instrumentalisieren die Politiker die Opfer, um Dinge zu rechtfertigen, die mindestens die Hälfte der Israelis nicht will.
Wir stehen am Beginn eines Zivilisationsbruchs. Die Folge wird eine grenzenlose Wut sein, die wir alle wie wir hier stehen zu spüren bekommen werden. Für mich und für uns alle muss die einzige Lehre aus dem Holocaust sein, sich für die Rechte aller Menschen einzusetzen, und nicht zu schweigen, wenn diese Menschenrechte verletzt werden, wie es viele Deutsche wieder hinnehmen. Zu lange wurde vergessen, dass wir für diesen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern eine Lösung brauchen. Wir müssen deshalb unsere Politiker gnadenlos auffordern, diese Werte der Humanität und der Menschenrechte zu vertreten. Nur dann gibt es Hoffnung auf Frieden.
Seit 3 Generationen vegetieren die Menschen in Gaza in einem „Freiluftgefängnis“. Wobei es grundsätzlich nicht um Gaza geht, sondern um Palästina. Die Besatzung, über die nicht gesprochen wurde und über die nicht gesprochen wird, in keiner der Talkshows, ist der „Elefant im Raum“. Die Besatzung ist das Problem und sonst nichts. Man kann nicht ein Volk länger als 55 Jahren (von der Staatsgründung 1948 will ich noch nicht reden) in Gefangenschaft halten, unterdrücken, demütigen, berauben, vergewaltigen und sich sein Land Stück für Stück aneignen und glauben, dass es für ewig so weitergehen kann.
Der Schuldigen sind in erster Linie Benjamin Netanjahu und sein Kreis. Diese Leute sind arrogant, selbstherrlich und selbstgerecht. Es geniert sie nicht , der UNO eine Landkarte der Region zu zeigen, auf der Palästina nicht dargestellt wird. Gleichzeitig empören sie sich, wenn jemand ein „Palästinna from the River to the Sea“ fordert Man kann nicht jahrelang behaupten, dass man in der Lage ist den Konflikt zu verwalten, ohne den Palästinensern nur einen Millimeter entgegenzukommen.

Die Palästinenser sind empört, frustriert und voller Zorn. Sie wollen endlich auch frei sein, frei leben und dieselben Rechte haben, wie ihre jüdischen Nachbarn. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Die Führer der Welt sehen aber, dass sich seit Jahrzehnten nichts ändert. Alle Welt hat Verständnis für die Juden und die Rechte der Palästinenser werden ignoriert. Und wenn sie protestieren, und wenn bei uns in Deutschland Menschen ihr Leid verstehen und mit ihnen Mitgefühl offenbaren, dann werden sie als Antisemiten diffamiert, wie z.B . ich. Mich nannte Charlotte Knobloch einen „berüchtigten Antisemiten.“
Das geht so nicht mehr weiter. Die Tat vom 7.10. ist eine Zäsur und vor allem ein Aufruf. Wenn die Israelis und die westliche sogenannte demokratische Welt diesen Aufschrei nicht verstehen wollen, dann wird es noch schlimmer kommen. Am Ende sehe ich sogar die Gefahr eines Bürgerkrieges in Israel, eines Krieges mit seinen Nachbarn und schließlich sogar eines dritten Weltkrieges.
Man solle sich in die Lage eines Palästinensers in meinem Alter versetzen. Ich bin 78 Jahre alt. Mein gleichalter Palästinenser war noch nie in seinem Leben frei. Er hat noch nie etwas anderes erlebt und gesehen als israelische Soldaten, nie etwas anderes erlebt als Unterdrückung, Demütigung, Checkpoints und Straßen nur für Juden. Und wenn er das ertragen konnte, so wollen seine Kinder und Kindeskinder es nicht mehr erdulden. Und sie haben recht.
Das Problem ist die selbstgerechte und leider rassistische israelische Gesellschaft, die z.B. schweigt, wenn ein durchgeknallter, rassistischer, ultranationalistischer Richter in Israel vor Gericht entscheidet, dass jüdisches Blut wertvoller sei als arabisches, wie es seit mehr als 20 Jahren gefestigte Rechtsprechung geworden ist. Eine Gesellschaft, die ein solches Urteil stillschweigend akzeptiert, darf sich nicht wundern, wenn sowas wie am 7.10. in Gaza geschieht.

Die Hamas muss vernichtet werden, weil die Hamas nicht nur der Feind Israels, sondern vor allem auch der Feind der Palästinenser in Gaza und in der Westbank ist. Die Frage ist nur wie man die Hamas vernichtet, ohne tausende Zivilisten zu töten und die Infrastruktur vollkommen zu zerstören. Israel hat die Hamas mit-gegründet und ist heute nicht in der Lage, die Hamas zu besiegen. Aber die Bewohner von Gaza könnten das. Die internationale Gemeinschaft müsse Israel jetzt dazu drängen, die Besatzung zu beenden. Ansonsten wird der Konflikt sich nur verschärfen. Die Menschen in Gaza würden noch radikaler werden und nach ein, zwei Jahren werde es die nächste Runde geben. Es wird nie aufhören, solange die Besatzung nicht endet.
Es ist zynisch zu behaupten, dass der Krieg Israels ein Verteidigungskrieg ist. Es ist ein Vernichtungskrieg gegen die Hamas und gegen die Zivilbevölkerung. Israels Ziel ist es Gaza zu zerstören und für immer oder zumindest für lange Zeit unbewohnbar zu machen. Was vor den Augen der ganzen Welt stattfindet ist ein Rachekrieg bzw. ein Vergeltungskrieg, wie es die Israelis nennen, und nicht das, was uns permanent eingetrichtert wird, ein „Selbstverteidigungskrieg“. Vergeltung im Sinne von Rache. Nach den Kriterien des Völkerrechts ist es nichts anderes als Genozid. Und deshalb graust mich die Aussage von Bundeskanzler Olaf Scholz, dass „Israel ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien sei und die israelische Armee sich an die Regeln des Völkerrechts halten werde.“
Es ist nicht der erste sogenannte „Gaza-Krieg“. Über die israelische Strafaktion von 2008 hat der jüdische UN-Mitarbeiter Richard Goldstone seinen „Bericht der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen über den Gaza Konflikt“ herausgegeben. Ein 800 Seiten dickes Buch, indem Israel vieler Kriegsverbrechen beschuldigt wird. Und wer sich in der Geschichte des Konflikts auskennt, weiß, dass auf israelischer Seite schon seit 1948 Kriegsverbrechen stattgefunden haben. Man kann das bei Uri Avnery, S. Izhar und andere israelischen Autoren und Historiker wie Ilan Pappe nachlesen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Staatsoberhäupter wie Olaf Scholz das nicht wissen. Seine Haltung ist deshalb verlogen, zynisch und nicht akzeptabel. Vor allem aber der immer wieder gehörte Vorwurf: Es handele sich um Antisemitismus. Da machen es sich viele Politiker, Intellektuelle, der Zentralrat der Juden und andere bedeutende oder unbedeutende Personen sehr leicht, wenn sie immer wieder „Antisemitismus – haltet den Dieb“ rufen.
Man soll und muss die Hamas beseitigen, wie man auch fundamentalistische Gruppen innerhalb der nationalistischen Siedlerbewegung zum Schweigen bringen muss. Die Faschisten und Kriegstreiber auf beiden Seiten müssen verschwinden.
Ich bin entsetzt und traurig, wie man bei uns die Palästinenser behandelt. Man hält sie alle für Terroristen. Es gibt die jüdisch-israelische Seite, die leben will, aber es gibt auch die palästinensische Seite, die ebenfalls leben will.
Ich spreche zu Ihnen nicht als jemand, der sein Wissen aus der Presse oder Talkshows hat, in denen so viele inkompetente Experten dummes Zeug reden. Ich spreche zu Ihnen als jemand, der in Israel aufgewachsen ist und in der israelischen Armee gedient hat und mit eigenen Augen viel Unrecht gesehen hat.
Ich arbeite seit vielen Jahren dafür, dass es aufhört. Leider ohne Erfolg. Aber „bedingungslose“ Unterstützung Israel ist nicht das, was ein „Freund“ erklären sollte. Auch ein Freund Israels muss das internationale Völkerrecht beachten und danach handeln. Man hilft Israel nicht, wenn man der dortigen zZ herrschenden ultra-rechten, nationalistischen und nach eigenen Angaben reaktionären Regierung einen Blankoscheck gibt und die Augen und Ohren zudrückt, weil man nicht sehen will und nicht hören darf. Die Israelis haben in der Vergangenheit schon Kriegsverbrechen begangen. Sie sind dieser Tage dabei, in Gaza wieder Kriegsverbrechen zu begehen. Als Freunde müssen wir die Israelis davor abhalten.
Das bedeutet nicht, dass man die Hamas verschonen soll. Nein, die Hamas, als terroristische Organisation, muss ein für alle Mal vernichtet und beseitigt werden. Aber auch Israel muss umdenken, denn ansonsten wird eine Beseitigung der Hamas nicht nützen. Wenn Israel so weiter macht, werden neu palästinensische Terroristen wachsen und aus Erfahrung wissen wir, dass jede neue junge Generation Palästinenser radikaler und rücksichtsloser war. Und auch wenn man nicht damit einverstanden ist, so muss man es zur Kenntnis nehmen, dass junge Palästinenser, die ohne Hoffnung auf ein freies und unabhängiges Leben aufwachsen, bereit sind ihr Leben zu opfern, weil sie nichts zu verlieren haben außer ein Leben, dass für sie kaum lebenswert ist.
Die Palästinenser müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die Hamas mit ihrer radikalen Politik und der Absicht Israel total zu zerstören, ihnen schadet. Sie müssen sich per „intifada“ von der Hamas befreien. Gaza ist nicht die Hamas. Gaza ist zum Friedhof für tausenden Kindern geworden, wie es UN-Generalsekretär Guterres sagte.
Und noch ein persönliches Wort: Alle denke n an die unschuldigen zivilen Geiseln. Ganz Israel trauert. Bis auf einen. Bis auf Benjamin Netanjahu. Wie kann unser unglücklicher Kanzler Olaf Scholz die Position Netanjahus unterstützen? Die Hamas wird ganz sicher die Geiseln nicht freilassen, ohne einen Erfolg vorweisen zu können. Die Hamas fordert die Freilassung von palästinensischen Gefangenen. Für einen einzigen israelischen Gefangenen, Gilad Schalit, hat Israel 1000 Gefangene freigelassen. Warum kann es nicht für mehr als 200 Geiseln 6000 Gefangene freilassen. Israel hat Angst, dass daraus Hamas-Kämpfer werden. Aber wenn Israel so weiter macht, dann werden 60 000 junge Palästinenser in den nächsten Jahren radikalisiert werden. Gaza ist doch schon so zerstört wie Berlin am Ende des 2. Weltkrieges. Jetzt weiterzukämpfen, bis der letzte Hamas-Kämpfer tot ist, ist meiner Meinung nach, nicht, was das Leben der Geiseln retten kann. Die Hamas-Kämpfer sind bereit zu sterben. Wollen wir warten bis der letzte alle Geiseln ermordet. Lohnt sich dieses Opfer für Israel? Ich meine nicht.
Aber das ist Netanjahus Pokerspiel. Gewinnt er, und befreit die Geiseln lebend, dann ist er ein Held und sein Gerichtsverfahren Schnee von gestern. Verliert er und die Geiseln sind alle tot, dann landet er entweder in einem israelischen Gefängnis oder es gelingt ihm mit seiner Familie nach Florida zu fliehen, wo eine Prachtvilla auf ihn wartet. Sein Sohn ist schon dort.

Diese Tage ist das Tagebuch von Prof. Saul Friedländer erschienen. Friedländer ist heute 91 Jahre alt und Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels. Der Titel seines Buches heißt: Blick in den Abgrund – ein israelisches Tagebuch. Er hat das Buch in diesem Jahr vollendet, zwischen dem 17. Januar und den 26. Juni. Er hat die letzte Eskalation noch nicht berücksichtigt. Ich bin sicher, dass wenn er eine Fortsetzung schreiben würde, diese heißen wird: Blick aus dem Abgrund. Israel befindet sich seit dem 7.10.2023 im freien Fall in einen Abgrund. Ich habe seit Jahren davor gewarnt.

Lassen Sie mich zum Schluss noch Worte meines verstorbenen Freundes Hajo Meyer zitieren, der schon 2004, also vor fast genau 20 Jahren, in seinem in Holland publizierten Buch schrieb (ich habe seine Gedanken dann 2006 in meinem Verlag für deutsche Leser veröffentlicht:

DAS ENDE DES JUDENTUMS – DER VERFALL DER ISRAELISCHEN GESELLSCHAFT:

Hajo Meyer sagte:

„Dass die Welt der Rückkehr der Juden in das Land, in dem sie etwa zwei Jahrtausende zuvor gelebt hatten, zustimmen würde, war zu Zeiten Theodor Herzls höchst unwahrscheinlich. Dazu bedurfte es einer Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Man kann nur hoffen, dass der noch unwahrscheinlichere Frieden zwischen Israelis und Palästinensern tatsächlich durch ein Wunder zustande kommen wird. Leider ist die Sorge nicht unberechtigt, dass auch der Frieden einer vergleichbaren oder gar einer noch größeren Katastrophe bedarf“.
Und da sage jemand, dass es keine Propheten mehr gäbe, seitdem die Juden ihr Land verlassen haben.

 

 

Eine Antwort an den iosraelischen Freund

Lieber Freund,

in Deiner Antwort steckt ein wenig die übliche Antwort der Israelis seit Jahrzehnten. Sie sagen „ein brera“, es gibt keine Wahl. Dabei müsstest Du, als inzwischen westeuropäisch sozialisierter Israeli wissen, dass es eine Wahl gibt. Natürlich ist diese Wahl für Israelis schwierig, die seit so vielen Jahren gehirngewaschen werden mit der rassistischen Ideologie, dass die Palästinenser, bzw. die Araber wie Tiere sind. Israels Verteidigungsminister hat es vor wenigen Tagen in aller Öffentlichkeit gesagt. Die Hamas sind wie Tiere. Die Nazis haben über die Juden auch ähnliches gesagt. Die Juden sind wie Ratten. Auch die Nazis wollten die Juden restlos vernichten und es ist ihnen nicht gelungen. Genauso wenig wird es den Israelis gelingen die Palästinenser zu vernichten, denn sie führen ihren Krieg nicht nur gegen die Hamas, sondern gegen alle Araber. Das hat schon vor Jahren Rabin gesagt: Wir können die syrische, die jordanische und die ägyptische Armee besiegen, aber wir können nicht die Palästinenser vernichten.

Du bist auch in Israel aufgewachsen, wie ich. Wir beide wissen doch wie man in Israel über Araber bzw. Palästinenser denkt. Für die meisten Israelis sind sie doch keine gleichberechtigten Menschen. In diesem Glauben werden doch Israelis schon vom Kindergarten anerzogen und doktriniert. Danach gibt es für sie eben keine Alternative als die Palästinenser so zu behandeln, wie sie es tun. Man kann aber nicht ein ganzes Volk Jahre und Jahrzehnte unterdrücken ´, missachten, berauben und vergewaltigen. Natürlich darf Israel, wie man es heutzutage aus allen Ecken hört, sich verteidigen, aber dann dürfen sich doch die Palästinenser auch verteidigen. Selbst wenn sie Tiere sind. Tiere beißen, wenn man sie schlecht behandelt. Und natürlich war diese Aktion der Hamas bestialisch und unmenschlich. Aber ist denn das, was die Israelis machen humaner? Für das Abwerfen einer 1000 Kilo Bomber auf ein Wohngebiet in Gaza hat der israelische Pilot einen Orden bekommen. Ist das weniger bestialisch? Die Hamas hat keine Flugzeuge, keine Panzer, keine Kanonen. Die Hamas hat nur ihre Krieger, die, wie man es gesehen hat, bereit sind zu sterben, weil man sie nicht leben lässt. Und sie handeln wie unser biblischer Held Samson, der auch Selbstmord begangen hat, aber im Tod so viele Feinde mit sich nehmen wollte, wie möglich.

Du fragst, welche Alternative Israel hat. Meine Antwort ist: Die Palästinenser wie Menschen zu behandeln. Ihnen nicht das anzutun, was alle Israelis nicht wollen, dass man es ihnen antut. Sie in Freiheit leben lassen. Die Menschen in Gaza sind doch die vertriebenen Palästinenser aus Ashkelon und Jaffa. Sie leben nun seit drei Generation im größten Gefängnis der Welt. Und das nur weil sie Palästinenser sind und weil Israel die Macht hat das zu tun, was es schon seit Jahrzehnten den Palästinensern antut.

Wir beide, die wir in der israelischen Armee gedient haben, wissen es doch. Wir wissen es nicht vom Hörensagen. Wir wissen es, weil wir es mit eigenen Augen gesehen haben. Keiner von uns würde so leben wollen, wie die Palästinenser leben müssen. Wieso wundern wir uns, zumal wo Netanjahu vor wenigen Tagen in der UNO eine Karte der Region gezeigt hat, auf der Palästina nicht gezeigt wurde. Wie oft sollen die Palästinenser sich noch demütigen, beleidigen und dafür, dass sie frei sein wollen, verhaften und für Jahrzehnte einsperren lassen.

Du fragst welche Alternative? Mit Palästinensern auf gleicher Augenhöhe verhandeln. Sie nicht wie in Oslo betrügen. Dafür sorgen, dass Rabbiner und Gerichte in Israel nicht verkünden, dass jüdisches Blut wertvoller ist als arabisches Blut. Blut ist Blut und auch Palästinenser bluten, wenn man sie sticht. Auch sie leiden, wenn sie Hunger haben oder wenn man ihre Kinder verhaftet oder sogar tötet.

Ich bin in Israel im Glauben erzogen worden, dass arabische Mütter nicht um ihre Kinder weinen, wie jüdische Mütter. Da muss man anfangen und solche üble und rassistische Propaganda verbieten bzw. endlich in Kindergärten und Schulen, natürlich auf beiden Seiten, anfangen den Kindern Toleranz und Gerechtigkeit beizubringen.

Ich weiß, das sind nur Worte. Ich bin aber sicher, dass die meisten Menschen in Israel und in Palästina das auch wollen. Also muss man als erstes die kriminellen Politiker in die Wüste schicken, die die Menschen aufhetzen, manipulieren und gehirnwaschen.

In Europa herrschte auch Jahrhunderte lang eine ähnliche Situation zwischen den Deutschen und dem Erzfeind Frankreich. Aber auch in Kriegszeiten haben die Deutschen gewusst, dass sie es mit einer Kulturnation zu tun haben und umgekehrt auch. Das ist leider im Nahost-Konflikt nicht der Fall. Die Israelis halten die Palästinenser für Ratten, Tiere, Ungeziefer und verachten sie, und die Palästinenser sehen in den Israelis nur die Soldaten, ihre Unterdrücker.

Die Alternative ist damit aufzuhören und solche Hetze auf beiden Seiten zu verbieten. Aber…da Israel die stärkere Seite ist, muss Israel mit Beispiel voran gehen.

Und insofern war deine Antwort auf Gideon Levys Beitrag nicht passend, denn er hat mit jeder Zeile, jedem Wort recht.

Aber die Schuld liegt nicht nur bei den Israelis. Wir beide leben in Deutschland und müssen immer wieder unsere Regierung ermahnen, dass man nicht eine Zwei-Staaten-Lösung propagieren kann und den „zweiten Staat“ nicht anerkennen will. Zwei Staaten heißt zwei Staaten. Es kann und darf nicht sein, dass man nur Mitleid mit den „Juden“ hat. Wir Juden brauchen kein Mitleid und im Konflikt geht es nicht um Juden, sondern um Israelis. Ich sehe und höre von keiner Seite Mitleid mit den Palästinensern, die es an erster Stelle nötig haben. Die Völker und vor allem die Politiker der Welt müssen endlich aufhören blind auf einem Auge zu sein. Die Palästinenser verdienen es auch anerkannt, geachtet, respektiert und gerecht behandelt zu werden. Sie sind keine Antisemiten und nicht einmal alle Antizionisten. Jordanien und Ägypten und auch viele andere Araber haben sich inzwischen mit Israel versöhnt und anerkannt. Es ist endlich an die Zeit auch Palästina anzuerkennen und gleichberechtigt zu behandeln. Sie sind nicht besser aber auch nicht schlechter als alle anderen.

Wacht endlich auf!

Golda Meir hat einmal gesagt, dass sie den Arabern nie verzeihen wird, dass sie „uns Israelis zwingen sie zu töten“. Das war der Höhepunkt an Heuchelei und Zynismus. Keiner wird oder ist gezwungen zu töten. Die Palästinenser wollen die Israelis lediglich zwingen sie in Würde und Freiheit leben zu lassen. Natürlich haben die Israelis, wie jedes andere Volk auf der Welt, das Recht sich zu verteidigen. Aber die Betonung liegt auf „jedes andere Volk“ und deshalb haben auch die Palästinenser das Recht sich zu verteidigen. Und wenn wir auf den Konflikt in Gaza schauen, dann haben doch die Menschen in Gaza das Recht so leben zu wollen, wie die Menschen 50 Kilometer nördlich, nämlich in Tel Aviv. Auch sie wollen frei sein, unabhängig sein und nicht von den Gnaden bzw. Launen der israelischen Besatzung abhängig sein. Seit nunmehr zwei Generationen leben dort die Menschen wie in einem Freiluftgefängnis. Sie dürfen nicht raus und keiner darf rein, natürlich bis auf seltene Ausnahmen. Journalisten dürfen rein, um über das Elend der dort lebenden bzw. vegetierenden Menschen zu berichten. Die Palästinenser in Gaza und in der Westbank wollen aber kein Mitleid. Sie wollen die Anerkennung ihrer Rechte, die Respektierung dieser Rechte: Als freie Menschen zu leben.

Jetzt werden die Palästinenser sagen, dass sie den Israelis nie verzeihen werden, dass sie die Hamas gezwungen hat ein solches Blutbad durchzuführen. Es kann für eine solche Tat keine Entschuldigung geben, aber man kann verstehen, warum und wieso es dazu gekommen ist, ohne es zu rechtfertigen und schon gar nicht es gut zu finden, zumal es jetzt am meisten den Menschen in Gaza schaden wird.

In Europa und besonders in Deutschland schauen wir auf den Konflikt mit europäischen Augen und christlicher Logik. Die Menschen im Orient, und Israel ist nun mal ein Teil des Orients, ticken aber anders. Dort gilt noch die biblische Formel: Auge um Auge, Zahn um Zahn, wobei die Israelis diese im Grunde humane Aufforderung pervertiert haben, indem sie in ihren Vergeltungsschlägen, die man als pure Rache auslegen darf, zehn Augen für ein Auge verlangten und zehn Zähne für ein Zahn.

Seit Jahren wird der Konflikt von israelischer Seite eingefroren und Netanjahu sagte immer wird, dass er nicht interessiert sei den Konflikt zu lösen. Es reichte ihm den Konflikt zu verwalten. Die Quittung für diese arrogante und leichtsinnige Politik hat er am 7. Oktober 2023 bekommen. Nur wenige Tage zuvor, im September, stand er vor der UN-Generalversammlung und zeigte den anwesenden Führern der Welt eine Karte der Region auf dem Palästina ausradiert war. Das war eine perfide und unnötige Provokation. Und wenn gleichzeitig geprahlt wird, dass man dabei sei mit Saudi-Arabien Frieden und militärische Kooperation zu vereinbaren, dann soll man sich nicht wundern, wenn auf arabischer und auch iranischer Seite das Blut kocht, der gesunde Menschenverstand unter Druck gerät und sie vor Angst, Hass und Enttäuschung explodieren. Aus demselben Grund kämpfen die Ukrainer gegen Russland, weil Putin ihnen ihr Existenzrecht verweigert und sie lieber heute als morgen vernichten und ausradieren möchte. Die Ukrainer werden von der westlichen Welt unterstützt. Gaza aber von niemanden. Die Menschen dort müssen zusehen und ertragen wie andere arabische Staaten, sozusagen ihre Brüder, mit Israel kooperieren. Und jetzt auch noch Saudi-Arabien, der bisher größte Unterstützer der palästinensischen Sache. Das brachte endgültig das Blut zum Überkochen und die Vernunft zum Schweigen.  Sie handelten aus blinder Wut und Verzweiflung und sie handelten falsch, aber was wäre richtig? Der Wille der Nationalisten siegt über das Recht der Vernunft. Statt Frieden mit ihren Nachbarn zu schließen, wählen die Palästinenser und die Israelis den Weg des Krieges und beschuldigen sich gegenseitig als Terroristen. So ist es schon seit Jahren und das Szenario wiederholt sich ständig. Die Palästinenser veranstalten einen Terrorakt und die Israelis antworten mit Gewalt. Und wenn die Gewalt nicht reicht, dann eben noch mehr Gewalt. Für Gespräche ist kein Platz. Israel behauptet, dass es sich verteidigt, aber dasselbe behaupten auch die Palästinenser.

Der Krieg der palästinensischen Hamas wird zum Krieg aller Palästinenser und der Krieg der rechten israelischen Nationalisten wird zum Krieg aller Israelis und macht sie alle radikaler. Die nicht sahen, was kommen wird nach der Wahl einer rechtsradikalen Regierung in Israel, wollten es nicht sehen. Und wer sich jetzt über die Tragödie der Israelis beschwert, verkennt die Ursachen. Natürlich sind wieder „Unschuldige“ ermordet worden. Aber auch auf palästinensischer Seite werden seit Jahren „Unschuldige“ ermordet und nicht wie es in israelischer Sprache heißt, getötet. Die Israelis haben Netanjahu geglaubt, dass man Millionen von Menschen in einem Freilustgefängnis „verwalten“ kann. Sie wie „menschliche Tiere“ behandeln, ohne vor Gericht gestellt zu werden, töten kann, weil, wie es ein israelischer Richter einmal gesagt hat: „Jüdisches Blut ist wertvoller als arabisches Blut“. Das ein durchgeknallter Richter sowas sagt ist schlimm genug. Viel schlimmer ist aber die Tatsache, dass er es sagen konnte ohne Konsequenzen zu fürchten. Das ist purer Rassismus und die israelische Gesellschaft ist leider durchdrungen von solcher Ideologie.

Schuldig sind alle, auch wir in Europa und Deutschland, die zugesehen haben wie das palästinensische Volk leidet und nichts getan haben. Schuldig sind deutsche Minister, die öffentlich sagen, dass sie über die humanitäre Unterstützung der Palästinenser mit ihren Kollegen in Israel sprechen müssen. Schuldig ist eine naive und unfähige Regierung in Berlin, die seit Jahren davon redet, dass sie eine Zweistaaten-Lösung befürwortet, aber nur einen Staat anerkennt und den anderen ignoriert. Schuldig ist eine Politik, die die Israelis als jüdische Opfer betrachtet und nicht als israelische Täter. Die Juden, zumindest in Frankreich, England und besonders in den USA fangen an sich von Israel wegen seiner faschistischen und völkerrechtswidrigen Politik zu distanzieren. Nur die Nicht-Juden sind noch nicht dazu bereit. Es sieht fast so aus, als ob die christliche Welt ihren jahrhundertelangen Antisemitismus jetzt auf die Palästinenser übertragen haben. Was nützen denn die Reden von Freiheit, Gleichheit und Unabhängigkeit für alle Menschen, wenn die Palästinenser immer wieder ausgeklammert werden. Gehören sie nicht auch zu dem menschlichen Spezi? Natürlich gibt es bei den Palästinensern Kräfte, die nicht an Frieden interessiert sind. Aber solche Kräfte gibt es auch in Israel. Diese Kräfte müssen auf beiden Seiten eliminiert werden. Vielleicht sollte man es einmal mit anderen Mitteln gegen die Hamas versuchen? Wenn aber jahraus, jahrein immer nur von der „radikal islamistischen Hamas“ die Rede ist, dann bekommt die Hamas keine Chance ihre Politik zu ändern. Radikal ist auch die israelische Regierungspolitik, zumal mit der jetzigen rechten und rassistischen Regierung.

Man redet jetzt davon, dass man die Hamas bzw. den palästinensischen Terror ein für allemal beseitigen will und muss. Man will sich nicht daran erinnern, dass es nicht immer so war und die Beziehung zwischen Juden und Araber nicht immer von Hass erfüllt war. Es waren auch Araber in Ägypten und Palästina, die geflüchteten Juden, aus dem barbarisch-christlichen Spanien, aufgenommen haben. Es waren auch Palästinenser, die geflüchtete Juden aus dem zaristischen Russland und aus Polen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgenommen und friedlich behandelt haben. Und es lebten seit Jahrhunderten Juden in Palästina in guter Nachbarschaft mit ihren palästinensischen Nachbarn. Der Hass zwischen beiden Ethnien begann erst mit der Verbreitung des Zionismus, als die Palästinenser begannen zu verstehen, dass die Juden in ihrem Land und auf ihrem Grund und Boden einen eigenen, jüdischen Staat gründen wollen und dass die Konsequenz daraus ihre eigene Vertreibung sein wird. Und tatsächlich ist es so gekommen.

Der Widerstand der Palästinenser hat deshalb nichts mit Antisemitismus zu tun. Tatsache ist, dass Israel heute die Sprache der Nazis benutzt, wenn Israels Generalstabschef Yoav Galant verkündet, dass er Gaza kein Strom, kein Wasser und keine Lebensmittel liefern wird und die Menschen in Gaza als „menschliche Tiere“ bezeichnet. So begann auch die Judenverfolgung in Deutschland und so begann sie überall und immer: Bei der Verfolgung durch die Inquisition in Spanien oder bei den Pogromen in der Ukraine und Russland.

Israel will Rache, aber Rache ist das Gegenteil von Gerechtigkeit. Die Politik und die Medien in Europa haben Verständnis für Israel, weil sie auf den Konflikt ausschließlich aus der Perspektive der Israelis schauen. Und sie alle sind blind und taub, wenn sie solche Äußerungen über die Palästinenser vernehmen, die den Äußerungen der Nazis über die Juden gleichen. Es ist auch nicht zu verkennen, dass mit ihrer bedingungslosen Unterstützung Israels, die christliche Welt das „wiedergutmachen“ will, was sie mehr als tausend Jahre mit dem Antisemitismus falsch gemacht hat und natürlich mit dem grausamen deutschen Holocaust, der mehr als sechs Millionen Juden ermordete.

Wenn man die Hamas bzw. den sogenannten palästinensischen Terror, der in Wahrheit nicht Terror, sondern Widerstand ist, ein für allemal beseitigen will, dann nicht, wenn mit Gewalt geantwortet wird, denn Gewalt führt immer zu mehr Gewalt und mehr Gewalt führt zu noch mehr Gewalt und das Rad dreht sich ohne Ende. Nur ehrliche und faire Verhandlungen auf Augenhöhe werden zu einem nachhaltigen Frieden führen. Die Palästinenser wollen auch nur so frei leben wie wir. Und deshalb müssen wir Europäer nicht nur mit Israel solidarisch sein, sondern auch mit den Palästinensern, die heute die Juden der Juden sind. Wir müssen nicht nur Druck auf Palästina ausüben, wenn unsere Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit laut verkündet, dass sie mit Israel beraten will, wie die Unterstützung Israels aussehen darf. Es fragt auch niemand Putin wie man die Ukraine unterstützen soll. Wie lange will die Welt noch zuschauen? Sollen zwei Millionen Menschen in Gaza verhungern und verdursten, wie es Netanjahu plant? Wird die Welt das zulassen? Wird Deutschland dann immer noch hinter Israel stehen? Die Lippenbekenntnisse der Politiker sind unerträglich und zynisch. Wie heuchlerisch sind sie alle? Israel fordert die Menschen Gaza zu verlassen. Aber wohin? Hat denn niemand Mitleid mit den Kindern in Gaza? Zählen nur die israelischen, die jüdischen Kinder? Natürlich soll man Empathie und Mitleid mit Israel haben und ganz besonders mit den mehr als hundert Geiseln. Aber ist es nicht an vorderster Stelle die Aufgabe der israelischen Regierung sich, um ihre Bürger zu sorgen und zu kümmern? Wenn für die israelische Regierung Rache wichtiger ist als die Rettung seiner Bürger, dann ist es an die Bürger Israels darauf zu reagieren und sich an ihrer Regierung zu rächen und sie in die Wüste zu schicken, obwohl es keine Garantie gibt, dass eine neue Regierung realistischer sein wird. Mit dieser Regierung ist Israel jedenfalls auf dem Weg in eine Theokratie zu werden, wie der Iran. Theokratien sind auch nur Diktaturen. Im Vatikan hat der Papst das Sagen und im Iran sind es die Ayatolen. In Israel wären es dann die orthodoxen Rabbiner, die schon heute ihren Gläubigen sagen welche Partei sie wählen soll.

Israel ist keine Demokratie und schon gar nicht eine europäische Demokratie. Es ist absurd und Unsinn, wenn unsere Politiker sagen, dass uns mit Israel gleiche Werte verbinden. Schlimm wäre es, wenn unsere Werte von Demokratie und Menschenrechte, denen der Israelis gleichen würden. Dann würden alle Israelis, die in den letzten Jahren nach Deutschland geflohen sind als erste Deutschland wieder verlassen, denn sie kennen die israelische Demokratie, wo ein geschiedener Mann keine geschiedene Frau heiraten darf, weil er angeblich aus dem biblischen Stamm der Kohanim, der Priester stammt. Schon seit der Gründung des Staates Israel bestimmen die religiösen Parteien über Sein und Nichtsein des Staates. Ihre Gläubigen dienen nicht in der Armee und leben parasitär auf Kosten der säkularen Wähler. Und sie bestimmen inzwischen über das israelische Schulsystem. In ihren Schulen werden keine naturwissenschaftlichen Fächer gelehrt und auch keine Sprachen, Musik oder Sport. Israel ist dem Mullah Regime im Iran bald ähnlicher als den demokratischen Staaten in Europa. Und wenn bald der letzte säkulare Wähler Israel verlassen wird, wird man auch in Israel mit Rabbiner verhandeln müssen, die die Politik bestimmen.

Vielleicht ist der letzte Angriff der Hamas, so brutal und scheußlich er auch war, ein Weckruf für die liberale, säkulare Gesellschaft in Israel: Wacht endlich auf.

Abraham Melzer, 12.10.2023

Geschichte ereignet sich meist zweimal, einmal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.

Langsam fühle ich meinem Vater nach, wie er in den 30er Jahren in Berlin jeden Tag erleben musste, dass bisherige Freunde sich bis zur Unkenntlichkeit veränderten; oder zeigten sie vielmehr ihr wahres Gesicht als Nazis? Wer heutzutage immer noch Putin versteht, dürfte 1933 auch Hitler verstanden haben. Wer der Meinung ist, dass die Nato Russland bedroht habe, hätte auch 1939 geglaubt, dass Polen Deutschland angreifen werde. Wer heute dagegen ist, dass man der Ukraine Waffen liefert, hätte sich auch empört, dass während des ganzen Zweiten Weltkrieges die USA an die UdSSR Waffen lieferte. Wer heute blind angesichts der Kriegsverbrechen Russlands ist, der wäre auch blind gewesen gegenüber den Kriegsverbrechen der Nazis. Wer Putins Krieg als „Spezialoperation“ betrachtet, der hätte die Ermordung der Juden auch nur als „Endlösung“ bezeichnet. Wer jetzt immer noch nicht wahrhnehmen will, dass Putin in der Ukraine einen Genozid veranstaltet, der nimmt auch an, dass Selenskyj ein Nazi und die Ukrainer Mitglieder der Waffen-SS seien. Oskar Lafontaine und seine Frau Sahra Wagenknecht sind beide schlimme Komplizen von Putins Kriegsverbrechen. Sie „verstehen Putin“, und sie sprechen seine Sprache besser als mancher andere. Gregor Gysi zieht es vor, Ukrainer sterben zu lassen, als ihnen Waffen zu liefern, weil „überall Deutschland an Kriegen verdiene, was genau das sei, was ich, Gysi,  nicht möchte.“ In dieser Logik fordert Gysi in einer Rede vor dem Bundestag, dass die „Nato doch erklären sollte, dass sie jetzt keine einzige Waffe mehr an die Ukraine liefere, wenn die russische Führung einem Waffenstillstand zustimme.“ Zurecht macht da Frau Marie-Agnes Strack-Zimmermann einen Zwischenruf: „Wie naiv sind Sie eigentlich?“ Und Gysi bekommt Beifall von Abgeordneten der AfD.

Ich erlebe in diesen Tagen ähnliches wie mein Vater damals. Freunde und Bekannte, für die ich früher meine Hand ins Feuer gelegt hätte, dass sie liberal seien und auf der Seite der Menschenrechte stünden, erweisen sich plötzlich als „Putinversteher“. Sie veröffentlichen Aussagen wie diese: „Die ukrainische Seite hat keinerlei Hemmungen, Kriegsgefangene massiv zu foltern und auch zu töten. Etwa ein Drittel der russischen Kriegsgefangenen, die die unmittelbare Gefangennahme überlebten, werden in ukrainischen Gefängnissen von den Sadisten des ukrainischen Geheimdienstes SBU zu Tode gefoltert… Auch wird ihnen ausreichend Nahrung und Wasser verweigert…“

Ich weiß nicht, woher sie solche Tatsachen erfahren haben wollen. Sie können solche Behauptungen nur direkt vom russischen Propagandaministerium erhalten. Ich frage mich und staune, wie die vielen liberalen Linken mutiert sind, die plötzlich so viel Verständnis für einen brutalen und grausamen Krieg haben. Liegt es an der Person des Kriegsherrn, Putin , der in Wirklichkeit keinen Krieg führt, sondern zynischen und rücksichtslosen Terror gegen Zivilisten „spezialoperiert“. Der Terror gegen Kinder und alte Menschen, gegen Frauen und Mütter, Säuglinge und Kranke ist tatsächlich eine „Spezialoperation“ und kein klassischer Krieg. Ein klassischer Krieg ist für Putin längst verloren. Indem er im Stil der „Nazis“ die Ukraine als Staat vernichtet und die Ukraine als Gebiet vor einem Zugriff der „faschistischen Imperialisten aus dem Westen“ retten will, macht er „Lebensraumpolitik“ nach Art der Nazis. Wir leben in einem historischen Zeitabschnitt, in der keiner von uns abseitsstehen darf. Entweder stellen wir uns dem gegenwärtigen russischen Regime entgegen, oder wir werden zum Kollaborateur desselben. Wir dürfen nicht tolerieren, dass die Macht der Gewalt über das Recht regiert. Wir müssen die imperialistische Politik des Kremls thematisieren und bekämpfen, denn diese richtet sich letztlich auch gegen uns. Wir dürfen nicht mehr die russische Propaganda nachplappern und zu Putins Sprachrohren werden. Es gibt eine Vorgeschichte zu diesem Krieg – sicher. Aber der Westen trägt keine Mitverantwortung an diesem Krieg. Die Wahl „der Schritt zur Politik mit anderen Mitteln“ (Clausewitz)  war allein Putins Entscheidung. Es handelt sich auch nicht um eine harmlose „Spezialoperation“ sondern um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Viele sehen das anders, aber der „Freitag“ (z.B.) hat für Beiträge von Autoren mit einer putinistischen Haltung keinen Platz mehr. Ulrich Heyden, dem diese Zeilen galten, der immer noch in Moskau sitzt und die Rolle von Putins Pudel spielt, antwortete darauf: „Nach meinem Eindruck lachen die Russen über diese Verurteilung von deutscher Seite.“ Inzwischen ist ihnen aber das Lachen vergangen. Ich habe nichts dagegen, wenn diese naiven und wohl von Russland gelenkten „Putin Versteher“ die USA kritisieren. Ich habe es selbst oft getan und tue es immer noch. Aber ich kritisiere die amerikanische Politik, z.B. ihre Nahost-Politik in Bezug auf Palästina und Israel, aber nicht die Amerikaner bzw. das amerikanische System schlechthin.

Eine Bilanz von Putins nunmehr zwanzigjähriger Herrschaft offenbart einige interessante Umstände. Das Bruttosozialprodukt der Weltmacht Russland liegt auf dem Niveau Spaniens. Die Einnahmen aus den riesigen Öl- und Gasressourcen des Landes sind vor allem in die Rüstung geflossen – davon ein Anteil, die gemeinsten Mafiabosse vor Neid erbleichen ließe –   ist in die Taschen der Oligarchen geflossen, die ihre Privilegien mit Kadavergehorsam gegenüber dem Mann im Kreml bezahlen. Wenn sie Putins Plänen, wie etwa im Fall der «Spezialoperation» in der Ukraine, im Wege stehen, passieren ihnen plötzlich unerklärliche Dinge: sie rutschen auf einer Treppe aus und brechen sich das Genick; sie verlieren beim Rauchen am Fenster das Gleichgewicht und fallen in die Tiefe; sie stürzen aus ihrer Jacht ins Meer, und können immer nur noch tot geborgen werden. Das ist schon seit Jahren die Art Putins, seine Gegner zu beseitigen. Trotzdem schreiben linke Verschwörungstheoretiker von einem „totalen Krieg gegen Moskau“, der von „ukrainischen Nazis“, geführt werde. Sie drücken es sogar poetisch aus: „Niemand kann den Fetisch des Untergangs eindrucksvoller zelebrieren als die politischen Nachkommen derer, die einst an der Seite von Himmlers ´Rassenkriegern` die Schwarze Sonne anbeteten.“ Die Ukrainer standen aber nicht „an der Seite Himmlers“. Sie kämpfen wie die Russen und starben auch wie sie.

Deutsche beschuldigen die Angegriffenen, die Angreifer zu sein. Deutsche, deren Eltern ihre Freiheit denjenigen verdankten, die für sie gestorben waren. Und jetzt beleidigen und diskreditieren sie diese Toten als „Rassekrieger an der Seite Himmlers“ gestanden zu haben. Die Kiewer Regierung, die heute ihr Land verteidigt, soll nach dieser Interpretation schuld sein an der Eskalation des Krieges. Demnach müsste auch Stalin daran schuld gewesen sein, dass Hitler Russland angegriffen hatte. Man kann nur noch staunen, dass es Menschen gibt, die solche Gedanken spinnen können, und solche, die an diesen Unsinn glauben. Ich kann verstehen warum Deutsche, deren Väter von amerikanischen Soldaten getötet wurden, die Amerikaner ablehnen. Ich kann aber nicht verstehen, wie Deutsche, deren Eltern von Russen unterdrückt und ausgebeutet wurden, für Russland mehr Empathie empfinden als für Amerika. Dabei geht es in diesem Konflikt nicht um Russland oder Amerika, und auch nicht um Russen oder Amerikaner, sondern im Grundsatz um einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen eine zivile Bevölkerung, der die komplette Infrastruktur ihres Landes zerstört wird. Damit wird nur die Bevölkerung sinnlos terrorisiert. Die Bevölkerung leidet und wird noch Jahrzehnte lang leiden müssen. Der Wiederaufbau der Ukraine wird Billionen Euro kosten, aber auch die Wiederherstellung Russland wird nicht billig sein und sich über Jahrzehnte hinziehen. Es tut weh zuzusehen, wie Ressourcen vernichtet werden, wo wir doch auf der Welt so viel andere Probleme haben, die dringend gelöst und in Angriff genommen werden müssen.

Ich wundere mich nur, warum so viele die Rolle Russlands bzw. Putins dabei nicht sehen wollen, und dass sie stattdessen immer auf die USA blicken und dort das Böse suchen. Natürlich ist der amerikanische Imperialismus widerlich und kritikwürdig. Aber haben wir denn nicht alle auch immer wieder amerikanische Kriegsverbrechen in Vietnam, Irak, Libyen und sonst wo kritisiert? Warum sehen diese naiven Linken neben den Anhängern der AfD nicht den russischen Imperialismus, der nicht weniger brutal und nicht minder gefährlich ist? Warum sehen sie nicht, dass man eine angeblich schlechte Demokratie nicht mit einem autokratischen Staat bekämpfen kann? Warum sehen sie nicht, dass Putin vielfach mörderischer und brutaler ist als der schlimmste amerikanische Präsident? In allen Schriften dieser „Putinversteher“ habe ich nicht ein einziges Mal von Butscha oder Mariupol gelesen. Nicht ein einziges Mal von zerstörten Theatern mit hunderten von zivilen Opfern, von bombardierten Supermärkten und zigtausender Privathäuser. Nicht von der kompletten Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur, davon, dass Menschen hungern, frieren und sinnlos sterben, und auch nichts von der Entführung tausender ukrainischer Kinder nach Russland, wo ihnen ihre Identität gestohlen wird. Stattdessen lese ich immer wieder von der Infamie der Nato, die angeblich Russland existenziell bedroht hat. Das war aber eine krankhafte Einbildung Putins und seiner Getreuen.

Worin besteht das Lebensmodell, das Putin der «Dekadenz» des Westens entgegenstellt? Welche neuen Vorteile, welche neuen Freiheiten, welche neuen Freuden können sich die in Propagandalügen gefangenen Russen von einem Sieg Putins in der Ukraine versprechen? Und welches Schicksal stünde den Georgiern, den Bürgern der Moldau und anderer «abtrünniger» Provinzen bevor, wenn Putin den sie umfassenden Traum vom «Großen Russland» realisieren könnte? Mit welchen Mitteln und mit welchen Arbeitskräften würde er die zertrümmerten Städte der Ukraine wieder aufbauen und einen Schaden gutmachen, der bis dato auf 500 Milliarden Dollar beziffert wird?

In den USA haben wir es mit einer Demokratie zu tun, die, wenn sie auch unvollkommen ist und Fehler macht, immer noch eine Demokratie bleibt, die sich alle vier Jahre erneuern und korrigieren kann. In Russland herrscht Putin schon zwanzig Jahre und wird bis an sein Lebensende herrschen, wenn er nicht gewaltsam beseitigt wird. Und Putin setzt auch eine Politik fort, die unzählige Vorgänger auch schon geführt haben. Er selbst beruft sich auf keinen geringeren als Peter dem Großen, Zar von Russland von Gottes Gnaden. Auch dieser regierte nicht aufgrund von Wahlen, sondern mit Gewalt. In den USA wird der Präsident durch den Kongress kontrolliert und vor nicht allzu langer Zeit musste Präsident Nixon gehen, weil der Kongress ihn gefeuert hatte. In Russland wird Putin von niemanden kontrolliert und er kann tun und lassen, was er will.

Bei uns im Westen, besonders in Deutschland, werden unzählige Petitionen veröffentlicht, die unsere Regierung auffordert Verhandlungen aufzunehmen. Abgesehen davon, dass unsere Regierung keine Verhandlungen aufnehmen kann, stellt sich die Frage mit wem. Wer will sich noch an Putins langen Tisch setzen und von Putin gedemütigt und lächerlich gemacht werden? Und wie naiv muss man denn sein, um auf die Straße zu gehen und „Frieden schaffen ohne Waffen“ zu skandieren. Frieden kann man nicht ohne Waffen schaffen. Für Frieden muss man kämpfen und wenn es sein muss und nicht anders geht auch mit Leopard 2 Panzern. Verhandeln kann man erst nach einem Krieg, wenn eine Partei gesiegt hat, oder beide Parteien vom Krieg erschöpft sind. So war es nach dem Ersten Weltkrieg und so war es nach dem 30jährigen Krieg.

Und bei alle dem, vergessen diese naiven Friedensstifter, dass die Ukraine den Krieg nicht begonnen hat, und dass sie auch kein russisches Territorium besetzt hält. Die Ukraine kämpft um nicht mehr und nicht weniger als um ihre Freiheit und Unabhängigkeit. Vor allem unabhängig sein von Russland. Und das sollten wir, ja müssen wir unterstützen.

Natürlich muss man die USA kritisieren, wenn sie Kriegsverbrechen verübt, aber warum artet eine solche Kritik bei Leuten wie Oskar Lafontaine und bei anderen in abgrundtiefen Hass und böser Verleumdung aus? Hat denn die Generation von Lafontaine nicht ihre Freiheit und Unabhängigkeit den idealistischen US-Soldaten zu verdanken, die unsere Freiheit mit ihrem Leben bezahlten? Und nicht nur die Menschen in Deutschland, sondern in ganz Westeuropa schulden diesen Dank. Die Menschen in Osteuropa hatten Pech. Sie wurden von Stalins Russland befreit, besetzt und regiert. Sie hatten kein russisches Äquivalent zum Marshallplan. Sie bekamen keine Carepakete aus den USA. Im Gegenteil, die Russen haben alles geraubt und nach Russland verfrachtet, was von Wert erschein. Über eine Million Amerikaner haben ihr Leben geopfert, um Europa vor dem Gift des Nazismus und vor dem italienischen Faschismus zu befreien. Diesen Toten verdanken wir und unsere Kinder und Kindeskinder die Tatsache, dass wir frei in einer liberalen Demokratie aufwachsen und uns entfalten konnten.

Woher kommt jetzt dieser unkontrollierte Hass auf die Amerikaner und die unverständliche Zuneigung und Empathie für Russland, wo doch Russland die Menschen in Ostdeutschland und in ganz Osteuropa nicht besonders zart und freundlich behandelt hatte. Für die Menschen in Ostdeutschland gab es kaum einen Unterschied zum nationalsozialistischen Regime. Die Russen haben die Menschen kaum anders behandelt, als die Nazis, außer, dass man in den russischen Gulags noch eine, wenn auch geringe Chance hatte, zu überleben. Die Russen haben ihre Häftlinge nicht vergast oder brutal ermordet, sondern eher durch Arbeit ausgebeutet. Stalin hatte keine Tötungsfabriken, keine Gaskammern und Verbrennungsöfen. Im Gulag starben die Menschen zwar auch wie die Eintagsfliegen, aber nicht durch Gas, sondern bei der Arbeit. Trotzdem war Russland nicht Nazideutschland. Bei den Nazis reichte, es Jude zu sein. Bei Stalin musste man schon einen Grund für Verhaftung und Deportation nach Sibirien bieten, auch wenn dieser noch so absurd war. Darin hat sich wohl in Russland unter Putin nicht viel geändert. Als mein Vater im Gulag einen Mithäftling fragte, warum er in den Gulag kam, erhielt er zur Antwort: „Weil ich zwei Hemden hatte.“ Das zeigt, wie absurd alles war. Die Verurteilung von Nawalny heute war nicht viel anders. Nawalny wurde verurteilt, weil er zwei Hosen hatte.

Russland und die USA sind zwei Supermächte, die zusammen mit China heute den Lauf der Welt bestimmen. In ihren imperialistischen Bestrebungen unterscheiden sie sich nicht voneinander. Sie folgen ihren eigenen Ambitionen, unterstützen brutale, autokratische   Regime je nach ihrem Interesse und haben keine Skrupel dabei. Sie reden von Freiheit und meinen immer nur ihren eigenen Vorteil. Die Freiheit der anderen interessiert sie wenig. Das goldene Kalb dieser Supermächte sind Kapital und Einkommen. Und wir können sehen, wie Geld die Welt regiert. Die Chinesen haben daraus eine Religion gemacht. Die Russen haben den Reichtum ihres Landes unter einer kleinen Clique von Oligarchen verteilt, die Putin beherrschte, und die ihn zum allerreichsten Mann der Welt machte, dafür, dass er sie das Land ausbeuten lässt. Und in den USA, wo der Kapitalismus zuhause ist, ist jeder Milliardär seines Glückes Schmied. Das Volk ist überall mehr oder weniger arm und lässt sich, wie wir jetzt in Russland sehen, von den Regierungen bzw. Diktatoren in den Krieg schicken, während die Milliardäre in den USA, die Milliardäre in China und die Oligarchen in Russland noch mehr Geld verdienen, wenn man überhaupt von „verdienen“ reden kann.

Bei den russischen Oligarchen kann man sicherlich nicht von „verdienen“ reden. Sie verdienen ihr Geld durch Ausbeutung von Bodenschätzen, die eigentlich dem Volk gehören und Putin verdient mit daran. Insofern ist Krieg nicht ein „endloser Kampf zwischen Gut und Böse“, wie Wolfgang Streeck schreibt, sondern eine endlose Ausbeutung der Erde durch skrupellose Schurken (oder bösartige Narzissten, wie es Otto Kernberg ausdrückt). Es zeigt die menschliche Schwäche, immer dann Stärke zu zeigen und andere Länder zu erobern, wenn man selbst schwach ist. So beginnt die Geschichte mit der Eroberung Kanaans durch die Israeliten und wird vielleicht enden mit dem Versuch der Eroberung der Ukraine durch Putin. Es ging bei allen Eroberern, Josua, Alexander, Cäsar, Karl der Große, Wallenstein, Friedrich der Große, Napoleon, Hitler und jetzt Putin, darum, mehr Land von anderen zu besitzen und mehr Bodenschätze anderer Leute auszubeuten. Um Gut oder Böse ging es nie. Gut war immer der Sieger. Der Besiegte war immer der Böse.

Die Zeitenwende, von der jetzt so viel die Rede ist, besteht darin, dass Putin, „der korrupte Führer eines korrupten Landes“, ein Völker mordender Wahnsinniger wurde. Und Streeck meint, dass er es ohne Anlass geworden ist, dass es eine „pathologische Wende“ war. Ich bin aber überzeugt, dass Streeck sich hier irrt. Putin hatte einen Grund, aber dass dieser mitnichten die Nato war. Es liegen uns keine Beweise vor, dass die Nato geplant hatte Russland anzugreifen. Putin hatte keine Angst vor der Nato, sondern vor der Ukraine. Er hat auch keine Angst davor, dass die Ukraine Russland militärisch angreift, sondern vielmehr davor, dass der Virus der Demokratie, der in der Ukraine zu einer Epidemie wurde, zu einer Pandemie wird, und dass Russland wie von einem Tsunami überschwemmt wird. Putin hatte Angst davor, dass die Demokratie seine eigene Bevölkerung anfällt und dass sie ihn überrollt. Das ist die einfache und überzeugende Wahrheit. Es mag dies glauben wer will und ablehnen wer will.

Putin hat dabei die Ukraine unterschätzt, und die Kampfkraft seiner korrupten Armee überschätzt. Er glaubte, die Ukraine in drei, vier Tagen überrennen, und seine Lakaien in Kiew einzusetzen zu können, bevor die übrige Welt kapiert, was da vor sich geht. Das hat aber nicht funktioniert. Danach hat er den zweiten Fehler gemacht, den Krieg, den er begonnen hat, nicht sofort zu beenden. Wenn er das getan hätte, dann hätte er noch sein Gesicht wahren können. Aber Putin ist nicht der Mann, der eine dumme und totgeborene Operation sieglos beendet. Er lässt weiter seine Soldaten in den Tod marschieren. Hunderttausende russische Soldaten sind gefallen oder verwundet worden. Wofür? Für Putins Ruhm? Am Ende wird es doch Putins Schande sein.

Viele unserer naiven Linken und inzwischen auch der Rechten glauben, dass es für die Ukraine ein Traum bleiben wird, Russland zu besiegen. Wolfgang Streeck geniert sich nicht einmal vom „Endsieg über Russland“ zu schreiben. An einem „Endsieg“ haben die Nazis wegen der vielen Niederlagen glauben müssen. Die Ukrainer träumen nicht von Endsieg, sondern nur von der Vertreibung der russischen Invasoren aus ihrem Land. Nicht mehr und nicht weniger. Und man sollte das auch den Ukrainern überlassen, freilich nicht ohne ihnen zu helfen mit Panzer und Munition. Die Debatte bei uns, besonders in Deutschland, über Kriegsziele und Konfliktlösung ist oft peinlich und überflüssig. Es gibt keine gerechten Kriege. Auch der Krieg der Ukrainer, so sehr er gerecht ist, ist ein notwendiges Übel, denn es geht um Freiheit und Unabhängigkeit, und insofern würden die Ukrainer auch kämpfen, wenn deutsche Linke und Rechte sagen würden, dass der Krieg der Ukrainer ungerecht sei. Die Ukrainer kämpfen nicht um Gerechtigkeit, sondern um ihre Unabhängigkeit und ihre Freiheit. Die Ukrainer müssen sich verteidigen und wir müssen sie unterstützen. Waffen sind dazu da andere zu überfallen aber auch Freiheit und Demokratie zu verteidigen.

Besonders in der Kritik linker Idioten stehen die Grünen, die speziell durch ihre Außenministerin Annalena Baerbock sich stark für die Ukraine einsetzen. Die Linke unterstützt Putin. Warum eigentlich? Sie werfen Baerbock vor, dass sie das von Trump aufgekündigte Atomwaffen-Abkommen zwischen dem Iran und dem Westen nicht erneuen will. Zurecht. Wie kann man nach den Erfahrungen mit Putin sehenden Auges zulassen, dass die reaktionären, mittelalterlichen Mullahs in Teheran Atombomben bauen? Diese greisen Führer, die die Frauen im Lande unterdrücken, sind alles andere als zuverlässig und vertrauenswürdig. Und deshalb ist es auch billig und dumm, den Grünen vorzuwerfen, dass nicht ihre Kinder auf den Schlachtfeldern getötet und verstümmelt werden. Gut, dass Streeck uns daran erinnert, dass die Ukrainer auf den Schlachtfeldern getötet und verstümmelt werden. Deshalb müssen wir noch mehr Panzer und noch mehr Munition liefern. Denn es ist billige russische Propaganda, zu behaupten, dass „die ukrainische Regierung und die USA gegen einen Waffenstillstand sind“. Natürlich sind die USA und besonders die Regierung in Kiew, auf die es letzten Endes ankommt, einverstanden, aber erst wenn Putin seine Armee aus dem souveränen Gebiet der Ukraine zurückgezogen hat. Vorher wäre ein Waffenstillstand ein strategischer und politischer Fehler. Streeck meint, dass der Krieg beendet werden sollte, bevor die Wünsche der ukrainischen Regierung in Erfüllung gegangen sind.

Es mag sein, dass manche Deutsche, wenn sie sich vor eine ähnliche Wahl wie die Ukrainer gestellt sähen, einen Unterwerfungsfrieden dem Andauern des Krieges vorzögen. In den fünfziger Jahren und während der Nachrüstungsdebatte wurde bei den Linken in Deutschland das Motto «Lieber rot als tot» populär. Aber unter dem Eindruck von Putins provoziertem Terrorkrieg hat die pauschale pazifistische Lehre von «Nie wieder Krieg» ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit eingebüßt. Inzwischen erkennt eine Mehrheit der Deutschen das Recht der Ukrainer an, Widerstand zu leisten und für die Freiheit zu kämpfen. Schließlich ist bei diesem Kampf auch unsere Freiheit mitgemeint.

Bei vielen der linken Verschwörungstheoretiker ist das Bild von der Welt und besonders vom Ukraine-Konflikt auf den Kopf gestellt. Für sie ist nicht der Mörder, sondern der Ermordete Schuld. Nicht der Faschist Putin ist der Aggressor, sondern der Jude Selenskyj. Das ist für alle anderen schwer zu begreifen, aber die vor Selbstgerechtigkeit und russischer Propaganda aufgeblasenen „Putinversteher“ nehmen darauf keine Rücksicht und erwarten, dass wir ihnen folgen. Linke deutsche Intellektuelle schwafeln über „Lehren aus deutscher Kriegserfahrung“. So heißt es sogar in der Jüdischen Allgemeinen. Die Talkshows in Deutschland berichten pausenlos darüber. Und die Jüdische Allgemeine sagt dazu: „Die Erfahrung aus der deutschen Geschichte heißt, dass der übermächtig scheinende Täter auch mithilfe derer, die scheinbar nur zum Sterben verdammt sind, besiegt werden kann.“ Sich als Opfer ermächtigen zu dürfen, dem Angriffskrieg entgegenzutreten, ist die Lehre aus der deutschen Geschichte. Die Ukrainer kämpfen um Menschenwürde und Freiheit, und es ist deshalb unsere Aufgabe sie darbei zu unterstützen.

Geschichte ereignet sich immer zweimal, konstatierte Karl Marx. Das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Wir erleben heute das zweite Mal, die Wiederholung des deutschen Überfalls auf Russland, das „Unternehmen Barbarossa“ in entgegengesetzter Richtung. Nicht vom Westen nach Osten, sondern von Osten nach Westen. Und die Angreifer sind die ehemaligen Opfer, die jetzt zu Tätern geworden sind. Die Farce besteht darin, dass sie dieselben Fehler machen wie ehemals die Nazis. Sie haben ihre Gegner unterschätzt, und ihre eigene Stärke maßlos überschätzt. Aus einer „Spezialoperation“ ist ein regelrechter Krieg geworden, der bald zwei Jahre andauert und hunderttausende Tote forderte und die totale Zerstörung vieler Städte und Dörfer.

Nur für die Ukraine hat sich nichts geändert. So wie damals die Uklrainer die Freiheit der Sowjetunion gegen die Nazi-Aggression verteidigt haben, so verteidigen sie heute die Freiheit des Westens, zumindest der Westeuropäer, vor der russischen Aggression. Der ehemalige ukrainische Verteidigungsminister Oleksii Reznikov hat seine westlichen Kollegen davor gewarnt, dass Verhandlungen mit Moskau keinen Frieden bringen werden. In einem Artikel für The Guardian erklärt er, dass Wladimir Putin entschlossen ist, die Ukraine vollständig zu zerstören und ihre Bürger in die Russische Föderation zu „assimilieren“. Russland fordert nämlich die Anerkennung der besetzten Gebiete der Ukraine als sein eigenes Territorium im Austausch für das Ende des Krieges.

Er zieht Parallelen zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs, und er vergleicht die Forderungen nach territorialen Zugeständnissen der Ukraine mit den Forderungen der Nazis von 1938, dass die Tschechoslowakei das Sudetenland an das nationalsozialistische Deutschland abtreten sollte.

Moskau habe nie Interesse an einer friedlichen Kooperation mit dem Westen gehabt, solche auch nicht angedeutet, und hat alle Angebote der Zusammenarbeit zurückgewiesen. Dem Westen und besonders Deutschland kann man vorwerfen, dass sie viel zu spät das wahre Gesicht des Kremls erkannt haben. Spätestens nach der Annexion der Krim 2014 hätte man die Absichten Putins erkennen müssen. Bei Hitler war es auch zuerst der Anschluss seiner Heimat Österreich an das Reich, und später des Sudetenlandes. Spätestens dann konnte man die erschreckenden Parallelen der Politik Putins zu jener Hitlers feststellen.

In Deutschland wehrt sich aber eine einflussreiche Gruppe von linken Intellektuellen, Journalisten, prominente Autoren und sogenannte „Putinversteher“ gegen einen solchen Vergleich und überhaupt gegen den Vorwurf Putin hätte den Krieg gewollt und begonnen. Deren Argument ist, dass die USA und die Nato den Krieg provoziert hat und hauptsächlich daran schuld sei. Timothy Snyder, einer der einflussreichsten Russland-Kenner, fragte: „Warum fällt es Deutschland so schwer, von einem faschistischen Russland zu sprechen?“ Warum liest man in der deutschen Presse permanent, dass man Putin nicht reizen sollte und darf. Etwa weil er über Nuklearwaffen verfügt? Über diese Waffen hatte Russland auch verfügt, als es aus Afghanistan flüchten musste.

Bei vielen Linken ist es aber weniger die Sympathie für Russland als Erbe der Sowjetunion, als vielmehr die Antipathie, um nicht zu sagen der Hass gegenüber Amerika als den Staat, der am Vietnam-Krieg schuldig ist. Es ist wohl das Vietnam-Trauma, dass noch bei vielen linken Intellektuellen wie ein Virus steckt und das Denken und Fühlen vergiftet. Wir gingen damals alle auf die Straßen. Wir haben aber nicht gegen die USA oder die Amerikaner protestiert, sondern gegen den völkerrechtswidrigen Krieg, gegen das Abwerfen von Napalmbomben und die totale Zerstörung der Infrastruktur, so wie die Russen es heute in der Ukraine machen. Nur sehe ich leider keine linken Demonstranten, die dagegen protestieren. Ich sehe linke, naive und gehirngewaschene Demonstranten, die dumme und peinliche Parolen für Russland und gegen die Ukraine skandieren und Angst haben Putin zu reizen, weil er Nuklearwaffen hat. Und die berühmt-berüchtigte Publizistin Gabriele Krone-Schmalz lobt Russland, weil es dort im Gegensatz zu den USA keine Todesstrafe gäbe. Das ist wahrlich richtig, aber sie vergisst bei dieser Gelegenheit zu erwähnen, dass Putin keine Todesstrafe benötigt, weil er seine Gegner auch ohne Todesstrafe tötet: Durch Vergiftung, Gasanschläge oder ganz einfache Ermordung (wie im Berliner Tiergarten).

Und Publizisten wie Michael Lüders beschäftigen sich mit der Frage, ob Moral über alles steht, und fragen ihre Leser, warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. Er plädiert für den puren Machiavellismus und fordert unsere Regierung auf, Putin nachzugeben, ihn nicht unnötig zu reizen und Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen. Er nennt die gegenwärtige Politik Heuchelei und lobt Orban, der nur die Interessen seines engen Landes im Auge hat. Ich frage mich freilich, wo wir alle heute stünden, und ob ein Michael Lüders seine gesellschaftskritischen Bücher schreiben könnte, wenn 1941 die Amerikaner beschlossen hätten: Amerika first. Wie sähe die Welt heute aus, wenn Roosevelt sich geweigert hätte, Europa zu helfen, wenn er die Briten und vor allem auch Russland nicht mit Waffen, Munition und Kleidung bis zu Nahrungsmittel unterstützt hätte. Und so wie man damals nicht zulassen konnte, dass Hitler den Krieg gewinnt, so dürfen wir heute nicht zulassen, dass Putin die Ukraine besiegt. Und es reicht nicht die russische Armee aus der Ukraine zu vertreiben. Die russische Armee muss bedingungslos kapitulieren, so wie seinerzeit die Wehrmacht. Putin muss vor einem Kriegsverbrecher-Tribunal gestellt werden und alle, die ihn unterstützt haben wie Lukaschenko ebenso.

Ich bin immer noch der Meinung, dass Moral über alles steht, auch über der Politik. Eine unmoralische Politik ist niemals nachhaltig und ist früher oder später zum Schweitern verurteilt. So erging es Hitler, Stalin, Ceausescu und anderen totalitären Regimen. Ich halte mich da an Winston Churchill, der gesagt hat: Demokratie ist schlecht, aber wir haben nichts Besseres. Es ist halt noch schlechter, wenn Imperien von Einzelpersonen regiert werden. Wir sehen es heute mehr als deutlich an Russland. Putin kann sich grämen und ärgern und er mag vor Wut schäumen, aber die amerikanische Demokratie, so viele Fehler sie auch hat, ist halt für die Menschen in Amerika besser. Sie leben freier, dürfen sagen, was sie wollen und lesen was sie begehren, und das ist schon die halbe Miete. Und es mögen manche Besserwisser das als „Arroganz des Westens“ bezeichnen, aber die Betrachtung Russland durch eine rosa-rote Brille, wie es zum Beispiel Gabriele Krone-Schmalz tut, ist naiv und dümmlich. „Wo bleibt die Dankbarkeit gegenüber Moskau für die deutsche Vereinigung?“, fragt sie. Es bedarf da keine Dankbarkeit. Die Beziehungen zwischen Staaten bestehen nicht aus Liebe und Freundschaft, sondern aus knallharten Interessen. Moskau hat uns damals keinen Gefallen getan, sondern im eigenen Interesse gehandelt. Es war 1989 nicht mehr in der Lage sein Imperium zu halten; deswegen entließ es Deutschland gegen viel Geld aus der gefährlichen Umarmung. Andere Staaten entließ es auch, allerdings für etwas weniger Geld.

Es ist gut und richtig, wenn sich Menschen an die amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam und anderswo erinnern, aber dann sollten sie sich auch der russischen Kriegsverbrechen erinnern, die andere nicht vergessen haben und nicht vergessen können.

Abraham Melzer, 23.09.2023

Geschichte ereignet sich meist zweimal, einmal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.

Abraham Melzer, 23.09.2023

Langsam fühle ich meinem Vater nach, wie er in den 30er Jahren in Berlin jeden Tag erleben musste, dass bisherige Freunde sich bis zur Unkenntlichkeit veränderten; oder zeigten sie vielmehr ihr wahres Gesicht als Nazis? Wer heutzutage immer noch Putin versteht, dürfte 1933 auch Hitler verstanden haben. Wer der Meinung ist, dass die Nato Russland bedroht habe, hätte auch 1939 geglaubt, dass Polen Deutschland angreifen werde. Wer heute dagegen ist, dass man der Ukraine Waffen liefert, hätte sich auch empört, dass während des ganzen Zweiten Weltkrieges die USA an die UdSSR Waffen lieferte. Wer heute blind angesichts der Kriegsverbrechen Russlands ist, der wäre auch blind gewesen gegenüber den Kriegsverbrechen der Nazis. Wer Putins Krieg als „Spezialoperation“ betrachtet, der hätte die Ermordung der Juden auch nur als „Endlösung“ bezeichnet. Wer jetzt immer noch nicht wahrhnehmen will, dass Putin in der Ukraine einen Genozid veranstaltet, der nimmt auch an, dass Selenskyj ein Nazi und die Ukrainer Mitglieder der Waffen-SS seien. Oskar Lafontaine und seine Frau Sahra Wagenknecht sind beide schlimme Komplizen von Putins Kriegsverbrechen. Sie „verstehen Putin“, und sie sprechen seine Sprache besser als mancher andere. Gregor Gysi zieht es vor, Ukrainer sterben zu lassen, als ihnen Waffen zu liefern, weil „überall Deutschland an Kriegen verdiene, was genau das sei, was ich, Gysi,  nicht möchte.“ In dieser Logik fordert Gysi in einer Rede vor dem Bundestag, dass die „Nato doch erklären sollte, dass sie jetzt keine einzige Waffe mehr an die Ukraine liefere, wenn die russische Führung einem Waffenstillstand zustimme.“ Zurecht macht da Frau Marie-Agnes Strack-Zimmermann einen Zwischenruf: „Wie naiv sind Sie eigentlich?“ Und Gysi bekommt Beifall von Abgeordneten der AfD.

Ich erlebe in diesen Tagen ähnliches wie mein Vater damals. Freunde und Bekannte, für die ich früher meine Hand ins Feuer gelegt hätte, dass sie liberal seien und auf der Seite der Menschenrechte stünden, erweisen sich plötzlich als „Putinversteher“. Sie veröffentlichen Aussagen wie diese: „Die ukrainische Seite hat keinerlei Hemmungen, Kriegsgefangene massiv zu foltern und auch zu töten. Etwa ein Drittel der russischen Kriegsgefangenen, die die unmittelbare Gefangennahme überlebten, werden in ukrainischen Gefängnissen von den Sadisten des ukrainischen Geheimdienstes SBU zu Tode gefoltert… Auch wird ihnen ausreichend Nahrung und Wasser verweigert…“

Ich weiß nicht, woher sie solche Tatsachen erfahren haben wollen. Sie können solche Behauptungen nur direkt vom russischen Propagandaministerium erhalten. Ich frage mich und staune, wie die vielen liberalen Linken mutiert sind, die plötzlich so viel Verständnis für einen brutalen und grausamen Krieg haben. Liegt es an der Person des Kriegsherrn, Putin , der in Wirklichkeit keinen Krieg führt, sondern zynischen und rücksichtslosen Terror gegen Zivilisten „spezialoperiert“. Der Terror gegen Kinder und alte Menschen, gegen Frauen und Mütter, Säuglinge und Kranke ist tatsächlich eine „Spezialoperation“ und kein klassischer Krieg. Ein klassischer Krieg ist für Putin längst verloren. Indem er im Stil der „Nazis“ die Ukraine als Staat vernichtet und die Ukraine als Gebiet vor einem Zugriff der „faschistischen Imperialisten aus dem Westen“ retten will, macht er „Lebensraumpolitik“ nach Art der Nazis. Wir leben in einem historischen Zeitabschnitt, in der keiner von uns abseitsstehen darf. Entweder stellen wir uns dem gegenwärtigen russischen Regime entgegen, oder wir werden zum Kollaborateur desselben. Wir dürfen nicht tolerieren, dass die Macht der Gewalt über das Recht regiert. Wir müssen die imperialistische Politik des Kremls thematisieren und bekämpfen, denn diese richtet sich letztlich auch gegen uns. Wir dürfen nicht mehr die russische Propaganda nachplappern und zu Putins Sprachrohren werden. Es gibt eine Vorgeschichte zu diesem Krieg – sicher. Aber der Westen trägt keine Mitverantwortung an diesem Krieg. Die Wahl „der Schritt zur Politik mit anderen Mitteln“ (Clausewitz)  war allein Putins Entscheidung. Es handelt sich auch nicht um eine harmlose „Spezialoperation“ sondern um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Viele sehen das anders, aber der „Freitag“ (z.B.) hat für Beiträge von Autoren mit einer putinistischen Haltung keinen Platz mehr. Ulrich Heyden, dem diese Zeilen galten, der immer noch in Moskau sitzt und die Rolle von Putins Pudel spielt, antwortete darauf: „Nach meinem Eindruck lachen die Russen über diese Verurteilung von deutscher Seite.“ Inzwischen ist ihnen aber das Lachen vergangen. Ich habe nichts dagegen, wenn diese naiven und wohl von Russland gelenkten „Putin Versteher“ die USA kritisieren. Ich habe es selbst oft getan und tue es immer noch. Aber ich kritisiere die amerikanische Politik, z.B. ihre Nahost-Politik in Bezug auf Palästina und Israel, aber nicht die Amerikaner bzw. das amerikanische System schlechthin.

Eine Bilanz von Putins nunmehr zwanzigjähriger Herrschaft offenbart einige interessante Umstände. Das Bruttosozialprodukt der Weltmacht Russland liegt auf dem Niveau Spaniens. Die Einnahmen aus den riesigen Öl- und Gasressourcen des Landes sind vor allem in die Rüstung geflossen – davon ein Anteil, die gemeinsten Mafiabosse vor Neid erbleichen ließe –   ist in die Taschen der Oligarchen geflossen, die ihre Privilegien mit Kadavergehorsam gegenüber dem Mann im Kreml bezahlen. Wenn sie Putins Plänen, wie etwa im Fall der «Spezialoperation» in der Ukraine, im Wege stehen, passieren ihnen plötzlich unerklärliche Dinge: sie rutschen auf einer Treppe aus und brechen sich das Genick; sie verlieren beim Rauchen am Fenster das Gleichgewicht und fallen in die Tiefe; sie stürzen aus ihrer Jacht ins Meer, und können immer nur noch tot geborgen werden. Das ist schon seit Jahren die Art Putins, seine Gegner zu beseitigen. Trotzdem schreiben linke Verschwörungstheoretiker von einem „totalen Krieg gegen Moskau“, der von „ukrainischen Nazis“, geführt werde. Sie drücken es sogar poetisch aus: „Niemand kann den Fetisch des Untergangs eindrucksvoller zelebrieren als die politischen Nachkommen derer, die einst an der Seite von Himmlers ´Rassenkriegern` die Schwarze Sonne anbeteten.“ Die Ukrainer standen aber nicht „an der Seite Himmlers“. Sie kämpfen wie die Russen und starben auch wie sie.

Deutsche beschuldigen die Angegriffenen, die Angreifer zu sein. Deutsche, deren Eltern ihre Freiheit denjenigen verdankten, die für sie gestorben waren. Und jetzt beleidigen und diskreditieren sie diese Toten als „Rassekrieger an der Seite Himmlers“ gestanden zu haben. Die Kiewer Regierung, die heute ihr Land verteidigt, soll nach dieser Interpretation schuld sein an der Eskalation des Krieges. Demnach müsste auch Stalin daran schuld gewesen sein, dass Hitler Russland angegriffen hatte. Man kann nur noch staunen, dass es Menschen gibt, die solche Gedanken spinnen können, und solche, die an diesen Unsinn glauben. Ich kann verstehen warum Deutsche, deren Väter von amerikanischen Soldaten getötet wurden, die Amerikaner ablehnen. Ich kann aber nicht verstehen, wie Deutsche, deren Eltern von Russen unterdrückt und ausgebeutet wurden, für Russland mehr Empathie empfinden als für Amerika. Dabei geht es in diesem Konflikt nicht um Russland oder Amerika, und auch nicht um Russen oder Amerikaner, sondern im Grundsatz um einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen eine zivile Bevölkerung, der die komplette Infrastruktur ihres Landes zerstört wird. Damit wird nur die Bevölkerung sinnlos terrorisiert. Die Bevölkerung leidet und wird noch Jahrzehnte lang leiden müssen. Der Wiederaufbau der Ukraine wird Billionen Euro kosten, aber auch die Wiederherstellung Russland wird nicht billig sein und sich über Jahrzehnte hinziehen. Es tut weh zuzusehen, wie Ressourcen vernichtet werden, wo wir doch auf der Welt so viel andere Probleme haben, die dringend gelöst und in Angriff genommen werden müssen.

Ich wundere mich nur, warum so viele die Rolle Russlands bzw. Putins dabei nicht sehen wollen, und dass sie stattdessen immer auf die USA blicken und dort das Böse suchen. Natürlich ist der amerikanische Imperialismus widerlich und kritikwürdig. Aber haben wir denn nicht alle auch immer wieder amerikanische Kriegsverbrechen in Vietnam, Irak, Libyen und sonst wo kritisiert? Warum sehen diese naiven Linken neben den Anhängern der AfD nicht den russischen Imperialismus, der nicht weniger brutal und nicht minder gefährlich ist? Warum sehen sie nicht, dass man eine angeblich schlechte Demokratie nicht mit einem autokratischen Staat bekämpfen kann? Warum sehen sie nicht, dass Putin vielfach mörderischer und brutaler ist als der schlimmste amerikanische Präsident? In allen Schriften dieser „Putinversteher“ habe ich nicht ein einziges Mal von Butscha oder Mariupol gelesen. Nicht ein einziges Mal von zerstörten Theatern mit hunderten von zivilen Opfern, von bombardierten Supermärkten und zigtausender Privathäuser. Nicht von der kompletten Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur, davon, dass Menschen hungern, frieren und sinnlos sterben, und auch nichts von der Entführung tausender ukrainischer Kinder nach Russland, wo ihnen ihre Identität gestohlen wird. Stattdessen lese ich immer wieder von der Infamie der Nato, die angeblich Russland existenziell bedroht hat. Das war aber eine krankhafte Einbildung Putins und seiner Getreuen.

Worin besteht das Lebensmodell, das Putin der «Dekadenz» des Westens entgegenstellt? Welche neuen Vorteile, welche neuen Freiheiten, welche neuen Freuden können sich die in Propagandalügen gefangenen Russen von einem Sieg Putins in der Ukraine versprechen? Und welches Schicksal stünde den Georgiern, den Bürgern der Moldau und anderer «abtrünniger» Provinzen bevor, wenn Putin den sie umfassenden Traum vom «Großen Russland» realisieren könnte? Mit welchen Mitteln und mit welchen Arbeitskräften würde er die zertrümmerten Städte der Ukraine wieder aufbauen und einen Schaden gutmachen, der bis dato auf 500 Milliarden Dollar beziffert wird?

In den USA haben wir es mit einer Demokratie zu tun, die, wenn sie auch unvollkommen ist und Fehler macht, immer noch eine Demokratie bleibt, die sich alle vier Jahre erneuern und korrigieren kann. In Russland herrscht Putin schon zwanzig Jahre und wird bis an sein Lebensende herrschen, wenn er nicht gewaltsam beseitigt wird. Und Putin setzt auch eine Politik fort, die unzählige Vorgänger auch schon geführt haben. Er selbst beruft sich auf keinen geringeren als Peter dem Großen, Zar von Russland von Gottes Gnaden. Auch dieser regierte nicht aufgrund von Wahlen, sondern mit Gewalt. In den USA wird der Präsident durch den Kongress kontrolliert und vor nicht allzu langer Zeit musste Präsident Nixon gehen, weil der Kongress ihn gefeuert hatte. In Russland wird Putin von niemanden kontrolliert und er kann tun und lassen, was er will.

Bei uns im Westen, besonders in Deutschland, werden unzählige Petitionen veröffentlicht, die unsere Regierung auffordert Verhandlungen aufzunehmen. Abgesehen davon, dass unsere Regierung keine Verhandlungen aufnehmen kann, stellt sich die Frage mit wem. Wer will sich noch an Putins langen Tisch setzen und von Putin gedemütigt und lächerlich gemacht werden? Und wie naiv muss man denn sein, um auf die Straße zu gehen und „Frieden schaffen ohne Waffen“ zu skandieren. Frieden kann man nicht ohne Waffen schaffen. Für Frieden muss man kämpfen und wenn es sein muss und nicht anders geht auch mit Leopard 2 Panzern. Verhandeln kann man erst nach einem Krieg, wenn eine Partei gesiegt hat, oder beide Parteien vom Krieg erschöpft sind. So war es nach dem Ersten Weltkrieg und so war es nach dem 30jährigen Krieg.

Und bei alle dem, vergessen diese naiven Friedensstifter, dass die Ukraine den Krieg nicht begonnen hat, und dass sie auch kein russisches Territorium besetzt hält. Die Ukraine kämpft um nicht mehr und nicht weniger als um ihre Freiheit und Unabhängigkeit. Vor allem unabhängig sein von Russland. Und das sollten wir, ja müssen wir unterstützen.

Natürlich muss man die USA kritisieren, wenn sie Kriegsverbrechen verübt, aber warum artet eine solche Kritik bei Leuten wie Oskar Lafontaine und bei anderen in abgrundtiefen Hass und böser Verleumdung aus? Hat denn die Generation von Lafontaine nicht ihre Freiheit und Unabhängigkeit den idealistischen US-Soldaten zu verdanken, die unsere Freiheit mit ihrem Leben bezahlten? Und nicht nur die Menschen in Deutschland, sondern in ganz Westeuropa schulden diesen Dank. Die Menschen in Osteuropa hatten Pech. Sie wurden von Stalins Russland befreit, besetzt und regiert. Sie hatten kein russisches Äquivalent zum Marshallplan. Sie bekamen keine Carepakete aus den USA. Im Gegenteil, die Russen haben alles geraubt und nach Russland verfrachtet, was von Wert erschein. Über eine Million Amerikaner haben ihr Leben geopfert, um Europa vor dem Gift des Nazismus und vor dem italienischen Faschismus zu befreien. Diesen Toten verdanken wir und unsere Kinder und Kindeskinder die Tatsache, dass wir frei in einer liberalen Demokratie aufwachsen und uns entfalten konnten.

Woher kommt jetzt dieser unkontrollierte Hass auf die Amerikaner und die unverständliche Zuneigung und Empathie für Russland, wo doch Russland die Menschen in Ostdeutschland und in ganz Osteuropa nicht besonders zart und freundlich behandelt hatte. Für die Menschen in Ostdeutschland gab es kaum einen Unterschied zum nationalsozialistischen Regime. Die Russen haben die Menschen kaum anders behandelt, als die Nazis, außer, dass man in den russischen Gulags noch eine, wenn auch geringe Chance hatte, zu überleben. Die Russen haben ihre Häftlinge nicht vergast oder brutal ermordet, sondern eher durch Arbeit ausgebeutet. Stalin hatte keine Tötungsfabriken, keine Gaskammern und Verbrennungsöfen. Im Gulag starben die Menschen zwar auch wie die Eintagsfliegen, aber nicht durch Gas, sondern bei der Arbeit. Trotzdem war Russland nicht Nazideutschland. Bei den Nazis reichte, es Jude zu sein. Bei Stalin musste man schon einen Grund für Verhaftung und Deportation nach Sibirien bieten, auch wenn dieser noch so absurd war. Darin hat sich wohl in Russland unter Putin nicht viel geändert. Als mein Vater im Gulag einen Mithäftling fragte, warum er in den Gulag kam, erhielt er zur Antwort: „Weil ich zwei Hemden hatte.“ Das zeigt, wie absurd alles war. Die Verurteilung von Nawalny heute war nicht viel anders. Nawalny wurde verurteilt, weil er zwei Hosen hatte.

Russland und die USA sind zwei Supermächte, die zusammen mit China heute den Lauf der Welt bestimmen. In ihren imperialistischen Bestrebungen unterscheiden sie sich nicht voneinander. Sie folgen ihren eigenen Ambitionen, unterstützen brutale, autokratische   Regime je nach ihrem Interesse und haben keine Skrupel dabei. Sie reden von Freiheit und meinen immer nur ihren eigenen Vorteil. Die Freiheit der anderen interessiert sie wenig. Das goldene Kalb dieser Supermächte sind Kapital und Einkommen. Und wir können sehen, wie Geld die Welt regiert. Die Chinesen haben daraus eine Religion gemacht. Die Russen haben den Reichtum ihres Landes unter einer kleinen Clique von Oligarchen verteilt, die Putin beherrschte, und die ihn zum allerreichsten Mann der Welt machte, dafür, dass er sie das Land ausbeuten lässt. Und in den USA, wo der Kapitalismus zuhause ist, ist jeder Milliardär seines Glückes Schmied. Das Volk ist überall mehr oder weniger arm und lässt sich, wie wir jetzt in Russland sehen, von den Regierungen bzw. Diktatoren in den Krieg schicken, während die Milliardäre in den USA, die Milliardäre in China und die Oligarchen in Russland noch mehr Geld verdienen, wenn man überhaupt von „verdienen“ reden kann.

Bei den russischen Oligarchen kann man sicherlich nicht von „verdienen“ reden. Sie verdienen ihr Geld durch Ausbeutung von Bodenschätzen, die eigentlich dem Volk gehören und Putin verdient mit daran. Insofern ist Krieg nicht ein „endloser Kampf zwischen Gut und Böse“, wie Wolfgang Streeck schreibt, sondern eine endlose Ausbeutung der Erde durch skrupellose Schurken (oder bösartige Narzissten, wie es Otto Kernberg ausdrückt). Es zeigt die menschliche Schwäche, immer dann Stärke zu zeigen und andere Länder zu erobern, wenn man selbst schwach ist. So beginnt die Geschichte mit der Eroberung Kanaans durch die Israeliten und wird vielleicht enden mit dem Versuch der Eroberung der Ukraine durch Putin. Es ging bei allen Eroberern, Josua, Alexander, Cäsar, Karl der Große, Wallenstein, Friedrich der Große, Napoleon, Hitler und jetzt Putin, darum, mehr Land von anderen zu besitzen und mehr Bodenschätze anderer Leute auszubeuten. Um Gut oder Böse ging es nie. Gut war immer der Sieger. Der Besiegte war immer der Böse.

Die Zeitenwende, von der jetzt so viel die Rede ist, besteht darin, dass Putin, „der korrupte Führer eines korrupten Landes“, ein Völker mordender Wahnsinniger wurde. Und Streeck meint, dass er es ohne Anlass geworden ist, dass es eine „pathologische Wende“ war. Ich bin aber überzeugt, dass Streeck sich hier irrt. Putin hatte einen Grund, aber dass dieser mitnichten die Nato war. Es liegen uns keine Beweise vor, dass die Nato geplant hatte Russland anzugreifen. Putin hatte keine Angst vor der Nato, sondern vor der Ukraine. Er hat auch keine Angst davor, dass die Ukraine Russland militärisch angreift, sondern vielmehr davor, dass der Virus der Demokratie, der in der Ukraine zu einer Epidemie wurde, zu einer Pandemie wird, und dass Russland wie von einem Tsunami überschwemmt wird. Putin hatte Angst davor, dass die Demokratie seine eigene Bevölkerung anfällt und dass sie ihn überrollt. Das ist die einfache und überzeugende Wahrheit. Es mag dies glauben wer will und ablehnen wer will.

Putin hat dabei die Ukraine unterschätzt, und die Kampfkraft seiner korrupten Armee überschätzt. Er glaubte, die Ukraine in drei, vier Tagen überrennen, und seine Lakaien in Kiew einzusetzen zu können, bevor die übrige Welt kapiert, was da vor sich geht. Das hat aber nicht funktioniert. Danach hat er den zweiten Fehler gemacht, den Krieg, den er begonnen hat, nicht sofort zu beenden. Wenn er das getan hätte, dann hätte er noch sein Gesicht wahren können. Aber Putin ist nicht der Mann, der eine dumme und totgeborene Operation sieglos beendet. Er lässt weiter seine Soldaten in den Tod marschieren. Hunderttausende russische Soldaten sind gefallen oder verwundet worden. Wofür? Für Putins Ruhm? Am Ende wird es doch Putins Schande sein.

Viele unserer naiven Linken und inzwischen auch der Rechten glauben, dass es für die Ukraine ein Traum bleiben wird, Russland zu besiegen. Wolfgang Streeck geniert sich nicht einmal vom „Endsieg über Russland“ zu schreiben. An einem „Endsieg“ haben die Nazis wegen der vielen Niederlagen glauben müssen. Die Ukrainer träumen nicht von Endsieg, sondern nur von der Vertreibung der russischen Invasoren aus ihrem Land. Nicht mehr und nicht weniger. Und man sollte das auch den Ukrainern überlassen, freilich nicht ohne ihnen zu helfen mit Panzer und Munition. Die Debatte bei uns, besonders in Deutschland, über Kriegsziele und Konfliktlösung ist oft peinlich und überflüssig. Es gibt keine gerechten Kriege. Auch der Krieg der Ukrainer, so sehr er gerecht ist, ist ein notwendiges Übel, denn es geht um Freiheit und Unabhängigkeit, und insofern würden die Ukrainer auch kämpfen, wenn deutsche Linke und Rechte sagen würden, dass der Krieg der Ukrainer ungerecht sei. Die Ukrainer kämpfen nicht um Gerechtigkeit, sondern um ihre Unabhängigkeit und ihre Freiheit. Die Ukrainer müssen sich verteidigen und wir müssen sie unterstützen. Waffen sind dazu da andere zu überfallen aber auch Freiheit und Demokratie zu verteidigen.

Besonders in der Kritik linker Idioten stehen die Grünen, die speziell durch ihre Außenministerin Annalena Baerbock sich stark für die Ukraine einsetzen. Die Linke unterstützt Putin. Warum eigentlich? Sie werfen Baerbock vor, dass sie das von Trump aufgekündigte Atomwaffen-Abkommen zwischen dem Iran und dem Westen nicht erneuen will. Zurecht. Wie kann man nach den Erfahrungen mit Putin sehenden Auges zulassen, dass die reaktionären, mittelalterlichen Mullahs in Teheran Atombomben bauen? Diese greisen Führer, die die Frauen im Lande unterdrücken, sind alles andere als zuverlässig und vertrauenswürdig. Und deshalb ist es auch billig und dumm, den Grünen vorzuwerfen, dass nicht ihre Kinder auf den Schlachtfeldern getötet und verstümmelt werden. Gut, dass Streeck uns daran erinnert, dass die Ukrainer auf den Schlachtfeldern getötet und verstümmelt werden. Deshalb müssen wir noch mehr Panzer und noch mehr Munition liefern. Denn es ist billige russische Propaganda, zu behaupten, dass „die ukrainische Regierung und die USA gegen einen Waffenstillstand sind“. Natürlich sind die USA und besonders die Regierung in Kiew, auf die es letzten Endes ankommt, einverstanden, aber erst wenn Putin seine Armee aus dem souveränen Gebiet der Ukraine zurückgezogen hat. Vorher wäre ein Waffenstillstand ein strategischer und politischer Fehler. Streeck meint, dass der Krieg beendet werden sollte, bevor die Wünsche der ukrainischen Regierung in Erfüllung gegangen sind.

Es mag sein, dass manche Deutsche, wenn sie sich vor eine ähnliche Wahl wie die Ukrainer gestellt sähen, einen Unterwerfungsfrieden dem Andauern des Krieges vorzögen. In den fünfziger Jahren und während der Nachrüstungsdebatte wurde bei den Linken in Deutschland das Motto «Lieber rot als tot» populär. Aber unter dem Eindruck von Putins provoziertem Terrorkrieg hat die pauschale pazifistische Lehre von «Nie wieder Krieg» ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit eingebüßt. Inzwischen erkennt eine Mehrheit der Deutschen das Recht der Ukrainer an, Widerstand zu leisten und für die Freiheit zu kämpfen. Schließlich ist bei diesem Kampf auch unsere Freiheit mitgemeint.

Bei vielen der linken Verschwörungstheoretiker ist das Bild von der Welt und besonders vom Ukraine-Konflikt auf den Kopf gestellt. Für sie ist nicht der Mörder, sondern der Ermordete Schuld. Nicht der Faschist Putin ist der Aggressor, sondern der Jude Selenskyj. Das ist für alle anderen schwer zu begreifen, aber die vor Selbstgerechtigkeit und russischer Propaganda aufgeblasenen „Putinversteher“ nehmen darauf keine Rücksicht und erwarten, dass wir ihnen folgen. Linke deutsche Intellektuelle schwafeln über „Lehren aus deutscher Kriegserfahrung“. So heißt es sogar in der Jüdischen Allgemeinen. Die Talkshows in Deutschland berichten pausenlos darüber. Und die Jüdische Allgemeine sagt dazu: „Die Erfahrung aus der deutschen Geschichte heißt, dass der übermächtig scheinende Täter auch mithilfe derer, die scheinbar nur zum Sterben verdammt sind, besiegt werden kann.“ Sich als Opfer ermächtigen zu dürfen, dem Angriffskrieg entgegenzutreten, ist die Lehre aus der deutschen Geschichte. Die Ukrainer kämpfen um Menschenwürde und Freiheit, und es ist deshalb unsere Aufgabe sie darbei zu unterstützen.

Geschichte ereignet sich immer zweimal, konstatierte Karl Marx. Das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Wir erleben heute das zweite Mal, die Wiederholung des deutschen Überfalls auf Russland, das „Unternehmen Barbarossa“ in entgegengesetzter Richtung. Nicht vom Westen nach Osten, sondern von Osten nach Westen. Und die Angreifer sind die ehemaligen Opfer, die jetzt zu Tätern geworden sind. Die Farce besteht darin, dass sie dieselben Fehler machen wie ehemals die Nazis. Sie haben ihre Gegner unterschätzt, und ihre eigene Stärke maßlos überschätzt. Aus einer „Spezialoperation“ ist ein regelrechter Krieg geworden, der bald zwei Jahre andauert und hunderttausende Tote forderte und die totale Zerstörung vieler Städte und Dörfer.

Nur für die Ukraine hat sich nichts geändert. So wie damals die Uklrainer die Freiheit der Sowjetunion gegen die Nazi-Aggression verteidigt haben, so verteidigen sie heute die Freiheit des Westens, zumindest der Westeuropäer, vor der russischen Aggression. Der ehemalige ukrainische Verteidigungsminister Oleksii Reznikov hat seine westlichen Kollegen davor gewarnt, dass Verhandlungen mit Moskau keinen Frieden bringen werden. In einem Artikel für The Guardian erklärt er, dass Wladimir Putin entschlossen ist, die Ukraine vollständig zu zerstören und ihre Bürger in die Russische Föderation zu „assimilieren“. Russland fordert nämlich die Anerkennung der besetzten Gebiete der Ukraine als sein eigenes Territorium im Austausch für das Ende des Krieges.

Er zieht Parallelen zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs, und er vergleicht die Forderungen nach territorialen Zugeständnissen der Ukraine mit den Forderungen der Nazis von 1938, dass die Tschechoslowakei das Sudetenland an das nationalsozialistische Deutschland abtreten sollte.

Moskau habe nie Interesse an einer friedlichen Kooperation mit dem Westen gehabt, solche auch nicht angedeutet, und hat alle Angebote der Zusammenarbeit zurückgewiesen. Dem Westen und besonders Deutschland kann man vorwerfen, dass sie viel zu spät das wahre Gesicht des Kremls erkannt haben. Spätestens nach der Annexion der Krim 2014 hätte man die Absichten Putins erkennen müssen. Bei Hitler war es auch zuerst der Anschluss seiner Heimat Österreich an das Reich, und später des Sudetenlandes. Spätestens dann konnte man die erschreckenden Parallelen der Politik Putins zu jener Hitlers feststellen.

In Deutschland wehrt sich aber eine einflussreiche Gruppe von linken Intellektuellen, Journalisten, prominente Autoren und sogenannte „Putinversteher“ gegen einen solchen Vergleich und überhaupt gegen den Vorwurf Putin hätte den Krieg gewollt und begonnen. Deren Argument ist, dass die USA und die Nato den Krieg provoziert hat und hauptsächlich daran schuld sei. Timothy Snyder, einer der einflussreichsten Russland-Kenner, fragte: „Warum fällt es Deutschland so schwer, von einem faschistischen Russland zu sprechen?“ Warum liest man in der deutschen Presse permanent, dass man Putin nicht reizen sollte und darf. Etwa weil er über Nuklearwaffen verfügt? Über diese Waffen hatte Russland auch verfügt, als es aus Afghanistan flüchten musste.

Bei vielen Linken ist es aber weniger die Sympathie für Russland als Erbe der Sowjetunion, als vielmehr die Antipathie, um nicht zu sagen der Hass gegenüber Amerika als den Staat, der am Vietnam-Krieg schuldig ist. Es ist wohl das Vietnam-Trauma, dass noch bei vielen linken Intellektuellen wie ein Virus steckt und das Denken und Fühlen vergiftet. Wir gingen damals alle auf die Straßen. Wir haben aber nicht gegen die USA oder die Amerikaner protestiert, sondern gegen den völkerrechtswidrigen Krieg, gegen das Abwerfen von Napalmbomben und die totale Zerstörung der Infrastruktur, so wie die Russen es heute in der Ukraine machen. Nur sehe ich leider keine linken Demonstranten, die dagegen protestieren. Ich sehe linke, naive und gehirngewaschene Demonstranten, die dumme und peinliche Parolen für Russland und gegen die Ukraine skandieren und Angst haben Putin zu reizen, weil er Nuklearwaffen hat. Und die berühmt-berüchtigte Publizistin Gabriele Krone-Schmalz lobt Russland, weil es dort im Gegensatz zu den USA keine Todesstrafe gäbe. Das ist wahrlich richtig, aber sie vergisst bei dieser Gelegenheit zu erwähnen, dass Putin keine Todesstrafe benötigt, weil er seine Gegner auch ohne Todesstrafe tötet: Durch Vergiftung, Gasanschläge oder ganz einfache Ermordung (wie im Berliner Tiergarten).

Und Publizisten wie Michael Lüders beschäftigen sich mit der Frage, ob Moral über alles steht, und fragen ihre Leser, warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. Er plädiert für den puren Machiavellismus und fordert unsere Regierung auf, Putin nachzugeben, ihn nicht unnötig zu reizen und Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen. Er nennt die gegenwärtige Politik Heuchelei und lobt Orban, der nur die Interessen seines engen Landes im Auge hat. Ich frage mich freilich, wo wir alle heute stünden, und ob ein Michael Lüders seine gesellschaftskritischen Bücher schreiben könnte, wenn 1941 die Amerikaner beschlossen hätten: Amerika first. Wie sähe die Welt heute aus, wenn Roosevelt sich geweigert hätte, Europa zu helfen, wenn er die Briten und vor allem auch Russland nicht mit Waffen, Munition und Kleidung bis zu Nahrungsmittel unterstützt hätte. Und so wie man damals nicht zulassen konnte, dass Hitler den Krieg gewinnt, so dürfen wir heute nicht zulassen, dass Putin die Ukraine besiegt. Und es reicht nicht die russische Armee aus der Ukraine zu vertreiben. Die russische Armee muss bedingungslos kapitulieren, so wie seinerzeit die Wehrmacht. Putin muss vor einem Kriegsverbrecher-Tribunal gestellt werden und alle, die ihn unterstützt haben wie Lukaschenko ebenso.

Ich bin immer noch der Meinung, dass Moral über alles steht, auch über der Politik. Eine unmoralische Politik ist niemals nachhaltig und ist früher oder später zum Schweitern verurteilt. So erging es Hitler, Stalin, Ceausescu und anderen totalitären Regimen. Ich halte mich da an Winston Churchill, der gesagt hat: Demokratie ist schlecht, aber wir haben nichts Besseres. Es ist halt noch schlechter, wenn Imperien von Einzelpersonen regiert werden. Wir sehen es heute mehr als deutlich an Russland. Putin kann sich grämen und ärgern und er mag vor Wut schäumen, aber die amerikanische Demokratie, so viele Fehler sie auch hat, ist halt für die Menschen in Amerika besser. Sie leben freier, dürfen sagen, was sie wollen und lesen was sie begehren, und das ist schon die halbe Miete. Und es mögen manche Besserwisser das als „Arroganz des Westens“ bezeichnen, aber die Betrachtung Russland durch eine rosa-rote Brille, wie es zum Beispiel Gabriele Krone-Schmalz tut, ist naiv und dümmlich. „Wo bleibt die Dankbarkeit gegenüber Moskau für die deutsche Vereinigung?“, fragt sie. Es bedarf da keine Dankbarkeit. Die Beziehungen zwischen Staaten bestehen nicht aus Liebe und Freundschaft, sondern aus knallharten Interessen. Moskau hat uns damals keinen Gefallen getan, sondern im eigenen Interesse gehandelt. Es war 1989 nicht mehr in der Lage sein Imperium zu halten; deswegen entließ es Deutschland gegen viel Geld aus der gefährlichen Umarmung. Andere Staaten entließ es auch, allerdings für etwas weniger Geld.

Es ist gut und richtig, wenn sich Menschen an die amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam und anderswo erinnern, aber dann sollten sie sich auch der russischen Kriegsverbrechen erinnern, die andere nicht vergessen haben und nicht vergessen können.

Russland verstehen?

Gabriele Krone-Schmalz war einmal eine angesehene und sogar beliebte Journalistin, der man Wissen und Kompetenz nicht abgesprochen hat, wenn es um Russland ging. Diese Zeiten, in denen sie zum Beispiel Bücher wie „An Russland muss man glauben“ oder „Russland wird nicht untergehen“ veröffentlicht hat, sind aber vorbei. An Russland glauben heute nicht einmal alle Russen und wir sehen täglich, wie Russland untergeht. Moralisch ist Russland schon untergegangen, als Putin an die Macht kam. Damals freilich hat GKS es nicht gesehen oder vielleicht nur nicht wahrhaben wollen. Ihr Bestseller von 2015 – Russland verstehen? – in dem es aber mehr um die Ukraine geht als um Russland, erscheint jetzt neu, nachdem der Originalverlag C.H. Beck es nicht mehr haben wollte, im Westend Verlag, der wohl ein Sammelbecken aller Russland bzw. Putin treuen Autoren geworden ist. Das Buch ist stark tendenziös, enthält peinliche russische Narrative und passt sehr gut zum wenigen Wochen vorher erschienen Buch von Jacques Baud, der sein Buch ebenfalls mit der Voraussage beendet: „Am Ende heißt der große Sieger – Wladimir Putin.“ Beide sehen nicht, dass Putin schon verloren hat, noch bevor er angefangen hatte. Es ist eben nicht einfach gegen die ganze westliche Welt zu kämpfen. Denn am Ende entscheidet nicht die Armee, sondern die Stärke der Wirtschaft den Ausgang des Krieges. Und die Allianz, die hinter der Ukraine steht, insbesondere die USA, kann in einem Monat mehr Panzer produzieren als Russland in einem Jahr.

Kann man Russland verstehen? Nein! Ich bemühe mich schon seit Beginn des Überfalls auf die Ukraine, Russland zu verstehen, aber ich versteh leider nichts.  In Ihrem Buch – Russland verstehen? – Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens – schreibt Gabriele Krone-Schmalz von der vermeintlichen Arroganz des Westens, der USA und der NATO und offenbart mehr als deutlich ihre eigene Arroganz und Selbstgefälligkeit. Sie urteilt sehr einseitig und blickt immer vom Osten in den Westen, nie umgekehrt. Nun gut, sie liebt Russland. Aber auch ich hasse Russland nicht, zumal ich in Samarkand geboren wurde, als es noch russisch war. Der russische Diktator Stalin hat meine Eltern vor Hitler gerettet, obwohl er nicht viel besser war. Auch er war wie sein heutiger Nachfolger Wladimir Putin nur eine Inkarnation von Iwan dem Schrecklichen.

Ich könnte das Buch mit einem Satz rezensieren, mit der Überschrift von Franz Werfels Erzählung „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig.“ Nicht Putin, die Ukraine ist schuldig, und vor allem der Westen, die USA und die NATO. Und worin besteht die Schuld der Ukraine? Die Menschen dort wollten die westliche Demokratie haben und frei sein. Aber der „lupenreine Demokrat“ Putin sah darin eine Gefahr für sich und sein autokrates Regime. Er hatte und hat Angst vor einem Virus, der keine Grenzen kennt und der wie die Corona sich über Grenzen verbreitet. Dieser Virus heißt Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenwürde. Zwar hat schon Winston Churchill gesagt, dass Demokratie „Shit“ sei, aber noch gibt es nichts Besseres. Und solange der Mensch nicht vom Brot allein lebt, braucht er auch die Freiheit zum Überleben. Natürlich ist das sehr einfach und manche werden sagen oberflächlich ausgedrückt. Aber muss denn die Welt kompliziert, verlogen und zynisch sein? Wäre es nicht besser man würde alle Religionen und Ideologien beiseiteschieben und sich nur nach dem Kant’schen Motto, das der zweitausendjährigen Lehre von Rabbi Hillel folgt: Tue Deinen Nächsten nicht das an, was Du nicht willst, dass man es dir antut. Wenn die Menschheit sich danach richten würde, dann hätten wir FRIEDEN.

GKS vergisst in ihrem Buch zu erwähnen, dass Putin seinen eigenen russischen Bürgern diese Freiheit und diesen Frieden nicht gewährt. Warum sollen also die Ukrainer Putin vorziehen. Ihre Republik war auch korrupt, aber es ist ihre Republik und sie geben sich Mühe.

GKS leidet aber an einer „selektiven Wahrnehmung“. Sie nimmt nur noch das wahr, was sie wahrnehmen möchte und was in ihrer Interpretation der Geschichte passt. Sie beschwört den Leser, dass „verstehen nicht identisch ist mit Verständnis haben. Wer so vehement uneingeschränktes Verständnis und ebenso Unterstützung für die Ukraine äußert, hat die Ukraine gar nicht verstanden.“

Es mag also sein, dass ich die Ukrainer nicht verstanden habe und nicht verstehe, aber dennoch habe ich mich entschieden die Ukraine zu unterstützen, denn die Arroganz dieser Russland Versteherin und Unterstützerin geht mir gegen meine Überzeugung. Sie fragt gleich im ersten Satz ihres neuen Vorwortes, „wie ist es um die politische Kultur eines Landes bestellt, in der ein Begriff wie „Russlandverstehen“ zur Stigmatisierung und Ausgrenzung taugt? Muss man nicht erst einmal etwas verstehen, bevor man es beurteilen kann?“

Natürlich muss man erst verstehen, wobei ich vor „verstehen“ das Wort „zuhören“ setzen würde. Es geht aber nicht um „Verstehen“, denn eine mutwillige brutale und barbarische Zerstörung eines ganzen Landes kann man nicht verstehen. Was gibt es da zu verstehen? Wir sehen die Bilder, sind erschrocken und entsetzt, weinen mit um die unschuldigen Opfer und sollen die Täter verstehen? Würde GKS auch fordern, dass wir Hitler oder Himmler verstehen sollten? Was gibt es an Auschwitz zu verstehen? Da kann man sich noch so anstrengen, man kann es nicht verstehen, außer feststellen, dass da ein Volk, die Deutschen, in eine Barbarei gerutscht ist, die man nicht erklären kann.

Über die Nazibarbarei sind schon tausende Bücher geschrieben und die abenteuerlichsten Erklärungen erdacht worden und trotzdem bleibt es ein Trauma. Und so ist es und wird es auch werden mit der gegenwärtigen russischen Barbarei und Verlust sämtlicher zivilisatorischer Normen, Gesetze und Grenzen.

Russland führt einen unnötigen, absurden und völkerrechtswidrigen Krieg gegen eine zivile Bevölkerung, gegen alte Menschen, Frauen und Kinder. Russland zerstört die Infrastruktur der ukrainischen Zivilbevölkerung, bombardiert Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, Theater, Supermärkte und noch viel mehr. Selbst wenn alles stimmt, was GKS der NATO, der USA und nicht zuletzt auch Deutschland vorwirft, stellt sich mir die Frage, ob dieser brutale und barbarische Krieg gegen die Ukraine notwendig war. Es geht eben Russland nicht um eine stabile Sicherheitspolitik, wie die Autorin behauptet, sondern schlicht und einfach um imperiale Ambitionen. Und das ist nicht meine persönliche Meinung, sondern das, was Putin seit Jahren schreibt und sagt. Er möchte Russland wieder groß, den verlorenen Einfluss auf seine Nachbarn wieder gewinnen, bis zur deutschen Grenze, bis zurück zur Macht über Ostdeutschland, Polen und den baltischen Staaten.

Und selbst die Tatsache, dass Russland am 24. Februar 2022 den Krieg begonnen hat, relativiert GKS, indem sie Klaus von Dohnanyi zitiert, der gesagt hat, dass Russland zwar den Krieg begonnen, aber dass der Westen die Voraussetzungen dafür geschaffen habe. Das ist es, was ich meine: „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig“ Und wieso ist er schuldig? Weil er lebt und frei leben will.

Und sie zitiert auch Egon Bahr, der gesagt hat: „Sicherheit ohne Russland wird es auf unserem Kontinent nicht geben und Sicherheit gegen Russland schon gar nicht.“ Aber Sicherheit mit einem nationalistischen und aggressiven Russland offenbar auch nicht. Und auch nicht mit einem Russland, dass ähnlich wie Israel, dauernd und grundsätzlich davon ausgeht, dass die ganze Welt Russland vernichten möchte.

Seit 2014 tobt ein Krieg im Osten der Ukraine mit all dem Elend, dass wir jetzt überall in der Ukraine sehen. Zerstörte Wohnblocks, kaputte Infrastruktur, kein Wasser, Keine Heizung, tote und schwerverletzte Menschen, weinende Kinder und streuende Hunde. Und um zu suggerieren, dass die Ukrainer, womöglich der Jude Selenskji, daran schuld sind, versäumt GKS es nicht von einem Denkmal für Kinder zu schreiben, dass seit 2017 in Donezk steht, „auf dem fast 200 Namen stehen.“, die Opfer von „ukrainischen“ Bombardierungen geworden sind. Haben denn die russischen Separatisten nicht getötet? Gab es nur russische Opfer? So wird aber Geschichte interpretiert, wenn man nur sieht, was man sehen will.

Von den zigtausenden Toten, die die russischen Bombardements bisher verursacht haben und von zigtausenden Kindern, die ihren Familien entrissen und nach Russland entführt wurden, kein Wort. „Russland ist ein freundlich gesinntes europäisches Land“, zitiert sie Wladimir Putin und schreibt in ihrem neu verfassten Vorwort zur neuen Ausgabe von 2023, dass es in Russland keine Todesstrafe gibt: „In Russland gibt es im Gegensatz zu den USA, China und dem Iran zum Beispiel keine Todesurteile. Und zwar schon seit 1999.“ Dabei braucht Russland gar keine Todesstrafe. Die Regimegegner kommen auch so ums Leben. Dafür sorgt „Iwan der Schreckliche“ höchst persönlich. In Russland werden Regimegegner, Journalisten, unbequeme Oligarchen und zuletzt sogar ein Weltraumwissenschaftler, dessen Sonde am Mond zerschellt ist, nicht zu Tode verurteilt: sie werden vergiftet, erschossen oder landen im Auftrag von Putin lebenslänglich in Arbeitslager in Sibirien, wo sie wie Eintagsfliegen sterben. Und natürlich kein Wort von Navalny, den Putin vergiften wollte und der jetzt wohl so lange in einem Arbeitslager weilen wird, wie Putin noch lebt. Und natürlich kein Wort von Chodorowskji, den Putin jahrelang in einem Arbeitslager festhielt und ihn aus Russland verwies, nachdem er sein Vermögen gestohlen hat.

Und natürlich wiederholt sie die Kremllügen, dass es allein die Entscheidung Deutschlands gewesen ist auf russisches Gas zu verzichten. Sie schreibt: „Aus Solidarität mit der angegriffenen Ukraine und um – wie es hieß – nicht mit dazu beizutragen, die russische Kriegsmaschinerie zu finanzieren, hat Deutschland relativ frühzeitig angekündigt, auf russisches Gas und Öl verzichten zu wollen. Nichtdestotrotz hält sich in der Berichterstattung aber hartnäckig die Version, Russland habe Deutschland den Gashahn abgedreht.“ Ich kann mich aber erinnern, dass von „verzichten wollen“ damals keine Rede war. Eher von verzichten müssen, denn Putin hat schon begonnen die Gasmengen massiv zu reduzieren. Und GKS lässt nicht locker und schreibt als Antwort auf eine Börsensendung vom 3.7.2023, wonach der Krieg die Energiepreise verteuert hat: „Nein, unsere Entscheidung auf russisches Gas zu verzichten, hat die Energiepreise verteuert und nicht zuletzt auch die Sprengung von Nord Stream 1 und 2.“ So kann man auch Geschichte fälschen. Den Krieg ausblenden und dem Leser suggerieren, dass Nord Stream 1 und 2 noch Gas transportierten und weil sie gesprengt wurden, das Gas teurer wurde. In Wahrheit hat Russland schon lange kein Gas mehr geliefert als das geschah.

GKS kommt mir vor wie der vermeintliche russisch-schweizer Agent Jacques Baud, der in seinem ebenfalls im Westend Verlag erschienen Buch – PUTIN, Herr des Geschehens? – behauptet, dass Russland ein „wirtschaftsliberaler Staat“ sei. Dabei ist Russland so wirtschaftsliberal wie Nord-Korea und es mag sein und sieht sogar so aus, dass Putin in Russland Herr des Geschehens ist, nicht aber auf den Schlachtfeldern in der Ukraine. Er wollte Kiew in 4 Tagen erobern und die Ukraine von der Landkarte ausradieren. Das ist ihm nicht gelungen und wird Russland und Putin auch nicht mehr gelingen. Spätestens jetzt kommt mir der Verdacht, dass das neue Vorwort von Putins Experten geschrieben wurde. Ich würde mich auch nicht wundern, wenn Putins Propaganda solche Reinwaschungen fördert oder gar finanziert. Hauptsache Putin wird nicht nur sauber, sondern auch rein.

Bei GKS spürt man auch die anti-westliche, besonders anti-amerikanische Einstellung und ich frage mich warum. Natürlich muss man nicht mit der amerikanischen Politik einverstanden sein. Auch ich war auf unzähligen Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg, gegen Präsident Nixon und seinen Außenminister Kissinger. Aber ich habe nicht gegen Amerika demonstriert, wie ich auch heute nicht gegen Israel demonstriere, sondern immer gegen eine Politik und ihre Wirkung. Ich muss gestehen, dass ich Demonstrationen gegen den russischen Überfall vermisse. Stattdessen demonstrieren naive und leider auch dämliche Deutsche gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Ich habe nie etwas davon gehört, dass in den USA 1941 irgendjemand gegen Waffenlieferungen an die UdSSR protestiert hat.

Sie verheimlicht auch nicht ihre Antipathie gegenüber den ukrainischen Präsidenten, der zufällig auch Jude ist, und schon wenige Tage nach dem Überfall öffentlich äußerte, man könne sich einen neutralen Status der Ukraine vorstellen. Putin traut aber dem „ethnischen Juden“ Selenskji. Er behauptet dieser sei von den Westmächten „installiert“ worden, um von den Nazis, die dort die Politik lenken, abzulenken.

GKS fragt warum Selenskji erst 4 Tage nach Kriegsbeginn einen solchen Vorschlag macht. Warum fragt sie nicht Putin, weshalb er dieses Angebot nicht akzeptiert hat?  Warum mutmaßt sie zynisch: Weil russische Truppen kurz vor Kiew standen? Und wenn schon? Natürlich weil russische Truppen kurz vor Kiew standen. Und das ist wohl auch der Grund, warum Putin nicht geantwortet hat. Und was tut Putin jetzt, wo ukrainische Truppen kurz vor der Krim stehen?

Und trotzdem versuch GKS Putin zu entlasten, ihn nicht nur sauber, sondern reinzuwaschen, wie schon Gerhard Schröder ihm bescheinigt hat ein „lupenreiner Demokrat“ zu sein. Sie ruft uns zur Erinnerung, dass kurz vor dem Überfall 60 000 bis 80 000 ukrainische Soldaten auf der Krim „standen“. Wo sollten sie sonst stehen? Schließlich gehörte die Krim den Ukrainern. Naiv und fast schon zynisch fragt sie: „Könnte die russische Strategie darauf aus gewesen sein, einen Angriff auf die östlichen Gebiete und die Krim vorzubereiten?“ Heute wissen wir, dass genau das die russische Strategie war.

2014 schrieb sie: „Wie wahrscheinlich ist es, dass Putin einen Eroberungsfeldzug durch die Ukraine antritt?“ Und sie antwortet gleich: „Da ist es doch sehr viel billiger eine Brücke zwischen russisches Festland und der Krim zu bauen.“

Die Brücke wurde gebaut und zum Feldzug ist es trotzdem gekommen, durch eine Fehlwahrnehmung von Putin. GKS meint allerdings, dass es eine Fehlwahrnehmung von Putins Absichten durch den Westen war. Wahrscheinlich sogar absichtlich. Aber was spielt das heute noch für eine Rolle. Russland bzw. Putin ist weit davon entfernt seine Ziele zu erreichen und nach den barbarischen Kriegsverbrechen in Butscha und anderswo ist ihm auch der Weg zurück in die europäische Völkergemeinschaft versperrt. So wie man einem Adolf Hitler nie verziehen hätte und man seinen inneren Kreis an Helfer und Mittäter vor Gericht gestellt hat, so muss man auch Putin und seine Helfer und Mittäter vor Gericht stellen. Bei einigen wird es nicht möglich sein, weil Putin für deren Beseitigung schon selbst gesorgt hat.

Und so wie man keine Politik aus Angst vor eine Atombombe machen kann und darf, so braucht man auch keine Angst zu haben, dass man keine Politik machen kann ohne Russland. Man konnte Politik machen auch ohne Deutschland und die Völkergemeinschaft hatte die Geduld zu warten, bis Deutschland sich vom Nazidreck halbwegs befreit hat. So müssen wir auch jetzt Russland bis zur bedingungslosen Kapitulation bekämpfen und dann wie ein Kind an der Hand nehmen und in die Demokratie führen, auch wenn es ein sehr mühsamer und Dornen reicher Weg sein wird.

Abraham Melzer, 06.09.2023