IM NAMEN DER THORA – Die jüdische Opposition gegen den Zionismus

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NAHER OSTEN/NORDAFRIKA

Bis zum Äußersten entschlossen
Israels Regierung treibt ihre umstrittene Justizreform trotz Massenprotesten voran. Das Risiko einer Eskalation steigt mit jedem Tag.
Schon seit Beginn des Jahres demonstrieren Israelis gegen die Neuordnung von Staat und Gesellschaft, die das rechts-religiöse Kabinett Netanjahu vorantreibt. Mit markanten Slogans „Demokratia“ – „Schande“ (für die Regierung) – „Wir werden siegen“ – „Wir sind die Mehrheit“ wenden sie sich insbesondere gegen den Umbau der Justiz. Denn dieser würde die Gewaltenteilung aushöhlen und so den Weg zu
einer illiberalen Demokratie ebnen. Im Juni scheiterten die Bemühungen des israelischen Präsidenten Jitzhak Herzog, einen Kompromiss zwischen Regierung und Opposition zu den Hauptpunkten der Reform zu vermitteln. Seither treibt die Regierung
den Justizumbau nicht mehr durch ein umfassendes Gesetzespaket, sondern durch einzelne Gesetzesvorlagen voran. Um dies zu verhindern, hat die Protestbewegung im Juli ihre Aktivitäten ausgeweitet und verschärft. Zusätzlich zu den wöchentlichen Massendemonstrationen in den größeren Städten Israels hat diese Woche schon zum zweiten Mal ein „Tag des Widerstands“ stattgefunden, an dem Autobahnen und
Bahnhöfe blockiert und landesweit digitale Dienstleistungen gestört wurden. Reservisten aus Eliteeinheiten der Armee – unter anderem Kampfpiloten – kündigten an, nicht länger zu dienen, sollte die Regierung die Gesetzgebung durchpeitschen.
Ihr Störpotenzial – und damit ihr politisches Gewicht – verdankt die Bewegung dem breiten Bündnis, das sie repräsentiert. Denn es vereint Vertreterinnen und Vertreter aus den entscheidenden Bereichen Politik, Wirtschaft, Sicherheit und Zivilgesellschaft Israels. Obwohl von der zionistischen Linken organisiert, findet es breite Unterstützung auch im Zentrum und bei der liberalen Rechten. Die Sprecherinnen und Sprecher
bei den Protestkundgebungen bilden genau diese Breite ab. So traten etwa am letzten Samstag in Tel Aviv der ehemalige Finanzminister im Kabinett von Netanjahu, Dan Meridor, auf, und es sprachen unter anderem Repräsentantinnen und Repräsentanten der Reservisten und der Hightech-Industrie.
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Dem Bündnis geht es darum, Israels politische und gesellschaftliche Ordnung zu bewahren, nicht sie zu verändern. Dem Bündnis geht es darum, Israels politische und gesellschaftliche Ordnung zu bewahren, nicht sie zu verändern. Dazu beruft es sich auf den in der Unabhängigkeitserklärung proklamierten „jüdischen und demokratischen Staat“. Damit einher geht, dass von den Podien die inhärenten Spannungen nicht artikuliert werden: weder das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Säulen „jüdisch“ und „demokratisch“ im Inneren Israels noch die Tatsache, dass rund fünf Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser unter einer auf Dauer angelegten Besatzung kein Mitspracherecht im israelischen Entscheidungsprozess haben. Zwar ist bei den Protesten ein Antibesatzungsblock präsent, dieser wird aber eher toleriert als
willkommen geheißen.
Derzeit geht es der Protestbewegung in erster Linie darum, die von der Regierung beabsichtigte Aufhebung zentraler Rechtsprinzipien und die Veränderung der Verfahren bei der Ernennung der Richterinnen und Richter des Obersten Gerichts zu stoppen. Denn diese würden die Unabhängigkeit der Justiz unterminieren und ihre Kompetenzen bei der Überprüfung von Regierungshandeln und bei der Ernennung von Personal einschränken. Konkret soll noch vor der Sommerpause der Knesset – also nächste Woche – ein Gesetzentwurf verabschiedet werden, der dafür sorgen soll, dass die Anwendung der sogenannten Angemessenheitsklausel als leitendes Rechtsprinzip deutlich eingeschränkt wird.
Was sich zunächst technisch anhört, wäre ein entscheidender Schritt, um die Rechtsstaatlichkeit zu unterminieren. Denn das Prinzip der Angemessenheit spielt eine wichtige Rolle in Israels Regierungssystem. Es bildet die Leitlinie für das Oberste Gericht bei der Überprüfung von Regierungshandeln, sei es bei der Ernennung von Regierungsmitgliedern, sei es bei der Ernennung von Rechtsberaterinnen und -beratern in den Ministerien (die wiederum eine entscheidende Funktion bei der Wahrung rechtsstaatlichen Handelns haben), sei es bei Politik- oder Personalentscheidungen, die die Regierung trifft. Zu Letzteren könnte zum Beispiel die Entlassung eines unliebsamen Generalstaatsanwalts gehören – also der Person, die derzeit die diversen Anklagen wegen Vorteilsnahme und Korruption gegen Premier Netanjahu vertritt.
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Noch ist unklar, ob es der Protestbewegung gelingen wird, die Gesetzesvorhaben zu
stoppen. Weitere Gesetzentwürfe sollen nach der Sommerpause eingebracht werden. Dazu gehört vor allem einer, der auf die Veränderung in der Zusammensetzung des
Gremiums abzielt, das die Richterinnen und Richter (nicht zuletzt des Obersten Gerichts) ernennt. Dabei soll der Einfluss der Regierungsbank zulasten der Opposition
ausgeweitet und die Beteiligung der Juristen- /Anwaltsverbände und der Richter des
Obersten Gerichts zurückgedrängt werden. Es geht also darum, künftig Besetzungen der Gerichte zu ermöglichen, die in erster Linie politischen Prioritäten entsprechen, statt auf professioneller Qualifikation zu beruhen, und die nicht wie bislang aus einem
Kompromiss zwischen Regierung und Opposition hervorgehen. Ein weiterer
Gesetzentwurf zielt auf die Einschränkung der Kompetenzen bei der Normenkontrolle
durch das Oberste Gericht ab sowie auf die Möglichkeit, diesbezügliche
Gerichtsentscheidungen mit einfacher Mehrheit der Knesset zu überstimmen.
Gelingt es dem Kabinett Netanjahu im Wege der Salamitaktik, die genannten Vorhaben zum Umbau der Justiz umzusetzen, werden die entscheidenden Mechanismen außer Kraft gesetzt, die bis dato zur Verfügung stehen, um im israelischen System rechtsstaatliches Handeln abzusichern. Damit wäre der Weg in eine illiberale Mehrheitsdemokratie ohne effektiven Minderheitenschutz vorgezeichnet. Denn in Israel
existieren keine anderen effektiven Gegengewichte zum Regierungshandeln: weder eine horizontale Gewaltenteilung (wie etwa in den Präsidialdemokratien der USA oder Frankreichs) noch eine vertikale Gewaltenteilung (wie etwa im föderalen System der Bundesrepublik) noch ein verfassungsrechtlich geschützter Menschenrechtskern oder
suprastaatliche Kontrollorgane (wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte).
Noch ist unklar, ob es der Protestbewegung gelingen wird, die Gesetzesvorhaben zu stoppen oder zumindest einmal mehr auf Eis zu legen und damit einen neuen Vermittlungsprozess oder eine Volksbefragung zu erlauben. Aber es hat den Anschein, als ob beide Seiten – Regierung und Protestbewegung – zum Äußersten entschlossen
sind, um in dieser Konfrontation zu obsiegen. Dies birgt auch das Risiko
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von Gewalt. Denn je mehr das Anti-Bibi-Bündnis seine disruptive Macht einsetzt, desto stärker dürfte die Regierung auf die Mobilisierung ihrer Anhängerschaft setzen, unter anderem unter der teils radikalisierten und bewaffneten Siedlerbevölkerung.
Zudem überdeckt die Mobilisation um den Justizumbau die Beschleunigung der Annexions-, Siedlungs- und Verdrängungspolitik, die parallel dazu von der Regierung Netanjahu vorangetrieben wird. Und diese stellt die Demokratie in Israel mindestens so stark in Frage wie der Umbau der Justiz. Denn es kann, so formuliert es die Minderheit unter den Protestierenden, keine Demokratie mit Besatzung geben

19.07.2023 | Muriel Asseburg

Ibtisam Azem – Das Buch vom Verschwinden, Lenos Verlag

Die Protagonisten dieses klugen, präzisen und stillen Romans, der aber vor Spannung brodelt, sind zwei Israelis, ein jüdischer und ein arabischer. Beide sind miteinander befreundet und gehen respektvoll miteinander um. Und auch wenn Ariel, der Jude, glaubt seinen Freund Alaa zu kennen, zumal sie im selben Haus wohnen, ist er erstaunt und verwirrt, als dieser eines Tages verschwunden ist und mit ihm alle anderen israelischen Palästinenser. Es klingt unglaublich und ist auch ungewöhnlich. Die Frage nach ihrem Verschwinden geht wie ein roter Faden durch das ganze Buch.

Beim Lesen dieses klugen und spannenden Romans musste ich immer wieder daran denken, dass es eigentlich der feuchte Traum vieler national-religiöser jüdischer Israelis war und ist, eines Tages aufzuwachen und festzustellen, dass die Araber bzw. Palästinenser alle verschwunden sind. Und die übrigen jüdischen Israelis, auch wenn sie das nicht träumen, hätten nichts dagegen.  Leider aber wachen die Israelis jeden morgen auf und müssen feststellen, dass die Araber, die man jetzt Palästinenser nennt, immer noch da sind.

Beim Lesen dieses Buches wird mir klar, wie wenig jüdische Israelis von den arabischen Israelis wissen, wie wenig sie sich für sie interessierten und wie wenig sie ihre Nachbarn kennen. Ein israelischer Freund aus der Mittelklasse wollte sich mir und meinen deutschen Freunden gegenüber als Humanist und Araberfreund präsentieren und gab an Araber zu kennen. Es stellte sich heraus, dass der einzige Araber, den er kannte, der Gärtner war, der im städtischen Parkt die Pflanzen pflegte, mit dem er aber keinen gesellschaftlichen Kontakt hatte. Andere Araber kannte er nicht und schon gar nicht aus seinem Bildungsmilieu. Wozu auch?

Dann stieß ich auf Seite 206 auf eine Stelle, die mich an Jakob Wassermanns Gedicht aus seinem Buch „Mein Weg als Deutscher und Jude“ erinnerte, wo er schreibt: „Bei der Erkenntnis der Aussichtslosigkeit der Bemühung wird die Bitterkeit in der Brust zum tödlichen Krampf“. Diesen Krampf habe ich auch bei Ibtisam Azem gespürt, wenn sie schreibt: „Ab und zu sprechen wir ganz ruhig. Meistens schweigen wir…Wir hassen euch. Wir gehen auf euch zu. Lieben euch sogar als Menschen. Wir imitieren euch. Wir glauben euch. Und wissen doch, dass wir zuallererst uns selbst belügen.“

Und sofort kommt mir in den Sinn Jakob Wassermanns Gedicht in seinem Essay „Mein Weg als Deutscher und Jude“: „Es ist vergeblich, das Gift zu entgiften. Sie brauen frisches. Es ist vergeblich, für sie zu leben und für sie zu sterben. Sie sagen er ist ein Jude.“ Und die nationalen Juden in Israel sagen: „Er ist ein Araber.“ Die anderen schweigen. Und die Minderheit, die darüber spricht, gilt als Landesverräter.

Auf die angebliche Entschuldigung der Juden dafür, dass sie den Palästinensern das Land geraubt haben, weil es nur eine Wüste gewesen ist und sie es fruchtbar gemacht und modernisiert hätten, antwortet die Autorin ruhig und klug: „“Und selbst wenn es nur Wüste gewesen wäre – die Lüge, an die ihr glauben wollt, gibt euch noch lange nicht das Recht uns zu töten und zu vertreiben.“ Und man möchte hinzufügen: Wir haben euch nicht darum gebeten.

Man fragt sich, wer die Vergangenheit wie ein Mühlstein am Hals mit sich trägt – die Juden oder die Palästinenser. Letztere verfolgen ihre Geschichte bis zu Nakba und kommen nicht davon los. Die Juden aber verfolgen ihre Geschichte bis zu den Pogromen in Russland im 19. Jahrhundert und kommen vom Antisemitismus nicht los.

Das Buch handelt davon, dass das Verschwinden der Araber für die Israelis keine Freude und Festtagsstimmung verursacht, sondern wie eine dunkle Wolke über das ganze Land hängt und die Menschen eher verunsichert als erfreut. Man fragt sich, ob das wirklich so sein wird, oder ob es bloß ein Wunschdenken der Autorin ist.

Manche sehnen sich nach ihrer Rückkehr. Die meisten haben aber Angst, dass sie ihnen das antun, was sie den Arabern angetan haben. Besonders grausam wird die Szene einer Vergewaltigung bei der Vertreibung der Palästinenser 1948, die für die Palästinenser die Nakba ist. Ibtisam Azem gelingt es die angeblichen Gewissensbisse der Vergewaltiger als Heuchelei zu demaskieren und bloßzustellen. Man hat die Urbevölkerung vertrieben und jetzt, wo sie nicht mehr da ist, kommen plötzlich Gedanken der Reue und Entschuldigung auf. Es gibt aber niemanden mehr, bei dem man sich entschuldigen könnte.

Eines wird aber sehr bald klar. Ibtisam Azem kennt die Israelis sehr gut und kann sogar ihre geheimsten Gedanken und Wünsche lesen. Sowohl der jüdischen wie auch der arabischen Israelis. Sie weiß, dass die Juden, mit all ihren Atombomben, ihrer grenzenlosen militärischen Überlegenheit, ihrer Arroganz und Selbstgerechtigkeit, eigentlich Angst haben vor den Palästinensern. Sie wünschen sie zum Teufel, aber sie können ohne sie auch nicht leben.

Die Juden sind zwar überrascht, aber nicht traurig oder gar entsetzt über das Verschwinden der Araber. Sie würden zwar gerne wissen, wohin sie gegangen sind, aber sie betonen selbstgerecht und zum Teil heuchlerisch, dass sie niemanden gezwungen haben zu gehen. Ist das nicht auch die Geschichte, die man heute in israelischen Schulen lernt, dass die Palästinenser „von selbst“ geflohen sind?

Sie betonen, dass die Auswertung der Überwachungskameras an öffentlichen Plätzen keinerlei Auffälligkeiten zutage gefördert haben. Ariel und manche anderen liberalen Israelis verdächtigen die Regierung, aber sie haben keine Beweise. Andere sind froh: „Endlich sind wir diese schwarzen Schlangen los.“ Und manche Selbstgerechte meinen heuchlerisch: „Ich verstehe nicht, weshalb sie uns das antun.“ Da denkt man daran, dass die Deutschen den Juden nie vergeben werden, dass sie sechs Millionen Juden ermorden mussten.

Die Mehrheit aber schweigt und wartet auf Anweisungen der Regierung. Es bleibt schlicht undenkbar, dass man in einem Land mit dermaßen vielen Überwachungskameras nicht weiß, wohin mehr als vier Millionen Palästinenser verschwunden sind. Die Häuser wirken überhaupt nicht so, als hätten ihre Besitzer beabsichtigt, sie zu verlassen.

Das versetzt mich als Leser in das Jahr 1948, als meine Familie, kaum das wir aus einem DP-Lager in Europa angekommen sind, in eine arabische Wohnung im arabischen Teil von Haifa von den Behörden einquartiert wurden, meine Eltern, mein jüngerer Bruder und ich, und ich war damals drei Jahre alt. Die Wohnung wirkte nicht, als hätten ihre Besitzer beabsichtigt, sie zu verlassen. In der Küche war noch das Essen auf dem Tisch und wir fanden alles vor, was wir für die Wohnung benötigten. Eine vollständig eingerichtete Küche, Betten, Sofas, Kleider und sogar Kinderschuhe und vieles mehr. Dabei spielt doch das Buch von Ibtisan Azem im hier und heute, im bereits seit mehr als 70 Jahren existierenden Israel. Damals erlaubte David Ben-Gurion nicht die Rückkehr der Vertriebenen. Man nannte sie Anwesende-Abwesende. Die Angst davor blieb wie ein Albtraum bis heute.

Es geht im Buch immer wieder um die Nakba, denn was wir in der Welt um uns herum sehen, ist unerträglich. Nicht nur die Kriegsverbrechen von 1948, sondern auch die Art und Weise wie die Palästinenser heute behandelt werden und wie unerträglich die israelische Kälte und Selbstgerechtigkeit ist. Galit, eine junge Soldatin, die am Checkpoint Qualandia Dienst tut, beschwert sich: „Wie sollen wir ihnen jemals vertrauen? Wir geben alles, um den Palästinensern an den Checkpoints den Alltag leichter zu machen. Aber was tun sie? Sie widersetzen sich.“ Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man lachen. Aber leider muss man hier doppelt weinen. Über die gequälten Palästinenser und über die heuchlerischen Israelis. Und wenn ein israelischer Soldat einem Palästinenser demütigt, wundert er sich noch darüber, dass man den Palästinensern den Wunsch nach Rache von den Augen ablesen kann. Das ist wohl das, was die Israelis unter „humaner Besatzung“ verstehen.

Und so geht es bis zum Schluss. Manche räsonieren sogar darüber, dass das Verschwinden der Araber die „sauberste“ ethnische Säuberung sei, die die Menschheit je gesehen hat. Man liest und liest und wartet auf eine Lösung und man ist schon auf der vorletzten Seite und hofft, dass auf der letzten Seite die Lösung kommt, dass nämlich alles ein böser Albtraum war. Das der Erzähler aufwacht und alles ist wie gehabt. Aber nein. Den Gefallen tut uns die Autorin nicht. Es bleibt dabei, dass die Palästinenser verschwunden sind. Und da denkt man an die Nakba, die für die Palästinenser ihre nationale Shoa ist und versteht, was uns die Autorin sagen will. Nein, die Shoa ist nicht die Nakba, man kann nicht gleichsetzen. Aber vergleichen kann und darf man doch. So wie die Welt bei der Shoa geschwiegen hat, so schweigt sie auch bei der Vertreibung und Behandlung der Palästinenser im Buch und in der Wirklichkeit.

Ariel der von sich glaubt ein liberaler „guter“ und „anständiger“ Mensch zu sein und sich in der Wohnung seines arabischen Freundes einquartiert, um sie, so glaubt man, zu bewachen und die Rückkehr seines Freundes nicht zu verpassen, übernimmt auf der letzten Seite des Romans die Wohnung und kann nicht schnell genug das „Türschloss wechseln“, noch bevor das neue Gesetzt in Kraft tritt, dass nämlich alles Eigentum der Araber, die bis drei Uhr nicht zurückgekehrt sind, verfällt. Er hat keine Skrupel dabei und keine Gewissenbisse. Warum auch? Es ist alles legal und wenn man kein Gewissen hat, kann man auch keine Skrupel haben.

So haben auch viele Juden 1948 arabische Häuser und Wohnungen, teure Möbel und wertvolle Bibliotheken erbeutet. Alles absolut rechtmäßig mit Erlaubnis der verabschiedeten Gesetze. So wie es auch die Nazis gemacht haben. Nur dass Juden von den Nazis beschlagnahmtes Eigentum zurückerhielten. Araber aber nicht.

Nirgends im Buch klagt die Autorin an. Sie beschreibt nur ungewöhnliche aber offensichtlich vorhandene Verhältnisse ruhig und ohne Verbitterung und Hass. Sie zeigt, dass auch gute Menschen böses und menschenrechtwidriges tun können, ohne es zu merken und ohne deshalb ein schlechtes Gewissen zu haben. Die Menschen haben die Wahl. Wenn sie bloß immer das Richtige wählen würden. In einer frei erfundenen Rede sagt der Ministerpräsident, der im Buch nicht Bibi sondern Titi heißt: „Diese außergewöhnlichen Umstände verlangen außergewöhnliche Schritte und den Zusammenhalt aller Kräfte von links bis rechts. Von heute an gibt es kein Links und Rechts mehr, keine Säkularen und Religiösen.“ Ist das nicht der Traum aller Diktatoren? Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“, ist das bekannteste Zitat von Wilhelm II als er sein Volk in den Ersten Weltkrieg schickte.

Ibtisan Azem gelingt ein eindruckvolles, originelles Plädoyer wider das Vergessen und für ein friedliches Zusammenleben. In ihrem Roman trifft die Autorin unseren Nerv mit einer Fiktion, die ebenso fasziniert wie bewegt ist. Man weiß von Anfang an, dass die Geschichte nicht möglich ist und wartet doch neugierig auf eine Lösung, die es aber im wirklichen Leben nicht gibt.

 

 

Über die Nakba sprechen lernen

von Charlotte Wiedemann

Um eine stabile jüdische Mehrheit zu sichern, vertrieb Israel bei seiner Gründung hunderttausende Palästinenser:innen. Das Geschehen von 1948 ist wie ein Brennglas für aktuelle Fragen: nach der Zukunft eines jüdisch definierten Staates und nach der Utopie eines gleichberechtigten Einheimischseins.

Opfer können unter verschiedensten historischen Umständen ein Gefühl der Scham entwickeln. Die erste Generation jener, die ihre Heimat Palästina verloren, empfand die Scham, vertrieben worden zu sein, sich nicht ausreichend gewehrt zu haben. Die Scham erzeugte Schweigen, die Sprachlosigkeit der Eltern gegenüber den Kindern in den Flüchtlingslagern.

Formularende

Nicht sprechen können, nicht sprechen wollen, nicht sprechen dürfen, all dies kreuzt sich im Begriff al-Nakba; die Katastrophe, wie es im Arabischen heißt, hat Tiefendimensionen jenseits dessen, was politisch lapidar aufgezählt werden kann: Flucht und Vertreibung von 750 000 Männern, Frauen und Kindern zwischen Herbst 1947 und Frühling 1949, die folgende Konfiszierung von Eigentum und Land, die Zerstörung von mehr als 400 Dörfern. Und bis heute ein Verbot der Rückkehr.

Zu erkennen, welches Unrecht bei der Gründung eines Staates begangen wurde, dessen jüdische Bürger:innen zu einem Drittel Überlebende des Holocaust waren, fällt besonders Deutschen schwer. Massaker an wehrlosen Zivilist:innen, mit dem Ziel, Fluchtbewegungen auszulösen, fügen sich nicht in das Idealbild eines progressiven, humanistischen jüdischen Heimstaats. Manche meinen, bereits das Aussprechen des Begriffs Nakba sei antisemitisch, ziele er doch auf die Delegitimierung Israels.

Diese beinahe religiöse Scheu ist keineswegs nur ein Echo auf israelische Geschichtsdoktrinen, sondern gleichermaßen ein Resultat genuin deutscher Psychodynamiken. Obwohl eine Anerkennung der Nakba den Jahrhundert-Schrecken der Shoah nicht um ein Jota mindert, herrscht offenkundig die Furcht, der kollektive Opferstatus der jüdischen Staatsgründer könne beeinträchtigt werden. Vielmehr sollen sie makellos reine Opfer sein, damit ein zentrales Element deutscher Erinnerungskultur funktioniert: Die Identifikation mit dem jüdischen Staat erlöst von eigenen Schuldgefühlen.

„Nicht sprechen können, nicht sprechen wollen, nicht sprechen dürfen, all dies kreuzt sich im Begriff al-Nakba.“

Über die Nakba sprechen zu lernen, bedarf einer Überwindung solcher Dynamiken. Dabei dürfen politische Ambiguitäten im Blick auf die Zeitgeschichte durchaus bleiben: Grausamkeiten gegen Zivilist:innen gab es auf beiden Seiten während der Kämpfe zwischen 1947 und 1949, zunächst einem jüdisch-palästinensischen Bürgerkrieg und – nach der Staatsgründung im Mai 1948 – dem israelisch-arabischen Krieg. Auch tragen die Vereinten Nationen und die arabischen Regime gravierende Mitschuld an der palästinensischen Tragödie.

Nur ist es eben auch eine geschichtliche Tatsache, dass die zionistischen Protagonisten eine demografisch klare jüdische Mehrheit für den neuen Staat wollten. Und eine solche Mehrheit sah der UN-Teilungsplan vom November 1947 nicht vor. Er begünstigte zwar die jüdische Minderheit in Palästina, indem er ihr mehr als die Hälfte des Territoriums zusprach. Doch wären in dem so konzipierten Staat 45 Prozent der Einwohner:innen arabisch gewesen – ohne die Nakba. Am Ende der Kämpfe hatte Israel einen Staat, der flächenmäßig größer war als von der UN vorgesehen, mit nur 20 Prozent arabischen Einwohner:innen.

War die Nakba unvermeidlich?

Die Vorstellung, es habe ein direkter Weg von der frühen jüdischen Besiedlung Palästinas ab 1882 bis zur Nakba geführt, wäre indes unhistorisch. „Dass die Schaffung einer jüdischen Heimat mit der Zerstörung der palästinensischen Heimat einher ging, war keine in die Geschichte eingeschriebene Notwendigkeit“, schreibt der israelische Historiker Alon Confino. Neuere Forschung gelangte zu einem differenzierten Bild, wonach sich die Bereitschaft zur aktiven Vertreibung erst im Jahrzehnt vor 1948 erhärtet hat.

Bis in die Mitte der 1930er Jahre koexistierten in der zionistischen Bewegung noch zwei einander widersprechende Positionen: Die eine erkannte nationale Rechte der Araber:innen in Palästina an, die andere verneinte sie. Den Gedanken an einen sogenannten Transfer von Palästinenser:innen gab es im Zionismus zwar von früh an, doch deren drastische Reduzierung galt erst ab 1936 als unabdingbar für den Erfolg des Staatsprojekts. Weil die Siedlergemeinde durch den Zustrom Geflüchteter aus Europa gewachsen war – und weil der Vormarsch des Ideals ethnischer Homogenität in Europa, obwohl so sehr zu Lasten der Juden, auf den Zionismus abfärbte und auch für Palästina die Idee eines möglichst homogenen ethnonationalen Staats forcierte.

Solange das Ausmaß des NS-Mordprogramms nicht absehbar war, bestand die Vorstellung, die Zahl der Palästinenser:innen müsse verringert werden, um bei Kriegsende Platz für Millionen von Neuankömmlingen zu schaffen. Nachdem die Shoah schreckliche Gewissheit geworden war, schien der künftige Staat andernfalls nicht genug Juden und Jüdinnen für eine Bevölkerungsmehrheit zu haben. Der Holocaust verlieh der Nakba den letztnötigen moralischen Rückhalt und den beteiligten jüdischen Kämpfern die notwendige Unerbittlichkeit. Das schlechte Gewissen der westlichen Welt tat ein Übriges: Der Westen hatte die jüdischen Flüchtlinge 1945 zum zweiten Mal im Stich gelassen und das Problem der Displaced Persons nach Palästina abgeschoben. Nun wurde die Staatsgründung welthistorisch aufgeladen, und die Nakba verschwand für Jahre hinter einem Vorhang – was nur möglich war, weil die Stimmen arabischer Historiker im anglophonen Raum nicht zählten.

Es gibt ein Detail, das aufschlussreich ist für die Atmosphäre von 1948: die spontane Bereitschaft jüdischer Zivilist:innen, sich den Besitz vertriebener und geflohener Nachbarn anzueignen. „Die Plünderung war eine Volksbewegung von unten, an der sich Juden aus allen Gesellschaftsschichten beteiligten“, schreibt Alon Confino. „Sie signalisierte die imaginäre Gewissheit, dass die Palästinenser nicht zurückkehren würden und dass sie im jüdischen Staat keinen Platz hätten.“

Wenn man eine solche imaginäre Gewissheit ebenso bei den jüdischen Milizionären und Soldaten voraussetzt, relativiert sich die früher heiß diskutierte Frage, ob sie aufgrund eines expliziten Vertreibungsbefehls handelten. Wie der Historiker Benny Morris berichtet, entschied die künftige Staatsspitze am 12. Mai 1948, in der zwei Tage später verkündeten Unabhängigkeitserklärung die Grenzen des neuen Staates nicht zu benennen. David Ben-Gurion war zuversichtlich, Israel könne bei Kriegsende mehr Territorium kontrollieren als im UN-Plan vorgesehen, und so kam es: Die Soldaten besetzten etwa das westliche Galiläa, im UN-Plan für einen arabischen Staat vorgesehen. Expansion und „Transfer“ gingen Hand in Hand.

Auf Fotos von 1948 erscheint die Nakba vor allem als ländliches Ereignis: altersgebeugte Flüchtende mit Bündeln, barfüßige Kinder. Doch die Entwurzelung betraf gleichfalls die städtischen Intellektuellen. Aus Villen im westlichen Jerusalem wurden große Buchbestände geplündert; einen Teil verleibte sich die israelische Nationalbibliothek ein, wo bis heute eine Sammlung die Buchstaben AP in der Signatur trägt, für „abandoned property“. Der Bücherraub illustriert die Zerstörung kultureller Identität, die überwucherten Ruinen der Dörfer den ausgelöschten Alltag zwischen Brunnen und Kaktushecke.

Wer die Nakba erwähnt, bekommt wie in einem Abwehrreflex häufig eine andere Vertreibung entgegengehalten: jene der arabischen Juden und Jüdinnen aus mehrheitlich muslimischen LändernEtwa 900 000 verließen in den Jahren nach 1948 ihre Heimat; 600 000 von ihnen zogen nach Israel. Historiker:innen zeichnen von Land zu Land unterschiedliche Panoramen von Push- und Pull-Faktoren: Ein sich radikalisierender arabischer Nationalismus machte die jüdischen Nachbarn zu ungewollten Fremden; zugleich warb die israelische Regierung um dringend benötigte Einwanderer – bis hin zu Bombenanschlägen des Geheimdienstes in Irak und Ägypten, um Unschlüssige in Panik zu versetzen. In Israel empfing die Mizrachim dann oft Rassismus. Opfer der Geschichte waren zweifellos auch sie – und wir können die vertriebenen jüdischen Araber:innen und die vertriebenen muslimischen und christlichen Palästinenser:innen als Leidtragende zweier Nationalismen betrachten, die politisch gegensätzlich, gar verfeindet waren und doch im Kern verwandt.

Die Vertriebenen gegeneinander aufzurechnen, ist indes eine ethisch verfehlte Mathematik. Und der Vergleich unterstreicht, was die Nakba unterscheidet: Sie fand kein Ende, Heimatlosigkeit und Entrechtung setzen sich fort.

Die neue Definition des Begriffs Rückkehr

Kann eine Demokratie verteidigt werden, die im wesentlich nur demokratisch für Juden ist? Diese Frage des Jahres 2023 ist im Geschehen von 1948 bereits angelegt. Israel wollte eine klare jüdische Mehrheit nicht allein aus Gründen der Sicherheit, sondern um den demografischen Spielraum für eine parlamentarische Demokratie zu gewinnen. Um für sich selbst also Demokratie zu sein, vertrieben 650 000 jüdische Siedler eine Zahl von Palästinenser:innen, die mit 750 000 größer war als sie selbst.

Da der UN-Teilungsplan Bürgerrechte für Minderheiten verlangte, gewährte Israel den verbliebenen 130 000 Palästinenser:innen die Staatsangehörigkeit – und konfiszierte den größeren Teil ihres Landeigentums. Nach zionistischer Lesart war das Land historischer Besitz des jüdischen Volkes; folglich bestand auch gegenüber den Geflüchteten in den Lagern jenseits der Grenze keine moralische Verpflichtung, ihnen die Rückkehr zu gestatten.

Der Begriff Rückkehr war fortan für Juden und Jüdinnen aus aller Welt reserviert. Das 1950 verabschiedete Rückkehrgesetz sicherte ihnen auf Wunsch automatisch die Staatsangehörigkeit. Das war weitaus mehr als ein Asylprivileg für den Fall künftiger Verfolgung; hier wurde signalisiert: Dieser Staat ist Juden vorbehalten. Dennoch hat es gegen das Primat des Ethnonationalismus immer wieder zeitweiligen Einspruch gegeben. Selbst der Historiker Shlomo Sand, der mit seinem Buch Die Erfindung des jüdischen Volkes (2008) Israels Selbstdefinition radikaler Kritik unterzog, hält es keineswegs für unausweichlich, dass sich Israel „einer echten Demokratisierung seiner Rechtsgrundsätze dauerhaft verweigerte“.

Wie literarische Zeugnisse beweisen, war manchen jüdischen Beteiligten 1948 durchaus bewusst, wie ethisch prekär die Staatsgründung verlief; es wurden sogar Analogien zum Holocaust gezogen. Und vereinzelt weigerten sich Überlebende, nach ihrer Ankunft aus Europa in Häuser zu ziehen, wo die Teller jener anderen Geflohenen noch auf dem Tisch standen.

Was danach geschah, in weniger als einem Jahrzehnt, gleicht einem doppelten Auslöschen von Erinnerung: an den Akt der Vertreibung und an die vorherige Existenz der Vertriebenen. „Als Kinder spielten wir in der Nähe sogenannter verlassener Dörfer, und wir fragten niemals: Wohin gingen die Araber? Warum sind sie nicht da?“ berichtet der Holocaust-Historiker Omer Bartov, geboren 1954. Es habe damals zwei wirkmächtige Tabus gegeben: Nie über das europäische Gestern sprechen und nie über das Palästina von gestern. „Mit uns begann die Geschichte. Menschen wie ich galten als erste Generation von Einheimischen, während die Araber als die viel länger Einheimischen entnormalisiert wurden.“ Deren Einheimischsein gänzlich zu bestreiten sei dann Staatsraison geworden.

Anders als vor einigen Jahrzehnten wird die Nakba als bloßes Faktum heute von zahlreichen Israelis anerkannt, jedoch ohne Schuldbewusstsein. Ein kaltes Wissen, aus dem nichts folgen darf. Die Nakba in den Mittelpunkt jüdischer Ethik zu stellen, „mit störender Empathie“, wie der Jerusalemer Historiker Amos Goldberg fordert, ist eine radikale Außenseiter-Position.

Der Komplexität der Materie kann niemand entrinnen

Zum Zeitpunkt des UN-Teilungsbeschlusses von 1947 waren in den Vereinten Nationen die kolonisierten Völker noch kaum vertreten. Seitdem das anders ist, etwa seit 1975, wird die Entrechtung der Palästinenser in der Vollversammlung regelmäßig verurteilt. Deutschland und die Schweiz gehören zu jener Minderheit von Ländern, die sogar zum 75. Jahrestag ein Gedenken an die Nakba unterbinden wollten. Obwohl es ohne deren Anerkennung keinen Weg zu einem gerechten Frieden in Israel-Palästina geben kann. Sollten nicht gerade Deutsche diesen Weg unterstützen?

Wenn der Holocaust als überragende Ursache der Gründung Israels betrachtet wird, wie es in Deutschland üblich ist, wäre die Nakba doch Teil einer gemeinsamen Geschichte, der Geschichte des europäischen Antisemitismus. Doch so sehen es nur wenige. Nach der vorherrschenden Erzählweise sollen die 200 000 Palästinenser und Palästinenserinnen in Deutschland ihr Schicksal vom Holocaust ausgehend als unvermeidliche Folge des größeren Leids anderer betrachten. Tun sie das nicht, wird die rote Karte gezeigt: Antisemitismus!

Unter diesem Verdacht steht auch ein Begriff, der mit dem weltweit gestiegenen Interesse an kolonialen und postkolonialen Fragen in der Palästina-Solidarität geradezu in Mode gekommen ist: Siedlerkolonialismus. Eines seiner wichtigsten Kennzeichen im Allgemeinen ist das Prinzip der Segregation: Im Unterschied zum Einwanderer, der sich in die örtliche Bevölkerung integriert, will der koloniale Siedler die Einheimischen, auf die er herabblickt, bestenfalls tolerieren, möglichst aber ersetzen. Die jüdischen Siedler hatten mit Arabern zuweilen gutnachbarliche Beziehungen, doch ihr Projekt zielte in der Tat auf räumliche und soziale Trennung. Und die Araber standen aus jüdischer Sicht auf der Fortschrittskala der Zivilisation beträchtlich weiter unten.

Um zu begreifen, wie es zur Nakba kommen konnte, bietet der siedlerkoloniale Rahmen einen wissenschaftlich legitimen Ansatz, jedoch keine erschöpfende Erklärung. Der palästinensische Philosoph Raef Zreik hat dies in folgende Worte gefasst: „Der Zionismus ist ein siedlungskoloniales Projekt, aber nicht allein das. Er verbindet das Bild des Flüchtlings mit dem Bild des Soldaten, des Ohnmächtigen mit dem Mächtigen, des Opfers mit dem Verfolger (…). Die Europäer sehen den Rücken des jüdischen Flüchtlings, der um sein Leben flieht. Der Palästinenser sieht das Gesicht des Siedlerkolonialisten, der sich sein Land aneignet.“

Die bekanntesten Siedlerkolonialismen der Welt endeten mit der Beinahe-Vernichtung der Einheimischen (Australien, USA) oder mit der antikolonial erkämpften Ausweisung der Siedler (Algerien). Für Israel-Palästina kann es hingegen keine Lösung geben ohne die Anerkennung jüdischer Selbstbestimmung – wegen der Shoah, aber auch weil die jüdischen Israelis, ob man sie nun ethnisch als Volk betrachten will oder nicht, zweifellos eine nationale Identität an Ort und Stelle entwickelt haben, wie die gegenwärtigen Massenproteste illustrieren.

Genaues Sprechen ist also ratsam, als Ausdruck intellektueller Sorgfalt, aber auch als ethische Selbstversicherung in einem oft toxischen Diskurs. Bereits die Forderung nach gleichen Rechten für alle zwischen Jordan und Mittelmeer, also die demokratische Utopie eines gleichberechtigten Einheimischseins, steht bei jenen unter Antisemitismus-Verdacht, die sich jüdische Existenz nur als Suprematie vorstellen können. Und genau dies ist der Scheitelpunkt, wo sich Zeitgeschichte und Tagesaktualität treffen – die Nakba als historisches Geschehen und als fortgesetzte Möglichkeit.

Die Charakterisierung von Raef Zreik, der Zionismus sei „eine andauernde Revolution, die sich weigert, ein Rechtsstaat zu werden, und ein ethnisch exklusives Siedlungsprojekt, das sich weigert, sich niederzulassen“, erweist sich mit Israels ultranationalistischer Regierung als hochpräzise. Die siedlerkoloniale Seite Israels wird auf die Stufe Turbo gestellt, wenn Benjamin Netanjahu die Besetzung der Westbank folgendermaßen wegdefiniert: „Das jüdische Volk hält sein Land nicht besetzt.“

Militante Siedler skandieren dieser Tage vor Fernsehkameras „Wir wollen Nakba!“, während manche Deutsche glauben, sie dürften das Wort nicht einmal für die historischen Geschehnisse verwenden. Und der Evangelische Kirchentag verbietet eine  Ausstellung zum Thema auf seinem Großkonvent – ausgerechnet in Nürnberg, einer Stadt, deren dunkle Geschichte eigentlich zum Einsatz für universelle Menschenrechte verpflichtet.

 

Keiner hat das Recht seinen Nächsten zu töten

Nie haben wir in Europa eine so lange Friedensperiode gehabt wie die letzten 80 Jahre. Die gegenwärtige Krise, der Krieg in der Ukraine, ist eine unberechenbare und gefährliche Situation, die wir so schnell wie möglich beenden müssen, wenn wir überleben wollen. Aber wie? Wir alle können nicht gegen Putin in den Krieg ziehen, aber wir sollten und müssten gegen alldiejenigen kämpfen, die Putins Gift bei uns weiterverbreiten und die „nützlichen Idioten“ spielen, oder gar sind. Es nützt nicht und ist sogar „contra produktiv“ in Zeiten des Krieges und der höchsten Gefahr daran zu erinnern, dass auch in der Vergangenheit andere völkerrechtswidrig und barbarisch gehandelt haben. Aber wie weit sollten wir zurückgehen? Bis zum Zweiten Weltkrieg, bis zum Ersten Weltkrieg, bis zu den Napoleonischen Kriegen oder bis zum Dreißigjährigen Krieg? Oder vielleicht bis zu den Kriegen von Julius Cäsar, Hannibal oder der Griechen gegen Persien?

Wir sollten Geschichte zwar nicht vergessen, aber wir sollten es nicht als Grund benutzen den jetzigen Überfall Russlands in die Ukraine zu relativieren oder sogar zu entschuldigen. Jede solche Erklärung ist sachlich ungenau und moralisch verwerflich.

Kein Mensch hat das Recht andere Menschen zu töten oder andere Länder zu überfallen. Auf diese Erkenntnis beruht unsere Zivilisation, zumindest seit dem biblischen Gebot: „Du sollst nicht töten.“ Wir blicken mit Abscheu und Verachtung auf die Epochen in der Geschichte der Menschheit, als Töten, Erobern und Ausbeuten üblich waren und Feldherren Cäsaren wurden. Wir halten uns heute für zivilisierter als die Menschen im „Wilden Westen“, wo nur der überlebt hat, der besser mit dem Revolver umgehen konnte. Aber selbst im wilden Westen gab es Gerichte und Richter, wie wir aus den „Wildwest Filmen“ wissen, die schuldigen Mörder verurteilt und wilde Lynchjustiz abgelehnt haben.

Keiner hat das Recht seinen Nächsten zu töten, zu demütigen oder seines Eigentums zu berauben. Auf diese Maxime beruht unser gesellschaftliches Zusammenleben von Beginn an. Der erste überlieferte Mord in der Geschichte, die Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain ist für ewig in das Gedächtnis der Menschheit als Mahnmal haften gebelieben und der biblische Spruch (1. Mose, 4-9) „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ begleitet uns seitdem bis in alle Ewigkeit und ermahnt uns die Hüter unserer Brüder zu sein.

Das erstaunlichste und wunderbare in dieser biblischen Erzählung, mit der unsere humane Zivilisation beginnt, ist Kain´s Erkenntnis, dass er Unrecht getan hat, seine Entschuldigung und seine Furcht (1. Mose 4-14): „So wird mir´s gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet.“ Kain ist bekannt und bewusst, dass auf Mord Strafe folgt. Aber Gott schützt ihn und sagt: „Wer Kain totschlägt, das soll siebenfach gerächt werden.“ Rache ist auch Mord und Vergeltung ist moralisch nicht besser als der Anschlag selbst. Und die Bibel erzählt uns, dass Gott an Kain´s Stirn ein Zeichen machte, damit ihn jeder erkennt und keine das Recht in eigene Hände nimmt. Demnach ist es sogar verboten Mörder zu morden. So geht es uns heute mit Putin und seinem Krieg. Jeder weiß, dass Putin ein Mörder ist und dass nur der Internationale Strafgerichtshof ihn bestrafen darf und kann. Deshalb auch der Haftbefehl des Gerichtshofs zu seiner Ergreifung. Keiner soll ihn ermorden, er trägt das Kain-Zeichen tätowiert auf seine Stirn.

Putin kann mit seinen strengen und kalten blauen Augen Russland unterwerfen und die Russen unterdrücken, aber die Welt, Europa oder auch nur die Ukraine unterwerfen, kann er offensichtlich nicht. Viele gehirngewaschene Linke bei uns im Westen wollen Putin schützen, weil sie der Meinung sind, frei nach Franz Werfel, dass nicht Putin und seine Generäle, sondern seine Opfer die Schuldigen sind.   Wir wissen, dass gegen die fürchterliche und grausame Realität, die wir täglich in Bildern sehen, selbst die russische Propaganda machtlos ist. Aber seltsamerweise sind bei uns nicht wenige Brigadegeneräle, Politiker, Philosophen und gewöhnliche Bürger von Putins Propaganda überzeugt und benutzen deshalb nicht ihren gesunden Menschenverstand, falls sie überhaupt einen haben. Sie glauben nicht der Realität, die sie sehen, sondern der Ideologie, die ihnen gebietet zu glauben, was sie nicht sehen. Sie zeigen Verständnis für Putins Krieg und Kriegsverbrechen in Butscha, weil die Amerikaner vor 50 Jahren auch in Vietnam Kriegsverbrechen begangen haben. Sie vergessen aber, dass es vor 50 Jahren eine große Bewegung in Deutschland und im übrigen Europa gab, die Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam organisiert hat. Wo bleiben die Demonstrationen von heute gegen einen ebenfalls Menschen verachtenden brutalen und völkerrechtswidrigen Krieg? Die Schuld der Amerikaner, gegen die wir auf die Straße gegangen sind, kann kein Grund und keine Entschuldigung für den imperialistischen Krieg Putin´s sein. Seine Begründung, dass er die Ukraine vor Nazis und Faschisten schützen wollte, ist nicht nur absurd, sie ist zynisch und eine grobe Lüge, mit der er sogar mit seiner massiven Propaganda nicht überzeugen kann. Man muss kein Experte sein, um zu sehen, dass in Kiew keine Nazis sitzen, sondern im Gegenteil, Politiker, die zwar mühsam aber voller Idealismus versuchen eine westeuropäische Demokratie aufzubauen. Und das wird nicht von Biden verhindert, sondern von Putin.

Wovor hat Putin Angst? Vor dem demokratischen Virus, dass auch die Russen Demokratie fordern würden. Immer mehr Russen werden allein wegen der defätistischen Aussage, dass die „militärische Operation“ ein echter Krieg sei, verhaftet und drakonisch bestraft. Und tausende Russen verlassen ihr Land, weil dort eine Gewaltherrschaft eines durchgeknallten Autokraten ein freies und friedliches Leben unmöglich macht.

Ähnlich war es in Deutschland während des Krieges, als keiner das Wort „Krieg“ benutzen durfte bis am Ende Hitler die Soldaten „ausgegangen“ sind und er einen „Volkssturm“ aus tausenden von alten Männern und Minderjährigen gegen, die gut ausgebildeten russischen und amerikanischen Soldaten rekrutieren musste. Sie waren sein Kanonenfutter. Auch jetzt rekrutiert Putin Soldaten in Gefängnissen und Straflager und verspricht Straffreiheit. Nur wenige können diese „Straffreiheit“ genießen. Die meisten sind vorher im Krieg getötet worden.

Damit sowas nie wieder passiert und die Charta der UN  den Weltfrieden und die internationale Sicherheit wahren kann, wurden zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen getroffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen.

Die Charta der Vereinten Nationen ist der Gründungsvertrag der Vereinten Nationen. Ihre universellen Ziele und Grundsätze bilden die Verfassung der Staatengemeinschaft, zu der sich alle inzwischen 193 Mitgliedstaaten bekennen, auch Russland, Weißrussland und China. Sie wurde am 26. Juni 1945 in San Francisco unterzeichnet und trat am 24. Oktober 1945 in Kraft. Darin heißt es in der Präambel:

Text der UN-Charta zum Download

Präambel

Kapitel I – Ziele und Grundsätze

Kapitel II – Mitgliedschaft

Kapitel III – Organe

Kapitel IV – Die

Kapitel V – Der Sicherheitsrat

Kapitel VI – Die friedliche Beilegung von Streitigkeiten

Kapitel VII – Maßnahmen bei der Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen

Kapitel VIII – Regionale Abmachungen

Kapitel IX – Internationale Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet

Kapitel X – Der Wirtschafts- und Sozialrat

Kapitel XI – Erklärung über Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung

Kapitel

XII – Das internationale Treuhandsystem

Kapitel XIII – Der Treuhandrat

Kapitel XIV – Der Internationale Gerichtshof

Kapitel XV – Das Sekretariat

Kapitel XVII – Übergangsbestimmungen betreffend die Sicherheit

Kapitel XVI – Verschiedenes

Kapitel XIX – Ratifizierung und Unterzeichnung

Wir, die Völker der Vereinten Nationen – sind fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen,Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können,

den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern, Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben, unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern.

Russland hat diese Charta unterschrieben. Es ist deshalb ein Skandal, dass Russland immer noch Mitglied im Sicherheitsrat ist und zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrages sogar den Vorsitz hat. Und es stimmt, dass auch die USA diesen Vertrag gebrochen und verletzt hat. Und es stimmt, dass die UN sich neu organisieren muss und im Sicherheitsrat das demokratische Prinzip der Mehrheit endlich eigeführt wird und Großmächte nicht durch ihr Veto Beschlüsse der Mehrheit annullieren können. Das alles sollte auf die Tagesordnung kommen, aber zuerst sollte der weltweit gefährlichste Krieg beendet werden, bevor noch unverantwortlichere Herrscher an die Macht kommen.

Man kann zwar Russland nicht aus der UNO entfernen, aber es ist doch eine Farce und lächerlich, wenn ausgerechnet ein Staat, der die Charta so eklatant verletzt hat, immer noch im Sicherheitsrat ist und durch seine Vetos wichtige und notwendige Beschlüsse blockiert.

Abraham Melzer, 2. April 2023

Nur eine kleine Minderheit im Donbass will befreit werden. Wirklich?

„Was muss eigentlich noch passieren, dass begriffen wird, dass man mit diesem Regime nicht verhandeln kann? Dass keine Abmachungen getroffen werden, die Putin auch hält? Es wird keinen Waffenstillstand geben mit diesem Regime, alles andere ist Wunschdenken und hat nichts mit der Realität zu tun.“ Das sagte Selenskyis Berater Alexander Rodnyansky

In Russland darf nicht vom „Krieg“ gesprochen werden und die besetzten ukrainischen Gebiete sind für Putin eigenständige „Volksrepubliken“, die sich „freiwillig“ Russland angeschlossen haben. Auf die Benutzung des Wortes „Krieg“ stehen drakonische Strafen. Deshalb kann man verstehen, wenn russische Medien nur von einer „Spezialoperation“ berichten. Putin hat Dynamiken entfesselt, die nur er kontrollieren kann. Was Putin macht, hat nicht immer mit dem Krieg zu tun, sondern mit der Sicherung seines Herrschaftssystems.

Was man aber nicht verstehen kann ist die Tatsache, dass auch westliche Medien Putin gehorchen und seiner Zensur und Manipulation der Sprache folgen. Ulrich Heyden, von dem ich nicht weiß, ob er Journalist oder ein Agent des russischen Propagandaministeriums ist, gab ein fiktionales Interview, dass er und der Interviewer Florian Rötzer uns als „journalistisch“ verkaufen wollen, und zwar sowohl um Verwirrung über ein bestimmtes Geschehen zu stiften als auch um den Journalismus als solchen zu diskreditieren.

Heyden erhielt ein Einreiseverbot für die Ukraine, nachdem er in übelster Sprache und Form die Regierung in Kiew beschuldigt hat in Odessa ein Massaker an russenfreundlichen Zivilisten verübt zu haben. Die Ausschreitungen in Odessa am 2. Mai 2014 waren eine Reihe von Zusammenstößen zwischen proukrainischen und prorussischen Demonstranten, bei denen 48 Menschen ums Leben kamen und mehr als 200 verletzt wurden. Die Kämpfe begannen mit einem Angriff prorussischer Aktivisten auf einen proukrainischen „Marsch der Einheit“, und endeten in einem Gewerkschaftshaus, in welchem sich prorussische Personen versteckt hatten. So steht es im Bericht der Vereinten Nationen. Heyden schob die alleinige Schuld der Regierung in Kiew zu und wundert sich jetzt, dass er Einreiseverbot hat. Er sollte sich eigentlich darüber wundern, dass er nicht in Kiew wegen Hetze und Verbreitung von Lügen vor Gericht gestellt wurde. In seinem 2698 Wörter umfassenden Beitrag „Nur eine kleine Minderheit im Donbass will befreit werden“, benutzt er für das, was seit dem 24. Februar 2022 in der Ukraine passiert nicht ein einziges Mal das Wort „Krieg“. Er schreibt nur, dass eine „Spezialoperation läuft“. Und über den Donbass und die von Russland annektierten Gebiete schreibt er, dass sie „aus ukrainischer Sicht illegal annektiert wurden.“ Er ignoriert, dass mehr als 140 Mitgliedsstaaten der UNO den völkerrechtswidrigen Überfall Russland verurteilt haben. Er ist offensichtlich der Meinung, dass die Gebiete nicht illegal annektiert wurden, sondern legal Russland gehören. Deshalb schreibt er seit Jahren kritisch bis hetzerisch über Selenskyi und seine Regierung, die so unverschämt und nazistisch vergiftet sind, dass sie Russland als Souverän über die Ukraine nicht anerkennen. Wenn er sich legal oder illegal in der Ukraine bewegt, dann fährt er „von den „Volksrepubliken“ in die Ukraine. Immerhin stellt er das Wort Volksrepubliken in Anführungsstriche und zeigt damit, dass selbst er daran nicht glaubt. Aber dafür heftig für die „Volksrepubliken“ propagiert und in seiner Naivität oder Dummheit sich wundert, dass es der Regierung in Kiew nicht gefällt.

Heyden ist ein Freund Russlands und wohl auch ein Fan von Putin. Das ist nicht das Schlimmste. Es gibt noch schlimmeres. Schlimmer ist seine Fälschung der Geschichte und Verschweigen von Tatsachen, die zum Verstehen von Russland heute unverzichtbar sind. Er erinnert an Moskau 1992 und schreibt, dass der Wandel Russlands atemberaubend ist. Moskau bekam ein modernes Verkehrssystem. „Die westlichen Sanktionen zwangen das Land, die eigene Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion stärker zu entwickeln.“ Aber wie steht es mit der Freiheit in Russland, ist wohl die Gretchenfrage, die er nicht beantwortet. Stattdessen erzählt er wieder Märchen, siehe auf seine Website, dass „die außerparlamentarische Opposition in Russland im Internet auf zahlreichen Video-Kanälen präsent“ ist. Das war vielleicht einmal, als Gorbatschow noch an der Macht war. Jelzin und später Putin haben das aber vollständig eliminiert. Es gibt heute keine „zahlreichen Video-Kanälen“. Es gibt keine mehr. Es gibt nur noch die staatlichen Propagandakanälen.

Die sogenannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk entstanden im Frühjahr 2014 im Osten der Ukraine – als Folge prowestlicher Proteste und des Machtwechsels in Kiew. Damals verhinderte die sogenannte „Orangene Revolution“ den Sieg des prorussischen Politikers Viktor Janukowitsch bei der Präsidentenwahl. Heyden gibt den USA und der Nato die Schuld und behauptet, dass der Jude Selenskyi als Komiker eine Marionette des Westens sei. Von Janukowitsch als Marionette Russland hat er nie geschrieben. Es gibt aber Komiker, die sich als Staatsmänner erweisen und es gibt angebliche Staatsmänner, die sich an 30 Meter langen Tischen setzen und sich als Komiker und Schurken erweisen. Und es gibt auch offensichtlich Journalisten, die ihre Leser belügen und betrügen und von Menschen berichten, deren Dörfer und Städte von der ukrainischen Armee beschossen werden. Schade, dass er die Namen dieser Dörfer und Städte nicht nennt. Solche Behauptungen kann man zwar aufstellen, aber man kann nicht erwarten, dass Menschen mit gesundem Menschenverstand es glauben oder gar ernst nehmen. Da sind die Redaktionen von OVERTON oder NachDenkSeiten völlig offen.

2010 wurde Janukowitsch doch Präsident und lavierte danach politisch zwischen Russland und der EU. Seine plötzliche Wende Richtung Moskau löste im Winter 2013/2014 oppositionelle Proteste aus, er flüchtete nach Russland. Moskau nutzte das Machtvakuum in Kiew, um die Krim zu annektieren. Als die Ukraine, Russlands Nachbar, näher an die Europäische Union heranrückte, überfiel Russland 2014 das Land und annektierte Teile seines Territoriums. Russlands Invasion war ein Test für die Europäische Union und den Vereinigten Staaten. Damals begann auch in Russland die Ersetzung von Politik durch Propaganda und die Abwendung Russlands von Europa.

 

Laut einer Umfrage waren nur rund 20 Prozent der Bewohner von Donezk damals bereit, russische Truppen als Befreier zu begrüßen. Im Frühling 2014 wurden in mehreren Städten der Ostukraine Gebietsverwaltungen besetzt und Polizeireviere gestürmt, um Waffen zu erbeuten. Treibende Kraft dahinter waren russische Geheimdienste und verkleidete russische Soldaten. Dann wurden „Referenden“ über die Abspaltung von der Ukraine abgehalten und „Volksrepubliken“ ausgerufen, an deren Spitze Russen standen. All das war natürlich illegal.

Die Kiewer Regierung versuchte, den Aufstand einzudämmen. Im Sommer 2014 gelang es der ukrainischen Armee, die meisten Gebiete wieder unter Kontrolle zu bringen. Doch im August erlitt die ukrainische Armee in einer Kesselschlacht beim Städtchen Ilowajsk südöstlich von Donezk eine Niederlage. Eine direkte Einmischung der russischen Armee in diese Kampfhandlungen wird von Moskau bis heute bestritten.  In den Minsker Vereinbarungen vom Februar 2015 wurde die Frontlinie endgültig eingefroren. Seitdem belauerten sich ukrainische Armee und russische Separatisten bis zum 24. Februar 2022 in einem brüchigen Waffenstillstand.

In beiden Gebieten wurde von Anfang an eine schnelle Russifizierung durchgeführt. Sie begann mit der Einführung russischer Schulbücher und der russischen Landeswährung. Die Streitkräfte der Separatisten sollen von russischen Beratern aufgebaut worden sein, was Moskau bestreitet. Die Industrie der Region hat als Folge der Abspaltung stark gelitten. Einige Betriebe wurden nach Russland verlegt.

2019 begann Russland mit der Verteilung russischer Pässe an die Bevölkerung. Nach jüngsten Angaben sollen inzwischen 800.000 Ostukrainer die russische Staatsbürgerschaft besitzen. Diese „Russen“ schützen zu wollen ist ein Kernargument für die Anerkennung der Separatistengebiete.  Die Ukraine tat sich schwer mit dem rechtlichen Status dieser Gebiete. Zunächst stufte Kiew sie als „Terrororganisationen“ ein. Später erklärte das Parlament Donezk und Luhansk zu besetzten Regionen, allerdings wurde erst 2018 Russland als Besatzungsmacht genannt. Völkerrechtlich sind beide Gebiete heute noch Teil der Ukraine. Die Ukraine hat sich niemals damit abgefunden, auch nicht mit der Eingliederung der Krim an Russland. Aber die Ukraine schien zu schwach zu sein, gegen die russische Gewalt zu opponieren. Bis zum 24. Februar 2022, als Putin den Fehler gemacht hat den Rest der Ukraine auch noch besitzen zu wollen.

Die Ukraine hat sich dagegen gewehrt und dennoch gibt es bei uns im Westen Journalisten, die ich aber eher Propagandisten und nützliche Idioten Putins nennen möchte, wenn sie nicht doch klug und gerissen sind und sich für ihre giftigen und widerlichen Artikel bezahlen lassen. Da beschwert sich Ulrich Heyden in einem Beitrag für den Blog OVERTON, in einer unzumutbaren Naivität und Frechheit, „dass es immer heißt, dass Russland stromerzeugende Anlagen, militärische Sammelpunkte, militärische Hauptquartiere, Rüstungsproduktion, Nachschubwege oder andere militärische Ziele bombardiert“ Und er stellt das sofort in Frage: „Ich glaube, dass die Russen tatsächlich auf militärische Ziele zielen, aber dass dabei auch immer wieder etwas daneben geht.“ Die ungeheuerliche Zerstörung von ziviler Infrastruktur, von Schulen, Krankenhäuser, Theater, Supermärkte, Bahnhöfe und, vor allem, Wohnblock, ist für ihn nur Kollateralschaden, weil „etwas daneben gehen kann“. Und noch zynischer, dümmlicher und geschmackloser fügt er hinzu: „Die Russen haben in den letzten Monaten, wenn ein großes Wohnhaus getroffen wurde, häufig darauf hingewiesen, dass die Rakete von der ukrainischen Luftwaffe abgeschossen wurde und Teile der abgeschossenen Rakete die Häuser zerstört haben.“ Die bösen Ukrainer sind also schuld, wenn Häuser zerstört wurden und die Bewohner starben. Nicht der Mörder also, der Ermordete ist schuld. Warum schießen die Ukrainer die russischen Raketen auch ab? Und weil das noch nicht genug üble Propaganda ist, berichtet dieser Propagandist im Auftrag des Kremls, was er „selber erlebt“ hat. Er sah, wie eine ukrainische Rakete von der Luftabwehr von Donezk abgeschossen wurde. 16 Zivilisten sind von heruntergefallenen Teilen getötet worden. Eben noch schiebt er die Schuld auf die Ukrainer, weil sie eine russische Rakete abgeschossen haben, und nun schiebt er wieder die Schuld auf die Ukraine, weil die russische Armee eine ukrainische Rakete abgeschossen hat.

Das Ekelgefühl verlässt mich nicht beim Weiterlesen. Für Ulrich Heyden „ergibt es keinen Sinn, zivile Objekte zu beschießen. Für die ukrainische Seite allerdings schon.“ Wir sehen seit mehr als einem Jahr täglich wie zivile ukrainische „Objekte“ dem Boden gleich gemacht werden, wie tausende ukrainische Zivilisten getötet werden und Millionen fliehen müssen, nur Ulrich Heyden sieht es nicht. Er sieht, wie die Ukraine zivile Objekte beschießt. Er will uns aber nicht verraten  wo und wann. Der Krieg oder, wie Heyden meint, die „Spezialoperation“, findet doch nur auf ukrainischem Gebiet statt. Wo und wann sind zivile russische Objekte getroffen worden? Heyden schreibt: „Nach meinem Eindruck wurden in den letzten Jahren von der ukrainischen Armee, insbesondere im letzten Jahr, vermehrt gezielt Krankenhäuser, Kindergärten und Schulen beschossen. Die zerstörten Gebäude habe ich auch teilweise selber besucht. Das ist natürlich eine Zermürbungstaktitk, die dazu führen soll, dass die Leute es einfach nicht mehr aushalten, da zu leben.“ Und Florian Rötzer, wer immer das auch ist, der dieses „Kindergarten“-Interview geführt hat und offensichtlich voll auf der Linie von Heyden schwebt, fügt naiv, zynisch und hinterpfotzig hinzu: „Es war bzw. ist auch ein explizites Ziel der russischen „Spezialoperation“ diesen Beschuss zu beenden.“ Nein, lachen kann man da nicht mehr, auch nicht lächeln. Es ist zum Weinen. Es erinnert mich nur noch an die israelische Armee, die angeblich „die humanste Armee der Welt“ ist. Es ist, wie Heyden selbst sagt: „Es ist einfach schrecklich.“

Und wenn Selenskyi 2021 in einer Fernsehansprache gesagt hat, „wer sich Russland zugehörig fühlt oder mit Russland sympathisiert, der soll doch bitte nach Russland gehen“, klingt es bei Heyden wie ein Rassismusvorwurf. In Israel hört man doch täglich von rechtsradikalen Politikern, die hin und wieder auch nach Deutschland eingeladen werden, dass die nichtjüdischen Bürger Israel verlassen „dürfen“ und zu ihren arabischen Brüdern und Schwestern gehen sollen. Selenskyi hatte nicht vor sie zu vertreiben. Er hat immerhin „bitte“ gesagt. Russische Separatisten haben aber, wie schon gesagt, die Atmosphäre vergiftet.

Je mehr ich lese, desto mehr wird der Ekel größer und der Wusch aufzuhören. Die Neugier wie weit ein westdeutscher „Journalist“ Putin in den After kriecht ist aber größer. Als Heyden 2020 in Lugansk war, hat ihm ein Vertreter des Außenministeriums – er schreibt das Wort ohne Anführungsstriche, als ob es eines legalen Außenministeriums sei – gesagt: „Wir sind eigentlich die richtigen Ukrainer.“ Ich habe diesen Satz mehrmals von vor nach hinten und von hinten nach vorn gelesen und geprüft ob er das nicht doch ironisch kritisch gemeint hatte. Aber nein. Er meint es ernst. Die Separatisten und die von Russland eingesetzten „Verwalter“ meinen, sie seien die echten Ukrainer.  Auch manche nationalistischen Juden in Israel meinen, sie seien die echten Palästinenser. Meinen dürfen Sie das natürlich. Aber wie kann ein angeblich westlicher Journalist das ernst nehmen. Wie kann man das sogenannte „Referendum“ ernst nehmen, der von der Mehrheit der UNO-Mitglieder nicht anerkannt wird. Natürlich kann man Pipi Langstrumpf spielen und die Welt so sehen, wie sie einem gefällt. Aber dann ist man im Kindergarten. Wie kann man heute, mit allem, was wir inzwischen über Russland wissen, noch glauben, dass die „Leute“ froh waren von Russland besetzt worden zu sein, dass Russland „soziale Sicherheit, die Einbindung in das russische Sozialsystem und mehr Lebensqualität“ bieten kann. Heyden rechtfertigt und begründet die russische Invasion damit, dass „schon 2022 mehr als 600 000 Menschen in den Volksrepubliken russische Pässe“ hatten. Er verschweigt, dass schon 2022 das Gebiet von prorussischen Kräften besetzt war und die Bürger gezwungen wurden russische Pässe zu beantragen. Er lügt, wenn er sagt, dass „die große Mehrheit war froh, dass man sich jetzt mit Russland zusammenschließt. Allgemein gab es eine Sehnsucht nach Russland. Russland wurde gelobt, weil die Straßen neu gebaut wurden.“ Das erinnert an Adolf Hitler, der auch gelobt wurde, weil er die Autobahnen gebaut hat.  Andere, echte Russland und Ukraine-Experten sagen ganz was anderes. Und keiner spricht, „von einem Krieg der Ukraine gegen Russland“. Die Amerikaner nennen das „upside down“, die Welt auf den Kopf stellen.

Und auch im Strafrecht erzählt uns Heyden Märchen aus 1001 Nacht. Märchen, die aus der finstersten russischen Propaganda stammen könnten. Er schreibt von der „humanitären Erneuerung, die es schon längst in Russland gegeben hat.“ Gut, dass er „gegeben hat“ geschrieben hat, denn diese angebliche und sogenannte „humanitäre Erneuerung“ ist längst vergessen und begraben. Da muss man nur den Russen Dmitry Glukhosky und seine „Geschichten aus der Heimat“ lesen oder den Briten Tomothy Snyder und sein Buch „Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika“. Snyder ist einer der besten Kenner Osteuropas und der Ukraine. Sein Buch Bloodlands ist in mehr als 40 Sprachen übersetzt worden. Obwohl wir täglich von der Vergewaltigung der Justiz in Russland lesen, der Fall Nawalny ist ja wohl auch Heynen bekannt, schreibt dieser von der „humanitären Erneuerung, die es schon längst in Russland gegeben hat, beispielweise dass man von der Unschuld ausgeht und der Staat beweisen muss, dass eine Person schuldig ist.“ Aber genau da liegt doch der Hund begraben. Der Staat kann immer beweisen, dass eine Person schuldig ist.

Dass Heyden auch noch bestreitet, dass russische Soldaten ukrainische Frauen vergewaltigt haben, sei noch am Rande erwähnt. Er meint wohl, dass man Butcha und die anderen Orte wo Massaker und Vergewaltigungen stattgefunden haben, in Holywood gedreht hat, wie einst die Landung auf dem Mond.

Florian Rötzer und Ulrich Heyden werden bald, wenn der Krieg in der Ukraine vorbei sein wird und Putin vor einem Kriegsverbrechertribunal stehen wird, versuchen diesen und andere Artikel zu eliminieren. Es wird aber nicht gelingen, da das Internet nichts vergisst und alles wieder an die Oberfläche bringt. Zum Glück haben sie den Beitrag nicht mit „Z“ beendet. Warum eigentlich?

Abraham Melzer, 31.03. 2023

 

Lieber Gregor Gysi,

ich habe Sie gestern in der Sendung von Maischberger beobachtet. Sie haben einen sehr erbärmlichen Eindruck hinterlassen.  Ich war erschrocken einen senil gewordenen und naiv gebliebenen Politiker zu sehen, der nichts anderes zu sagen hatte und Immer wieder „Waffenstillstand“ gackerte ….. Damit haben Sie beim Publikum für wenig Begeisterung gesorgt. „Mit wem?“, fragte Sie ihr junger ukrainischer Gesprächspartner, der Selenzkyi-Berater Alexander Rodnyansky, zurecht und nennt Ihren Vorschlag: „Verfehlt und unverfroren.“ Sie selbst sprachen von „komplizierte Friedensverhandlungen“ und davon, dass es „dann Kompromisse geben könnte.“ Glauben Sie wirklich, dass man mit Putin Kompromisse machen kann? Hätte man mit Hitler Kompromisse machen sollen, um den Krieg zu verkürzen? Welche Kompromisse wollen Sie machen? Welchen Kompromissen kann die Ukraine zustimmen? Sie sind leider vollkommen der russischen Propaganda und Einschüchterungspolitik verfallen. Sie wiederholen die russische Drohung Atomwaffen einzusetzen, obwohl Sie sich schon am Beginn des Gesprächs mit Rodnyanski einig waren, dass „ein Atomkrieg Putins äußerst unwahrscheinlich ist.“

Man müsse mit Putin reden, meinten Sie. Wie viele Versuche hat es schon gegeben mit diesem inzwischen per internationalem Haftbefehl gesuchten Kriegsverbrecher zu reden? Wie viele westliche Besucher saßen schon an seinem 30 Meter langen Tisch? Und wollen Sie Putin wirklich vorschlagen ab sofort keine einzige Waffe mehr zu liefern, wenn er einem Waffenstillstand zustimmt? Haben Sie so viel Vertrauen in Putin? Wollen Sie das Risiko eingehen von ihm belogen und betrogen zu werden? Wie oft hat er schon die Unwahrheit gesagt? Hat er nicht erst vor wenigen Tagen verkündet, dass er 1600 Panzer neu in Auftrag gegeben hat? Dabei ist doch Russland dem Westen bei der Waffenproduktion hoffnungslos unterlegen. Steht nicht seine Drohung im Raum weitere eine Million Zivilisten zu rekrutieren? Und hat man nicht vor wenigen Tagen in der Presse die satirische Überschrift gelesen: „Russland gehen die Leichen aus.“

Politik machen heißt die Realität so sehen wie sie ist und nicht träumen oder Wunschdenken äußern. Was Russland heute ist, das wissen wir. Es darf aber nicht so bleiben. Sie fordern Waffenstillstand und Gespräche mit Putin. Putins Krieg in der Ukraine ist vergleichbar mit Hitlers Überfall auf Russland. Ich betone „vergleichbar“ nicht gleich. Hitler wollte die Ukraine annektieren und Russland unterwerfen. Stalin hat sich gewehrt und wurde von den USA mit Waffen, Lastwagen, Munition, Kleidung und Nahrungsmittel unterstützt, wie heute die Ukraine. Am Anfang hat Deutschland große Teile Russlands erobert und besetzt, die Bewohner als Arbeitssklaven nach Deutschland transportiert und die Juden ermordet. Hätte Russland und die Welt zugestimmt 1943 mit Hitler Waffenstillstand zu vereinbaren? Mit Sicherheit nicht, zumal Hitler das auch nicht wollte. Und Putin will es offensichtlich auch nicht.

Warum soll die Ukraine jetzt einem Waffenstillstand zustimmen, solange noch große Teile der Ukraine von russischen Soldaten besetzt ist. Es wäre dumm und verantwortungslos. Sie erwähnten diverse Militärs, die vorausgesagt haben, dass die Ukraine keine Chance haben die Russen zu besiegen. Doppelt und dreifach so viele Militärs und Kriegsökonomen sagen aber das Gegenteil und die Realität sieht so aus, dass die Ukrainer durchaus die Chance und die Stärke haben Russlands Soldaten zu vertreiben und sogar die Krim zurückzuerobern.

Viele Experten hingegen teilen die Meinung des schweizerischen Militärexperten Keupp und zweifeln nicht daran, dass Putin den Ukraine-Krieg verlieren wird. Der bekannte US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama zum Beispiel ist der Auffassung, dass „Putins Niederlage höchstens eine Frage der Zeit“ ist. Die Kampfmoral der ukrainischen Streitkräfte sei viel höher als die der russischen Soldaten, außerdem sei die Lieferung von westlichen Kampfpanzern an die Ukraine ein entscheidender Faktor, wie Fukuyama in einem Interview mit t-online berichtete. „Ich halte es nicht für unwahrscheinlich“, führte er weiter aus, „dass die ukrainische Armee bis zum Sommer zumindest den südlichen Teil des Landes komplett befreien kann.“ Und Ihr Gesprächspartner, der ukrainische Berater von Selenskyj, hat vollkommen recht. Sollte die Ukraine die Krim zurück erobern, dann wir das Regime in Moskau zusammenbrechen.

Sie fürchten sich, dass Putin eine Million Soldaten rekrutiert. Sie müssen aber nur sehen was mit den bisher rekrutierten Soldaten, die schlecht ausgebildet in den Krieg geschickt wurden, passiert ist. Sie waren Kanonenfutter und konnten nichts ausrichten mit ihrer negativen Einstellung, mit ihrer schlechten Ausrüstung und Ausbildung, mit ihren museumsreifen T-55 Panzer. Will Putin weitere Millionen Soldaten opfern? Als Israeli und ehemaliger Panzergrenadier der israelischen Armee, weiß ich auch, warum die Ägypter 1967 eine solch vernichtende Niederlage erfuhren, weil ihre Soldaten nicht gut ausgebildet waren, weil zur Bedienung moderner Kampfpanzer eine Intelligenz und ein Verstehen von Technik benötigt wird, die die ungebildeten russischen Soldaten, die man hauptsächlich unter von Russland unterdrückten Ethnien rekrutiert, nicht haben, weil sie nicht nur noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen sind, sondern auch nicht im 20. Jahrhundert.

Sie plädieren dafür ihm Gespräche anzubieten und zu warten, dass Putin „nein“ sagt. Hat er nicht schon mehrmals „nein“ gesagt. Und warum fordern Sie nicht Putin auf, Waffenstillstandverhandlungen anzubieten? Von westlicher Seite gab es doch schon mehrere Angebote, auf die Putin nicht reagiert hat. Der Krieg und der Massenmord, den Sie beklagen, können doch sofort beendet werden, wenn Putin es will. Er will aber nicht. Deshalb bleibt uns keine andere Wahl als ihn zu besiegen und vernichten, wie im Zweiten Weltkrieg Hitler.

Sie fürchten, dass die BRICS-Staaten Russland unterstützen würden. Das zeigt mir, wie wenig Sie Welt-Politik verstehen. Glauben Sie wirklich, dass Brasilien, Indien, China und Süd-Afrika Russland helfen können? Glauben Sie, dass Brasilien, Indien und Süd-Afrika in der Lage oder gar bereit wären sich gegen die USA und gegen die EU zu stellen, wo sie doch von den USA und der EU mehr angewiesen sind als von Russland? Und wie wird ihnen ein total zerstörtes und verarmtes Russland helfen können? Und womit? Indem sie etwa Russlands Öl und Gaz zu einem Bruchteil des Preises kaufen? Konkrete Unterstützung werden sie nicht anbieten können und China wird es auch nicht wollen. China will vielleicht nicht, dass Russland verliert, aber noch mehr will China nicht, dass Russland gewinnt. China ist doch froh, dass Russland aus dem „großen Spiel“ raus ist und die Rivalität um den Welthandel nur noch zwischen den USA und China verbleibt. Russland soll aber bleiben als Energie-Tankstelle für China. So blöd wie Putin ist Xi nicht.

Sie, Herr Gysi, wollen keine Waffen liefern und berufen sich auf die Geschichte. Von welcher Geschichte reden Sie? Hätten die Amerikaner keine Waffen an Russland geliefert, dann wäre Russland vernichtet worden, denn Hitlers Krieg war ein totaler Vernichtungskrieg. Oder was meinen Sie genau, wenn Sie sagen: Das hängt mit der Geschichte zusammen? Der Zweite Weltkrieg ist nicht durch einen Waffenstillstand oder durch Verhandlungen beendet worden, sondern durch eine totale Kapitulation der Nazis. Und das war gut so. Oder wollen Sie der Ukraine nicht helfen, weil Deutschland den Zweiten Weltkrieg begonnen hat? Dann war es wohl, nach dieser Logik, falsch, gegen Deutschland Krieg zu führen, da im Krieg Menschen getötet werden. In einem Regime wie bei Hitler und heute bei Putin, werden auch Menschen getötet. Was ist denn besser, gegen das Töten zu kämpfen oder dem Töten zuschauen und Appelle verfassen?

Sie sind der Meinung, dass Putin Gründe hatte die Ukraine zu überfallen, obwohl Russland die Souveränität der Ukraine mehrmals versichert hat und daraufhin die Ukraine ihre Nuklearwaffen abgegeben hatte. Warum schauen Sie hier nicht zurück und warum behaupten Sie hier nicht, dass es Gründe für Deutschlands Krieg gab, wie Sie jetzt behaupten, dass es Gründe für Putins Krieg gäbe? Nein, da irren Sie sich gewaltig. Es gibt keine rechtfertigenden Gründe für einen totalen Krieg, denn ein totaler Krieg kennt nur Verlierer. So wie Hitlers Überfall auf Polen und später Russland verwerflich und dumm war, so ist doch auch Putins Überfall auf die Ukraine dumm und verbrecherisch. Und deshalb wird er zurecht per Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen gesucht.

Alle linken Intellektuellen und rechten Kriegshetzer werden bald nackt und beschämt vor ihren Spiegeln zuhause stehen und sich fragen, wie sie so naiv und dumm sein konnten, einem notorischen Lügner und Kriegsverbrecher (Tschetschenien, Georgien, Krim, Donbass, Syrien, und andere Regionen) durch eine rosarote Brille sehen konnten. Keiner wird sagen können, wie viele Nazis nach dem Krieg, er habe nichts gewusst. Er wusste nicht von den fürchterlichen Kriegsverbrechen, von den Massenmorden, von der totalen Zerstörung von Dörfern und Städten, von der barbarischen Unterdrückung der russischen Bevölkerung und davon, dass im Russland von heute sogar Kinder ab 12 Jahren verhaftet und verschickt werden. Das haben wir alle gewusst und täglich sehen wir es in den Nachrichten. Aber wer Putin durch seine rosarote Brille sieht, der glaubt er den Nachrichten nicht. Der glaubt nur das, was er glauben will oder glauben muss, weil er so manipuliert ist.

Wir haben nicht nur eine gesellschaftliche Pflicht die Ukraine zu unterstützen, sondern auch eine moralische, denn wer Unrecht sieht und schweigend duldet, hat es mitverschuldet. So betrachten wir doch heute alle, die schweigend und tatenlos Hitler machen ließen, was er gemacht hat, als mitschuldig. Insofern ist nicht nur Deutschland an der Ermordung von sechs Millionen Juden Schuld, sondern auch Frankreich, Holland, Polen, Italien und Griechenland. Nur in Bulgarien und Dänemark gab es Widerstand und nur dort wurden Juden gerettet. Der dänische König ging sogar mit einem Judenstern in die Öffentlichkeit.

Sie schlagen vor nur humanitär die Ukrainer zu unterstützen. Was meinen Sie damit? Soll man den Ukrainern Stahlhelme liefern und Verbandzeug? Soll man für sie beten, während die russische Soldateska weiter mordet, Infrastruktur zerstört, Kinder entführt und Frauen vergewaltigt?

Lieber Gregor Gysi, Sie sind jetzt 75 Jahre alt. Es ist Zeit zu gehen. Sie sind politisch nicht mehr relevant und sie wirken wie ein müd gewordener Politiker. Ihre müden und verwerflichen Argumente sind beim Publikum nicht angekommen, während ihr junger Gesprächspartner Beifall bekommen hat, als er sagte, dass die Ukraine um ihre Freiheit kämpfen wird, weil man mit einem Verbrecher wie Putin keinen Frieden machen kann. Gehen Sie nach Hause, oder wie wir in den 70er Jahren sagten: „Gysi go home.“ Schreiben Sie weiter an Ihren Memoiren. Sie haben bestimmt noch mehr zu erzählen. Oder schreiben Sie einen Roman. Das hätten Sie die Freiheit ihre Geschichte so zu erzählen, wie Sie sie erzählen wollen.Sie sind immer noch zwischen Pazifismus und Fundamentalismus stecken geblieben. Sie beschäftigen sich immer noch mit einer Frage, die schon längst beantwortet worden ist, nämlich: Wann ist legitim legitim? Sie wollen deutsche Waffenlieferungen verbieten. Aber nicht nur Deutschland liefert Waffen und den Polen, Tschechen, Engländer, Franzosen, Amerikaner und, und, und, können Sie nicht verbieten und selbst in Deutschland haben wir gottseidank vernünftige Politiker, die inzwischen auch schwere Leopard II Panzer geliefert haben. Einen brutalen Überfall wie jetzt in der Ukraine kann man nicht mit guten Worten oder Mozartkugeln stoppen. Und ich erinnere an die jüdische Weisheit aus dem Talmud: Wer aufsteht dich zu töten, steh früher auf und töte ihn.

Ich möchte Ihnen vorschlagen nicht mehr im Fernsehen aufzutreten, denn Sie machen sich selbst nur lächerlich und Sie verlieren Ihr Gesicht. Schon gestern sahen Sie grau und alt aus. Und vor allem: Wie wollen Sie sich entschuldigen, wenn alles vorbei sein wird, Russland den Krieg verloren hat und Putin vor Gericht steht. Und wenn er persönlich nicht, weil er tot sein wird, dann zumindest, wie in Nürnberg, die gesamte russische Elite, die den Krieg finanziert und betrieben hat.

Ich hatte immer links gewählt und damit für Sie gestimmt. Heute sehen Sie alt und müde aus und mit Ihren unrealistischen Thesen machen Sie sich lächerlich. Sie verkennen die strategische Lage. Die Ukraine muss nicht über Russland siegen. Die Ukrainer müssen sich nur nicht besiegen lassen. Russland aber muss siegen, wenn Putin überleben will. Russland muss über den Mut, Professionalität und nun auch durch westliche Waffen bessere Ausrüstung der Ukraine triumphieren. Das wird für sie viel schwerer zu erreichen sein. Somit kann es erst Verhandlungen geben, wenn Russland seine Truppen hinter den Don zurückgezogen hat. Das war 1918 nicht anders. Der Waffenstillstand von Compaigne verlangte den deutschen Rückzug hinter den Rhein.

von Abraham Melzer

Pazifismus contra Militarismus

Bei der Frage Pazifismus oder Militarismus stehen manche Zeitgenossen,  Politiker und Intellektuellen wie die Kaninchen vor der Schlange. Nur die LINKE und die AfD wissen, wie sie sich verhalten sollen. Für die LINKE ist in diesem Fall die Schlange keine andere als Sahra Wagenknecht, die sie, die LINKE, schon mehrmals gebissen hatte, ihr aber den Todesbiss noch nicht gegeben hat. Sie hat Angst, dass sie selbst dabei politisch sterben könnte. Es wäre um beide nicht schade. Gemeinsam mit der AfD haben sie und viele in Deutschland, die Wagenknechts absurden und naiven Appel, unterzeichnet haben, vergessen, dass sie in einer Demokratie leben, in der auch solche dümmlichen Appelle möglich sind, weil die USA nicht pazifistisch waren und mit Waffengewalt und Millionen Opfer Hitler und sein Naziregime bekämpft und besiegt haben. Und heute wollen wir an die Ukraine Waffen liefern, damit sie sich gegen eine barbarische Aggression Russlands wehren können. Wir können genauso wenig abseitsstehen und tatenlos zusehen, wie im Zweiten Weltkrieg die Engländer und Amerikaner. Wir haben eine historische Stunde, in der wir nicht abseitsstehen können. Entweder stellen wir uns Putins Regime entgegen, oder wir werden zu Kollaborateuren. Die imperialistische Politik des Kremls muss thematisiert werden, denn sie zielt letztlich gegen den Westen, gegen uns.

Während die Fundamentalpazifisten tatsächlich pazifistisch sind verhält es sich bei den sogenannten „Kriegstreiber“ anders. Sie sind mitnichten alle militant, sie folgen nur der ethischen Forderung: „Wer Unrecht sieht und es schweigend duldet, hat es mitverschuldet.“ Und da ist noch der zweitausendjährige Satz aus dem Talmud: „Wenn jemand aufsteht dich zu töten, töte du ihn zuerst.“ Selbstverteidigung ist nicht nur Pflicht, sie wird sogar moralisch geboten. Waffen liefern an die Ukraine ist demnach erlaubt und sogar ethisch begründet, während zusehen und nicht helfen unmoralisch ist.

Insofern muss man dankbar und froh sein, dass unsere links-liberale Regierung ihre Antikriegshaltung so versteht, dass sie sich mit der Ukraine auch international solidarisch erklärt und auf diese Weise den Krieg in der Ukraine als einen „linken“ beziehungsweise „linksliberalen“ Krieg versteht, zumal auch die konservative Opposition genauso denkt. Nur die Rechtsaußen und Linksaußen Parteien, die LINKE und die AfD würden am liebsten sofort die Waffenlieferungen an die Ukraine stoppen und aus der sicheren Tribüne zusehen, wie die Ukraine zerstört und vernichtet wird.

„Wenn die Ukraine sich weiter verteidigt, dann wird sie selbst schuld sein an der totalen Zerstörung ihres Landes.“ So oder ähnlich drückte sich der ehemalige Bundeswehrgeneral und Berater von Angela Merkel Erich Vad, der die Meinung vertrat, dass die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnen kann, dass „die Sache ein paar Tage und nicht mehr“ dauern würde. Dieser abartige und perverse Satz erinnert an Franz Werfels Kurzgeschichte, die ich in der Schule lesen musste: „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuld“. In der Presse hieß es: „Merkels General kam, sah und irrte.“ Aber bis heute tritt er im Fernsehen auf und ist sich nicht bewusst, dass er sich mit alledem schuldig gemacht hat. Er war nicht allein. „So manche Angehörige der früheren politischen und militärischen Eliten in Deutschland haben russischen Interessen bewusst oder aus Naivität zugearbeitet und tun es immer noch“, sagt Marcus Keupp. Das wird für das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag noch ein interessantes Thema, denn auch die propagandistische Unterstützung von Kriegsverbrechen ist strafbar. Das alles ist ärgerlich, weil sie die narrative des Kremls verbreiten.

Erich Vad ist dumm und zynisch, während seine Anhänger Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer dogmatisch und naiv sind. Wenn man solch einen Schwachsinn hört, kann man nur noch zornig und wahnsinnig werden. Da möchte man sie, wie einst Jud Oppenheimer, in einem Käfig auf dem Roten Platz wünschen, wo sie ihre pazifistischen Weisheiten Vladimir Putin zurufen, während die Menschen drumherum sie auslachen.

Meine Generation hatte Glück. Wir konnten aufwachsen in Frieden und vor allem in Freiheit. Wir haben sogar geglaubt, dass es so ewig weiter gehen könnte, dass durch Handel, Wandel und ewiger Frieden in der Welt stattfinden könnte. Dieser Traum ist nun zu Ende. Es ist wie eine Seifenblase zerplatzt. Wir leben wieder im Krieg und haben eine vielleicht irrationale Angst vor der totalen Vernichtung der Welt. Wir dürfen uns nicht von der Drohung mit Atomwaffen erpressen lassen. Die Atomwaffen sind eine psychologische Waffe, die Putin gezielt einsetzt und die vor allem in Deutschland wirkt. Allein die Erwähnung erzeugt diesen typischen deutschen Angstdiskurs.

Vollkommen unerklärlich und unverständlich ist aber die Art und Weise wie manche Fundamentalpazifisten und „his masters voice“- Propagandisten, die Schuld einseitig im Westen sehen und Putins Krieg in und gegen die Ukraine als unvermeidliche Reaktion auf westliche Politik der USA und der NATO. Manche sogar als Schuld der Deutschen, weil sie deutsche Panzer an die Ukraine liefern. Bei vielen, wenn nicht gar bei allen Fundamentalpazifisten ist es fast schon mehr als eine Ideologie, nämlich eine Religion. Sie wissen nichts, aber sie glauben alles, was aus Putins Propagandamaschinerie kommt. So wie die Christen an die Jungfrau Maria glauben, so glauben sie an den notorischen Lügner Putin. Und so wie die jungfräuliche Schwangerschaft ein Märchen ist, so ist auch Putins Plan Russland wieder groß zu machen, ein Traum, aus dem für Russland schon ein Albtraum geworden ist.

Dass die AfD-Wähler diesen Traum teilen, ist logisch, denn ihr Hass auf die USA ist bekanntlich der Ersatz für den Hass auf die Juden, die es zumindest in Deutschland kaum noch gibt. Merkwürdigerweise werden sie ausgerechnet aus Israel, von Yair Netanjahu, dem ungeratenen und peinlichen Sohn Benjamin Netanjahus, unterstützt. Und wenn man die USA hasst, nicht zuletzt, auch weil es Nazi-Deutschland besiegt hat, empfindet man auch Empathie für Russland, obwohl Russland auch Nazi-Deutschland besiegt hat, wenn auch mit amerikanischer Unterstützung. Aber der Hass auf Amerika ist natürlich stärker, weil dort Millionen Juden leben, die angeblich die amerikanische Politik und vor allem das amerikanische Kapital lenken. Sowohl die LINKE wie auch die AfD und manche naive Intellektuelle in unserem Land sind wohl in den 60er Jahren stecken geblieben, als der Hass auf Amerika im Trend lag. Damals gingen wir alle auf Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg. Heute frage ich mich, wo die Demonstrationen gegen die Anwesenheit der Russen in Afghanistan geblieben sind und warum keiner gegen den brutalen Krieg der Russen in Syrien auf die Straßen geht.

Und ich frage mich auch warum ein linker Politiker und Fundamentalpazifist die Amerikaner hasst, weil ein amerikanischer Soldat seinen Vater erschossen hat. Schließlich war sein Vater Soldat und erschossen werden gehörte zum Berufsrisiko. Warum ist er den Amerikanern, die mit mehr als eine Million tote und verwundete Soldaten Europa und Deutschland vor dem Faschismus gerettet haben, nicht dankbar? Wo wären wir alle heute, wenn die Amerikaner sich auf Pazifismus bezogen hätten und nicht in den Krieg gegen Deutschland und gegen Japan eingetreten wären. Wo wäre Russland heute, wenn die Amerikaner keine Waffen, Lastwagen, Nahrungsmittel und Kleidung geliefert hätten. Die Nazis hätten die UdSSR erobert und noch mehr Juden ermordet.

Auf Putin und die Wendung Russlands in Richtung Faschismus waren wir nicht vorbereitet, obwohl manch kluger und vorausschauender Journalist und Politiker schon vor Jahren gewarnt hat. Wir waren aber alle naiv und glaubten an den falschen Slogan der SPD: Wandel durch Handel. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass wir sie zum zweiten Mal erleben müssen. Auch an Hitlers Absicht Krieg zu führen und Europa auf den Kopf zu stellen, hat seinerzeit niemand geglaubt und diejenigen, die davor gewarnt haben, hielt man für Kriegshetzer. Heute wissen wir, wie und wann es angefangen hat, lange vor 1939, und wie es geendet hat, nämlich mit der totalen Zerstörung Deutschlands, mit mehr als sechzig Millionen Tote und der Verwüstung halb Europas.

„Keiner hat die Absicht eine Mauer zu bauen“, sagte Ulbricht und baute eine Mauer. „Russland hat nicht die Absicht die Krim zu besetzen“, sagte 2008 Vladimir Putin und besetzte die Krim 2014. Und der frühere russische Schachweltmeister, Kasparow, sagte schon 2012: „Mit Putin kann man nicht verhandeln, man muss ihn militärisch besiegen.“ Keiner hat Putin geglaubt, auch noch als er Tschetschenien und Georgien angegriffen und zerstört hat. Danach ist Russland ein Polizeistaat geworden und inzwischen eine totale Diktatur. Und diese Diktatur will nicht nur die Ukraine schlucken, nicht nur die baltischen Staaten und Polen wieder besetzen, sondern auch Ostdeutschland zurückhaben.

Manche sagen, dass dieser Krieg schon 2014 begann, als Russland die Krim besetzt hat. Ich denke aber, dass dieser Krieg in dem Augenblick begann, als Putin die Macht übernommen bzw. auf einem silbernen Tablett von Jelzin überreicht bekommen hat. Wir haben es nur nicht gesehen, weil wir es nicht sehen wollten. Putins Strategie war von Anfang an die Lüge. Er sprach von Freundschaft und weil er es auf Deutsch gesagt hat, wollte man ihm glauben. Freundschaft zwischen Staaten gibt es aber nicht und erst recht nicht in der russischen Politik und Logik. Viele merken heute, dass wir zu naiv waren in Bezug auf Russland und besonders in Bezug auf Putin, auch wenn Putin nicht Russland ist. Aber Putin ist in Russland von heute alles. Er ist in der Lage 99 Prozent der Russen zu manipulieren. Zum Beispiel mit solch nächtlichen Besuche in Mariupol, wo er eine große Lüge und eine zynische Show im russischen Fernsehen präsentierte. Putin hat Dynamiken entwickelt, die er nicht mehr kontrollieren kann. Er will seiner Bevölkerung die Lüge verkaufen, dass Russland groß und mächtig ist. Dabei stimmt heute mehr denn je, was Barak Obama gesagt hat: „Russland ist eine Regionalmacht.“ Putin verkündet den Bau von 1600 Panzer noch bis Ende des Jahres, dabei gibt es in Russland nur eine Fabrik, die Panzer bauen kann und diese kann nicht mehr als 20 Panzer im Monat fertigen. Für 1600 Panzer würde Putin mehr als 6 Jahre benötigen. Propaganda, die aus Lügen besteht, von morgens bis abends und da die Bevölkerung keine anderen Quellen hat sich zu informieren, beschließen kluge Menschen es nicht einmal zu ignorieren und andere, und das ist die Mehrheit, glaubt es. Bei Hitler war es nicht anders und bei Stalin, Mao oder Saddam Hussein auch nicht.

Russland darf nicht siegen. Es muss diesen völkerrechtswidrigen Krieg verlieren. Der ETH-Militärökonom Marcus Keup aus Zürich glaubt er könne das Ende des Ukraine-Krieges berechnen: „Russland wird den Krieg im Oktober verloren haben“. Danach muss es für Russland eine Art „Entnazifizierung“ geben. Bei der Hinführung Russlands zu einer Demokratie muss man den Russen vor allem den Glauben austreiben, sie seien eine Großmacht, eine Weltmacht. Besonders muss man in Moskau verstehen, dass die amerikanische Industrie zehnfach stärker ist, als die russische und dass im zwanzigsten und erst recht im einundzwanzigsten Jahrhundert Industrie gewinnt und nicht Soldaten oder Panzer.

Und Putin muss so schnell wie möglich kapieren, dass nicht mehr er den Krieg führt, sondern der Krieg ihn. Und da inzwischen ein Haftbefehl vom Internationalen Strafgerichtshof gegen ihn ausgestellt worden ist, bleibt die Hoffnung, dass man ihn wie den früheren Präsidenten Slobodan Milosevic fassen wird, der auch nicht geglaubt hat, dass er einmal in einem Gefängnis in den Niederlanden enden würde. Insofern würde vollendet, was vor fast 80 Jahren in den Nürnberger Prozessen begann – übrigens mit russischer Beteiligung.

Abraham Melzer, 26.03.2023

Totaler Sieg oder Totaler Krieg?

Bei der Debatte um Eva Illouz´s Beitrag in der ZEIT, wo sie zurecht den totalen Sieg über Putin forderte, wird sie von vielen naiven und Putins nützliche Idioten kritisiert, die Goebbel´s Worte vom „totalen Krieg“ mit Illouz´s Worte vom „totalen Sieg“ gleichsetzen. Natürlich darf man vergleichen, aber nicht gleichsetzen, denn ein totaler Sieg ist etwas ganz anderes als ein totaler Krieg.

Für die Beendigung des Krieges in der Ukraine und dafür, dass er nicht wieder ausbricht, sobald sich die russische Armee von ihren verheerenden Verlusten erholt hat und die Industrie wieder genug neuen Panzer produziert hat und die Armee genügen neue Rekruten angeworben hat, die man wieder als Kanonenfutter einsetzen kann, ist ein totaler Sieg nötig, eine bedingungslose Kapitulation Putins. Ein totaler Sieg bedeutet das Ende des Krieges.

Goebbels aber propagierte den „totalen Krieg“ und das bedeutet Krieg ohne Ende und eine sinnlose Zerstörung von Infrastruktur ohne Ende. Das wollen wir doch alle nicht, auch Eva Illouz. Sollten wir Putin nicht total besiegen, dann wiederholt sich die Geschichte und wir bekommen wieder den 30jährigen Krieg oder gar den 100jährigen Krieg. Wollen wir das?

Eva Illouz wird vorgeworfen die Naziideologie, das Nazivokabular benutzt zu haben. Aber diejenigen, die das behaupten, und bewusst Zeitgeschichte fälschen, haben entweder keine Ahnung oder wollen bewusst eine Jüdin mit Goebbels bzw. Hitler vergleichen, um Putin zu entlasten, gegen den inzwischen ein Haftbefehl des Internationalen Gerichtshof in Den Haag ausgestellt worden ist. Man freut sich eine Jüdin dabei ertappt zu haben, ebenfalls den „Totalen Krieg“ zu befürworten, obwohl sie nur den „Totalen Sieg“ eingefordert hat.

Wer glaubt und behauptet, und das sind immer dieselben nützlichen Idioten, dass Putin das Opfer der anglo-amerikanischen „Nazis“ sei und wer dafür plädiert der Ukraine keine Waffen zu liefern, der ignoriert die Geschichte oder kennt sie nicht, oder will sie nicht wahrhaben. Wo wären wir alle heute, wenn die USA nicht England und Russland geholfen hätte und nicht Japan „total“ besiegt hätte? Schwarzer, Wagenknecht und Lafontaine wären vielleicht Mitglieder der NSDAP und hätten gegen die Waffenlieferungen der USA auf deutschen Straßen demonstriert, wenn Demonstrationen überhaupt erlaubt gewesen wären. In derselben Situation befinden wir uns heute. Es geht nicht darum die Ukraine zu retten, sondern es geht darum Europa vor dem aggressiven Imperialismus eines durchgeknallten Diktators zu retten. Erinnert das nicht an Hitlers Imperialismus, als er die Ukraine und Russland überrannte und Moskau erobern wollte?

Natürlich verstehe ich die Angst davor, dass dieser Diktator völlig durchdreht und den roten Knopf drückt, aber dennoch haben wir keine andere Wahl als zu versuchen Russland zu stoppen und Putin vor Gericht zu bringen. Das haben wir schon einmal gemacht, 1945 in Nürnberg, und in einer außerparlamentarischen Opposition durch den Russel-Tribunal von 1966, als es um die Kriegsverbrechen der USA in Vietnam ging und das müssen wir wieder machen, selbst wenn es Putin gelingt sich einer Verhaftung zu entziehen.

Ein „totaler Sieg“ würde den Krieg verkürzen und das Leiden der ukrainischen Bevölkerung und auch der russischen beenden. Ein „totaler Krieg“, wie ihn Goebbels wollte, würde den Krieg verlängern und die Ukraine, Russland und am Ende vielleicht auch ganz Europa zerstören. Natürlich hätte Eva Illouz auch eine „bedingungslose Kapitulation“ wünschen können, auch wenn alle vermeintlichen Experten meinen, dass Russland unbesiegbar sei. Russland ist genauso unbesiegbar wie es Nazi-Deutschland war. Ein Krieg gegen die ganze Welt kann nicht mit einem Sieg enden. Es muss am Ende einen totalen Zusammenbruch geben. Es gibt in der Geschichte kein Beispiel dafür, dass es irgendwann und irgendwo gelungen ist. Alle naiven und dummen Experten, die der Meinung sind, dass Russland nicht besiegt werden kann, waren auch der Meinung, dass die Ukraine innerhalb 4 Tagen besiegt werden wird. Inzwischen sind seit Kriegsbeginn mehr als 13 Monate vergangen und die ukrainische Armee ist auf dem Vormarsch und die russische Armee bemüht sich unter ungeheuerlichen Verlusten an Material und Menschen die Frontlinien zu halten. Wer ein wenig Ahnung von Geschichte hat, wird wissen, dass nicht die Zahl der Soldaten und die Zahl der Panzer eine Rolle spielt, sondern vor allem die Moral der Truppe und die Intelligenz der Kommandeure. Die russischen Kommandeure scheinen dumm, ungebildet und dogmatisch durchdrungen zu sein. Sie setzen Masse ein und nicht Klasse.

Natürlich sage ich das alles ohne je Kriegstaktik und Strategie studiert zu haben. In der israelischen Armee war ich auch nur ein einfacher Panzergrenadier. Aber mein immer noch gesunder Menschenverstand sagt mir, dass Putin diesen Krieg nicht gewinnen kann und vor allem nicht gewinnen darf. Und so wie 1945 die westliche Welt gehofft hat, dass Hitler den Krieg nicht gewinnt, so hoffe ich und viele andere heute, dass Putin besiegt wird. Die Ukraine darf nicht nur nicht verlieren, sie darf und soll siegen. Vielleicht wird das das letzte Menetekel für die Menschheit sein, Krieg zu verachten und nicht einmal daran denken sie zu beginnen. Denn eigentlich gibt es bei Kriegen der Neuzeit, zumindest seit dem Ersten Weltkrieg, keine Sieger mehr, sondern nur Verlierer.

Abraham Melzer, 19.03.2023