Leserbrief zum Artikel von Thomas E. Schmidt ”Was ist BDS”? in DIE ZEIT vom 10.06.2020.
von Hermann Dierkes
”In Zukunft könnte BDS laut zu hören sein: Wenn Netanjahus Regierung wie angekuendigt in den nächsten Monaten Teile des Westjordanlandes annektiert, wird das eine neue und heftige Welle antiisraelischer Proteste auslösen” prognostiziert T.E. Schmidt ganz zutreffend. Schlimm, geradezu fatal wäre es doch, wenn dem nicht so wäre. Wenn das geschundene, kolonisierte palästinensische Volk wieder einmal weitgehend im Stich gelassen wuerde. Wenn Völkerrecht, Gerechtigkeit und Moral nur in Lippenbekenntnissen bemueht und Bundesregierung, Zweierlei-Maas, EU und weitere verantwortliche Akteure es wie gehabt nur mit dem Ausdruck ihrer ach so grossen Sorge bewenden lassen wuerden und weiter in business as usual machen (Ruestungsgeschäfte, ”Sicherheitstechnik – und Konzepte”, Polizeiausbildung, geostrategische Frontbildung usw.). Wollen wir hoffen, dass die weltweite Bewegung fuer Menschenrechte, Gleichstellung und strukturelle Veränderungen sowie gegen Unterdrueckungsgewalt auch ”Palestinian Lives Matter” noch stärker auf ihre Fahnen schreibt!
Herr Schmidt erweckt mit seinem Artikel den Eindruck, er sei besonders gut ueber BDS informiert. Umso absurder ist es, dass er dennoch versucht, die völkerrechtliche Legalität und politische Legitimität dieser zivilgesellschaftlichen Bewegung ständig mit Falschbehauptungen, Verdächtigungen und Ablenkungsmanövern zu untergraben, um die alten Dogmen noch ueber ”Die Zeit” zu retten. Wer hat ihm hier die Hand gefuehrt? Wenn die Verwirklichung von internationalem Recht und Demokratie Israel in seinem Bestand gefährdet, dann läuft doch mit der herrschenden Staatsdoktrin in diesem Land etwas grundlegend falsch! Ein halbes Dutzend Beispiele ueber die diskriminierenden Verhältnisse in Israel selbst, die brutale Unterdrueckung und Enteignung in den besetzten Gebieten und die tagtäglichen gewohnheitsmässigen Verbrechen der israelischen Okkupationsarmee wuerden das ganze argumentative Kartenhaus von T.E. Schmidt zusammenfallen lassen. Warum haben die arabischen Israelis und erst Recht die Menschen im Westjordanland und in Gaza all das passiv hinzunehmen? Welchem ”Frieden” sollen sie sich unterwerfen, – der Friedhofsruhe? Ist es nicht offensichtlich, dass derartige Verhältnisse nicht von Dauer sein können? Der grosse Daniel Barenboim hat es mit einem einzigen Satz nach der letztjährigen Apartheid-Gesetzgebung in Israel auf den Punkt gebracht: ”Ich schäme mich, Buerger dieses Landes zu sein”.
Ich kenne die Verhältnisse beiderseits der Mauer, ich habe Freunde dort. Es gibt auch ein anderes Israel als nur das offizielle. Die zahlreichen Stellungnahmen von fortschrittlichen Israelis sind Ihnen, Herr Schmidt, mit Sicherheit bekannt. Sie sind beileibe nicht alle BDS-Unterstuetzer, aber eines eint sie: Eine menschenwuerdige Zukunft gibt es nur, wenn es zu einem historischen Interessenausgleich in der Region kommt – ohne Rassismus, ohne Diskriminierung, Unterdrueckung und Herrenvolksallueren. BDS ist der Notschrei eines unterdrueckten Volkes. Niemand hat das Recht, den Palästinensern ihr einzig verbliebenes ziviles und effektives Kampfmittel streitig zu machen. BDS richtet sich uebrigens gegen alle weltweit, die von Unterdrueckung und Besatzung profitieren, nicht nur gegen israelische Akteure und war bisher recht erfolgreich. Der europäische Gerichtshof fuer Menschenrecht hat soeben einstimmig gegen vorinstanzliche Urteile in Frankreich entschieden: BDS-Aktivitäten sind durch die Meinungsfreiheit gedeckt, die verurteilten Aktivisten sind zu entschädigen. Ich bin ziemlich sicher, dass dieses Urteil auch bei den laufenden Verwaltungsrichtsverfahren in Deutschland in Sachen Raum- und Veranstaltungsverbote zum Thema BDS Beachtung finden wird. T.E. Schmidt schliesst seinen Artikel mit einer nur schlecht verhuellten Drohung: ”Der Einfluss von BDS ist ein gesellschaftlicher, und mit staatlicher Politik wird er kaum zurueckzudrängen sein. Differenzierende Nachfragen sind es, die Sympathisanten dazu zwingen, ihre Haltung zu den BDS-Zielen zu präzisieren. Ein jeder von ihnen muesste offenlegen, wie weit er bereit ist, die Ziele dieser Bewegung mitzutragen.” Geht`s noch, Herr Schmidt? Fehlte nur noch, dass Sie die Anschrift des Bundes”antisemiten”jägers Klein mitgeteilt hätten, dem derartige Geständnisse in dreifacher Ausfertigung vorzulegen sind, damit der Boykotte und Sanktionen (berufliche Nachteile, Veranstaltungsverbote, Rufschädigung, Zensur usw.) eigener Art vorbereiten kann. Andersherum wird ein Schuh daraus: Sie, Herr Schmidt, sollten in sich gehen und offenlegen, ob und wie weit Sie bereit sind, demokratische Verfassungsgrundsätze, Völkerrecht und politische Moral mitzutragen!
Hermann Dierkes, ehem. Ratsmitglied der Stadt Duisburg/Stadtältester.
Guter Kommentar!
Hinzuzufügen wäre in Richtung Thomas Schmidt. dass dieser wie viele andere nicht verstehen ( wollen)bzw. leugnen , dass der Antisemitismus sowohl historisch als auch aktuell das Lebenselixier Israels bzw. des Zionismus ist. Die Verfolgung der Juden wird als überwindbar und ewig hingestellt, deshalb stellte sich der Zionismus von Anfang an in den Dienst der herrschenden Kolonialmächte und teilte deren rassistische Ideologie. Es ist also völlig widersnning, Antisemitismus und Antizionismus in einem Topf zu werfen ganz zu schweigen von der BDS- Kampagne, die ja für ein Ende der Besatzung auf der Basis eines friedlichen und pragmatischen Ausgleichs mit Israel eintritt.