Der Skandal ist der Skandal

Von Abraham Melzer

Seit mehr als 50 Jahren beschäftige ich mich mit dem Nahost-Konflikt und mit dem Problem des Antisemitismus, vor allem in Deutschland. Früher, in meiner Jugend, war allen klar, was Antisemitismus bedeutet und wer ein Antisemit ist: Nämlich derjenige, der Juden hasst und sie beseitigen will. Auch das „Beseitigen“, ersatzweise ihr. „vernichten, ermorden,  endlösen“ war ein unmissverständliches Anliegen. Es ist ein Verbrechen und muss vom Staat verfolgt und bestraft werden. Das mit dem Hass ist aber nicht so einfach, denn Hass kann man nicht erkennen; er fällt schließlich unter die Gedanken- und Gefühlsfreiheit, die wie gesagt, frei sind.

Der Begriff des Antisemitismus hat sich im Verlauf der letzten fünfzig Jahre völlig gewandelt. Er hat mehrere Metamorphosen erlebt und bewältigt. Was früher Judenhass bedeutete, bedeutet 50 Jahre später Kritik an der israelischen Politik. Aktuell mutiert er in reine Kritik am Vorgehen der Israelis gegen die Hamas und in Kritik am Krieg Israels schlechthin. Mehr noch, schon der Umstand, dass der amerikanische Filmemacher Ben Russel, der für seinen Film „Direct Action“ mit einem Palästinensertuch bei der Preisverleihung aufgetreten ist, reichte aus, ihn als Antisemiten hinzustellen.

Auch ein israelischer und ein palästinensischer Filmemacher bekamen für ihren Dokumentarfilm „No Other Land“, der die Brutalität der israelischen Besatzungstruppen im Westjordanland zeigt, den Dokumentarfilmpreis der Berlinale. Sie empfingen auch den Panorama-Publikum Preis, wurden dafür kritisiert und schließlich als Antisemiten abgefertigt, weil der israelische Regisseur Yuval Abraham es gewagt hatte zu bemerken, dass bei Rückkehr in ihr Land für seinen palästinensischen Partner und Kollegen Basel Adra im besetzten Westjordanland nicht dasselbe Recht gelte, wie für ihn in Israel. Basel Adra seinerseits beging den unverzeihlichen und für viele einen antisemitischen Fehler, als er zum Ausdruck brachte, dass es ihm schwer falle, den Preis zu feiern, während in Gaza weiterhin Menschen getötet werden, nur weil sie Palästinenser sind. Das war wohl zu viel für die zarten Ohren der deutschen Gutmenschen, die nicht hören wollen, wenn palästinensisches Leid thematisiert wird.

Yuval Abraham schrieb in einem offenen Brief am 27.02.2024:

„Ein rechtsgerichteter israelischer Mob kam gestern (26.2.24) in das Haus meiner Familie, um nach mir zu suchen. Er bedrohte enge Familienmitglieder. Dies geschah, nachdem israelische Medien und deutsche Politiker meine Rede auf der Berlinale – in der ich die Gleichberechtigung von Israelis und Palästinensern, einen Waffenstillstand und ein Ende der Apartheid forderte – absurderweise als „antisemitisch“ bezeichneten. Ich bekomme Morddrohungen und musste meinen Heimflug absagen.“

Politiker, Professoren, Journalisten und Redakteure fühlten sich sofort in der Pflicht, nach angelerntem Schema  zu reagieren; sie alle schrien auf: „Haltet den Dieb, er ist ein Antisemit.“  Bestärkt wurden sie durch die Tatsache, dass es linientreue „Gutmenschen“ auch in Israel gibt, die den israelischen Regisseur Yuval Abraham als „Antisemit“ verunglimpften. Israel wird mehr und mehr zum dem, was der berühmte und gefürchtete Kritiker der israelischen Politik, Prof. Yeschajahu Leibowitz  schon vor Jahren vorausgeahnt hat: Ein Land von Judeo-Nazis. Rückblickend gesehen wurde Professor Leibowitz zu einem Proto-Antisemiten neuer Art.

Je deutscher der Politiker, desto eifriger nutzt er die Chance, um sich in den Medien zu produzieren. Die Medien ihrerseits hatten endlich ein Skandalthema, und hatten nichts anderes zu tun, als vom Berlinale-Skandal zu berichten. So sprach Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner, der mit seiner Bildung leider im Kindergarten steckengeblieben zu sein scheint, von einem „untragbaren Relativieren“. Er vergaß zu erwähnen was im verteufelten Dokumentarfilm wohl „relativiert“ worden sei. Er nannte das Geschehen eine „perfide Täter-Opfer-Umkehr“, wie sie Franz Werfel in seiner Novelle: „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuld“ beschrieben hatte. Nach Kai Wegner sind die Israelis edel, vollkommen und immer unschuldig. Die Palästinenser sind schuldbeladen, wohl deswegen, weil sie den Juden ihr Land nicht auf einem silbernen Tablett servierten, sondern selbst heute noch, nach mehr als siebzig Jahren um ihr Land, um ihren Grund und Boden, um ihre Freiheit und Würde kämpfen.

Die Palästinenser sind also die Täter, und die Israelis sind ihre Opfer. Ein anderer, mit dem ich in der Regel absolut nicht übereinstimme, Henryk M. Broder, hat sogar gesagt: „Es stimmt, die Israelis sind Täter“, und er fügte zynisch und geschmacklos hinzu, „Aber Tätersein macht Spaß!“ Kai Wegner, der keine Ahnung hat sollte sich besser informieren, wenn er weniger dümmliche und peinliche Statements von sich geben möchte.

Aber auch die Grünen- und FDP-Politiker Konstantin von Notz und Linda Teutenberg meinten, der Genozid-Vorwurf angesichts von nur 30.000 Toten Palästinenser, darunter 12.000 Kinder, sei „absurd“,  und ein „Gefasel vom Genozid“. Müssen es immer erst Millionen werden, um als Genozid bezeichnen werden zu dürfen? Dreißigtausend sind nicht der Rede wert, zumal es sich noch nur um Palästinenser handelt, die der israelische Präsident unter die „Tiere in Menschengestalt“ gerechnet hatte.

Es melden sich aber noch viel mehr pro-israelische Stimmen zu Wort, die als Gutmenschen wahrgenommen werden wollen. Nicht wenige halten sich tatsächlich für gute Menschen, wenn sie die bestialischen Taten der Hamas verurteilen und die nicht weniger bestialischen Taten der israelischen Armee verschweigen. Christian Tretbar, der Chefredakteur des Tagesspiegels bezeichnet die Preisverleihung: „Peinlich, beschämend, verstörend, propagandistisch und eine Pro-Palästina Show.“ Wenn es eine amtlich genehmigte „Pro-Israel-Show“ gewesen wäre, hätte er sie vermutlich ignoriert, denn diese wäre dann politisch korrekt gewesen. Eine „spontane“ Pro-Palästina-Show kommt einem blanken Antisemitismus gleich. Es ist Tretbar wohl entgangen, dass das, was er geschrieben hat, peinlich, beschämend und propagandistisch ist, nämlich fast wörtlich bei der israelischen Hasbara abgeschrieben.

Und für NZZ-Redakteur Alexander Kissler, der genauso gut zur Bildzeitung passen würde, war die Berlinale ein „Klassentreffen der Israelhasser“. Man fragt sich warum er nicht gleich „der Judenhasser“ geschrieben hat. Judenhass ist, frei nach Michel Friedman, das neue-alte Wort für Antisemitismus, nachdem sich dieser immerhin mehr als 150 Jahre bewahrt hat, und jetzt vollkommen umgewertet worden ist. Haltlose Gesinnungsverdächtigungen von Leuten wie Michel Friedman, Charlotte Knobloch, Josef Schuster und seitens anderer „ehrenwerter“ Juden haben es zustande gebracht, dass sogar Juden als „berüchtigte Antisemiten“ diffamiert werden können, als diese es gewagt haben sich von der israelischen Regierungspolitik zu distanzieren, wie zum Beispiel mich. Wenn auch Juden Antisemiten sein können, umso mehr können es auch Nichtjuden sein.

Die Liste solcher und ähnlicher Äußerungen ließe sich beliebig fortführen. Es begann schon letztes Jahr bei der documenta, wo die Freiheit der Kunst und die Freiheit der eigenen Meinung heftig attackiert wurde und aus Banalitäten Antisemitismus konstruiert wurde. Ein Vorwurf, den nicht-deutsche Künstler überhaupt nicht verstehen können. Und schon bei der documenta erhoben sich Stimmen dämlicher und kulturloser Politiker und Journalisten, dass man in Deutschland die Kulturpolitik „sehr genau beobachten“ muss und im ernsten Fall die finanziellen Mittel entziehen sollte. Mit Geld lässt sich eben alles regulieren. Dr. Josef Goebbels kontrollierte die Kunst und Meinung über Papierzuteilungen, Nancy Faeser will es über Zuwendungen an Geld organisieren.

Philipp von Becker schreibt in den Nachdenkseiten: „Für Union und Publikationen der Axel Springer SE – die im Übrigen mit illegalen israelischen Siedlungen Geld verdienen – mögen Rassismus und Zensuraufrufe noch als trauriges „business as usual“ zu verbuchen sein. Doch dass auch weite Teile der sogenannten „bürgerlichen Presse“ sowie Vertreter ehemals als „links“ geltender Parteien nicht auf die Idee kommen, dass der Protest herausragender Filmkünstler auf einem der wichtigsten Filmfestival der Welt nichts mit Antisemitismus, sondern mit 30.000 getöteten Menschen (davon 12.000 Kindern), einem komplett zerstörten Gazastreifen, 1,7 Millionen Vertriebenen, Jahrzehnten Apartheid, einer von Hungersnot bedrohten Bevölkerung und offen geäußerten genozidalen Absichten einer rechtsextremen Regierung zu tun hat, ist ein erbärmliches Schreckenszeugnis für eine sich für demokratisch und aufgeklärt haltende Gesellschaft.“

Das ist der Skandal.

Und von Becker führt fort: „Die traurige Realität hierbei ist: Nicht diejenigen, die gegen die Kriegsverbrechen einer rechtsextremistischen Regierung und Jahrzehnte Apartheid protestieren, sondern diejenigen, die dies weiterhin rechtfertigen, sind diejenigen, die Antisemitismus befördern und mit ihren haltlosen Anschuldigungen den Antisemitismusbegriff vollkommen entwerten.“ Er kann damit nur diejenigen meinen, die auch ich seit Jahren anprangere. Es sind die inzwischen zahllosen gewordenen Antisemitismusbeauftragten, die von Politiker bestallt und vergattert werden. Zum Teil sind die Krypto- Antisemiten, zum Teil glühende Philosemiten, wobei ihre Glut das gleiche verderbliche Ergebnis hat.

Es ist gefährlich für Deutschland, wenn das deutsche Kulturleben von hörigen Beamten und von Israels Geheimdienst gemanagt wird.  Kulturignorante jüdische Funktionären wie Charlotte Knobloch oder Josef Schuster wollen bestimmen, dass jede noch so vorsichtig vorgetragene Kritik an Israel und seiner rechtsradikalen Regierung als Antisemitismus ausgemacht wird. Wenn man es ihnen nachsehen will, weil es ja ihr Job ist und weil sie dafür gedungen sind und besoldet werden, dann ist es umso schlimmer, dass die deutschen Medien hier mitmachen. Sie verschaffen diesen objektiv unbedeutenden Funktionären und politischen Zwergen eine Bühne.

Leider ist es der jüdischen Funktionärin Charlotte Knobloch gelungen, dass die Stadt München, als einzige Stadt in Deutschland und weltweit, das Anbringen von Stolpersteinen nicht zulässt. Knobloch ist es gelungen den Münchner Stadträten, quer durch alle Fraktionen und seit Jahren, einzuimpfen, dass das Treten auf einem Stolperstein ein antisemitischer Akt sei. Und das erinnert an den ehemaligen israelischen Botschafter in Washington, der auf die Frage was sein größter Erfolg während seiner Amtszeit als Botschafter Israels gewesen sei, geantwortet hat: „Es ist mir gelungen die amerikanische Administration davon zu überzeugen, dass Kritik an Israel Antisemitismus sei.“

Das hat die deutsche Szene in vorauseilendem Gehorsam übernommen und setzt es täglich um.

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert