Das Hirngespinst des britischen Antisemitismus und wie man ihn nicht bekämpfen kann, wenn es ihn denn gäbe

von Norman G. Finkelstein

Die gegenwärtige Hysterie, die die britische Labour Party umgibt, löst sich in ein paar  miteinander verbundener, wenn auch eigenständiger Prämissen auf: Antisemitismus in der britischen Gesellschaft im Allgemeinen und in der Labour Party im Besonderen hat Krisenausmaße angenommen. Wenn keine dieser Voraussetzungen aufrechterhalten werden kann, dann ist die Hysterie ein Hirngespinst. Tatsächlich wurden für beide keinerlei Beweise zu ihrer Begründung vorgelegt, im Gegenteil, alle Beweise deuten in die entgegengesetzte Richtung. Die rationale Schlussfolgerung ist, dass die ganze Aufregung ein inszenierter Schwindel – um nicht zusagen ein Komplott – ist, um Jeremy Corbyn und die prinzipientreue linke Politik, die er vertritt, aus der britischen Öffentlichkeit zu verdrängen.  Aber selbst wenn die Unterstellungen wahr wären, bestünde die Lösung mitnichten in der Einschränkung der Meinungsfreiheit in der Labour Party.

Die linksliberale Tradition hat der Wahrheit einen einzigartigen, fundamentalen Wert beigemessen; aber zur Wahrheit dringt man nicht vor, wenn Abweichler, so anstößig sie auch erscheinen mögen, zum Schweigen gebracht werden. Angesichts der belasteten Geschichte des Antisemitismus einerseits und seiner groben Manipulation durch jüdische Eliten andererseits mag eine objektive, unvoreingenommene Einschätzung unerreichbar scheinen. Dennoch muss sie versucht werden. Die Aussicht auf einen historischen Sieg der Linken könnte ansonsten sabotiert werden, da Corbyns Anhänger, sei es aus Angst, Berechnung oder politischer Korrektheit, es bisher nicht wagen, das Übel, das sich da abspielt, zu thematisieren. 

Das Ausmaß des Antisemitismus, der die britische Gesellschaft infiziert hat, war über einen längeren Zeitraum hinweg Gegenstand zahlreicher Umfragen. Diese Umfragen haben einheitlich, konsistent und unzweideutig ergeben, dass Antisemitismus 1. seit langem ein marginales Phänomen in der britischen Gesellschaft ist, von dem weniger als 10 Prozent der Bevölkerung befallen sind, 2. weit weniger ausgeprägt ist als die Feindseligkeit gegenüber anderen britischen Minderheiten und 3. im Vereinigten Königreich weniger ausgeprägt ist als fast überall sonst in Europa. Man könnte annehmen, dass damit die Dinge geklärt seien.

Aber 2017 veröffentlichte das British Institute for Jewish Policy Research (JPR) eine Studie, die angeblich die gängige Meinung differenzierter untersuchte, indem sie die „Wandlungsfähigkeit“ des Antisemitismus untersucht: das heißt, nicht nur den Prozentsatz der eingefleischten Antisemiten, sondern auch die Verbreitung von Stereotypen, die Juden stigmatisieren.[1] Das Ergebnis war, dass, während nur 2 – 5 Prozent der britischen Bevölkerung als Antisemiten bezeichnet werden können, ganze 30 Prozent mindestens ein antisemitisches Vorurteil hegen.

Bevor man die Daten der Studie analysiert, sollte man sich einige Binsenweisheiten in Erinnerung rufen. Erstens ist eine Verallgemeinerung etwas, das „allgemein“ als wahr gilt; sie lässt offensichtlich Ausnahmen zu. Obwohl Engels, der Fabrikbesitzer, seinen mittellosen Kameraden großzügig unterstützte, hinderte dies Marx nicht daran, sich über kapitalistische „Blutsauger“ zu verbreiten. Ohne den heuristischen Wert weitgehender Generalisierungen müsste die Disziplin der Soziologie ihren Laden dicht machen. Ihr Auftrag ist es, das Verhalten der zahlreichen die Gesellschaft durchwirkenden Gruppen und Untergruppen im Großen und Ganzen abzubilden und vorherzusagen. Zweitens unterliegt jede nationale/ ethnische Gruppe Verallgemeinerungen: „Die Franzosen sind…“, „Die Italiener sind….“, „Die Deutschen sind….“. . .  Diese Verallgemeinerungen reichen von mehr oder weniger schmeichelhaften bis hin zu geradezu bösartigen, von mehr oder weniger gültigen bis hin zu völlig falschen. Es sollte auch klar sein, dass, wenn die meisten positiven Verallgemeinerungen keinen Widerspruch hervorrufen, dann sollten die meisten negativen es auch nicht.  Die Tatsache, dass Vorurteile über Juden die gesamte Bandbreite umfassen, ist kaum Grund zur Beunruhigung; es wäre überraschend, wenn es nicht so wäre.

Tatsächlich schlägt das JPR keinen Alarm. Während einige Antisemitismus-Kolporteure seine Ergebnisse übernahmen, versuchten die Forscher selbst, eine andere Frage zu beantworten:

„Warum scheinen die innerhalb der jüdischen Bevölkerung Großbritanniens registrierten Ängste bezüglich der Ausbreitung des zeitgenössischen Antisemitismus nicht übereinzustimmen mit dem geringen Ausmaß antisemitischer Ansichten in der britischen Allgemeinbevölkerung?“[2] Die Studie stellt fest, dass, wenn britische Juden große Ängste äußern, selbst wenn es immer weniger Antisemiten gibt, sie aus der weiten Verbreitung antisemitischer Stereotype in der britischen Gesellschaft resultieren: „Diese Verbreitung macht die gegenwärtigen jüdischen Sorgen um den Antisemitismus bis zu einem gewissen Grade verständlich“[3] Aber ist das nicht eine übereilte Schlussfolgerung? Wenn Bewohner von Salem, Massachusetts, große Angst vor Hexen hatten, wenn Amerikaner große Angst vor Kommunisten hatten, wenn weiße Südstaatler große Angst vor schwarzen Vergewaltigern hatten, wenn Deutsche große Angst vor einer „jüdisch-bolschewistischen“ Verschwörung hatten, und auch wenn Christen große Angst vor jüdisch-rituellen Kindermördern hatten – wenn also eine Angst weit verbreitet ist, dann folgt daraus nicht notwendigerweise, ja, ist es nicht einmal wahrscheinlich, dass es eine rationale Angst ist. Sie könnte ebenso plausibel durch mächtige soziale Kräfte hervorgerufen worden sein, die von einer gezielt konstruierten Paranoia profitieren. Oder, wie im vorliegenden Fall, könnte sie aus einer jüdischen Überempfindlichkeit – angesichts der historischen Erfahrung nur allzu verständlich – zu einem Phantom-Antisemitismus führen (siehe Woody Allens Annie Hall).

Die JPR-Studie listet sieben Stereotype auf. Wenn sie als antisemitisch bestimmt werden, so die Forscher, liege das daran, dass Juden sie verletzend finden: „Von einigen Vorstellungen weiß man, dass sie bei Juden als antisemitisch empfunden werden, und diese Studie nimmt  eine jüdische Perspektive ein als Ausgangspunkt hinsichtlich dessen, was Antisemitismus ausmacht.“[4] Aber eine Verallgemeinerung kann nun mal verletzend wie auch wahr sein, da sie in Wahrheit oft einer bitteren Pille gleichkommt. Wenn die verletzende Verallgemeinerung wahr ist, dann kann sie – insofern als der Begriff antisemitisch ein irrationales Ansinnen signalisiert – nicht antisemitisch sein. Vor etwa 20 Jahren schrieb Daniel Jonah Goldhagen ein Buch, in dem er behauptete, dass der Nazi-Holocaust seinen Ursprung in einer tief verwurzelten deutschen Veranlagung zur Ermordung von Juden habe. Wäre das wahr, ließe seine These sich nicht als „antiteutonisch“ bezeichnen: „Es gibt keinen offensichtlichen Grund für die Ablehnung von Goldhagens These“, bemerkte der Schreiber dieser Zeilen damals. „Sie ist in sich weder rassistisch noch sonstwie illegitim. Es gibt keinen augenscheinlichen Grund, warum eine Kultur nicht von einem fanatischen Hass erfüllt sein könnte“[5] Auch wenn Deutsche bei dieser ihrer Charakterisierung unangenehm berührt sein mögen, sie in der Tat als extrem beleidigend empfinden, wenn die Fakten sie bestätigen, dann kann man nicht sagen, dass sie in irrationaler Böswilligkeit wurzelt. Allerdings untermauerten die von Goldhagen vorgelegten Beweise seine These nicht, aber das ist eine andere Angelegenheit.

Betrachten wir nun einige der in der JPR-Studie versammelten Vorurteile, um die Verbreitung des britischen Antisemitismus einzuschätzen:

Juden denken, dass sie besser sind als andere Menschen. 

Zwischen ihrem weltlichen Erfolg auf der einen Seite und ihrem religiösen Auserwähltsein auf der anderen Seite glauben die Juden selbst in der Tat an die Überlegenheit ihrer Gruppe. Ist das nicht der Grund, warum sie stolz sind auf den jüdischen Stammbaum der wegweisenden Gestalten der Moderne – Marx, Einstein und Freud – sowie von 20 Prozent der Nobelpreisträger? Was ein jüdisches Kind erbt, ist „kein Gesetzeskanon, kein Wissensschatz, keine Sprache und letzten Endes auch kein Gott“, stellte der bedeutende jüdische Schriftsteller Philip Roth einmal fest, „sondern eine Art Psychologie, und diese Psychologie lässt sich in drei Worte übersetzen: „Juden sind besser“. Ein prominenter jüdisch-amerikanischer Gelehrter tat schamlos kund: „Juden wären keine Menschen, wenn sie sich jeder Vorstellung von Überlegenheit ganz und gar enthalten hätten“, und: „Es ist für amerikanische Juden außerordentlich schwierig, vom Gefühl der Überlegenheit ganz abzusehen, so sehr sie auch versuchen mögen, es zu unterdrücken“[6] Unter der Überschrift „Sind Juden klüger?“ verbreitete sich ein populäres amerikanisches Magazin über den entsprechenden genetischen Nachweis.[7]

Damit dies nicht als befremdlicher amerikanisch-jüdischer Dünkel eingeordnet wird, spekuliert der prominente anglo-jüdische Autor Howard Jacobson, dass der Antisemitismus im Kern das Ressentiment der Nicht-Juden gegenüber der jüdischer Intelligenz sei: „Freud argumentiert, dass die Juden…. ihre mentale und intellektuelle Seite überentwickelt hätten…. . . Wir alle haben unsere je eigenen Überheblichkeiten, und das hier ist der jüdische Dünkel. Aber die Vorstellung vom Juden als geistig überentwickelt ist einer der Gründe, warum die Menschheit sich in einer ständigen Auseinandersetzung mit uns befindet. Wir gaben der Welt Ethik, Moral, das geistige Leben, was sie uns nie verzeihen wird“[8] Wenn es Antisemitismus ist zu glauben, dass „Juden denken, sie seien besser als andere Menschen“, dann scheinen die meisten Juden in der Tat von diesem Virus befallen zu sein.

Juden instrumentalisieren die Holocaust-Opferrolle für ihre eigenen Zwecke.

Der redselige israelische Außenminister Abba Eban soll einmal gescherzt haben: „Es gibt kein Business wie das Shoah-Business.“ Aber als der Schreiber dieser Zeilen im Jahr 2000 ein kleines Buch veröffentlichte mit dem Titel: Die Holocaust-Industrie: Wie das Leid der Juden ausgebeutet wird,[9] rief es eine Flut von Ad Hominem-Angriffen aus. „Es ist vielleicht zu einfach, einen Kritiker wie Finkelstein als selbsthassenden Juden abzuschreiben“, meinte Jonathan Freedland im Guardian, aber das hielt ihn nicht davon ab, genau diesen schäbigen Pfad zu beschreiten: „Finkelstein nimmt den Antisemiten die Arbeit ab“, er sei in der Tat „näher bei den Menschen, die den Holocaust verursachten, als bei denen, die unter ihm litten“[10] Es ist nicht verwunderlich, dass Freedland jetzt zu denen gehört, die  Corbyn wegen seines angeblichen Antisemitismus anklagen. Wie dem auch sei, seit der feindlichen Rezeption des Buches sind fast zwei Jahrzehnte vergangen, und inzwischen sorgt seine These nicht einmal mehr für ein Stirnrunzeln, da sie zum Klischee geronnen ist.

Sei es, um einen weiteren Aggressionskrieg oder ein weiteres Massaker an Zivilisten zu rechtfertigen, sei es, um einen weiteren Schrottfilm über den Holocaust oder noch einen Schundroman über den Holocaust zu vermarkten, Juden haben nicht gezögert – ganz im Gegenteil – sich in den sakrosankten Mantel des jüdischen Märtyrertums zu hüllen. Ein Buch des ehemaligen Präsidenten des israelischen Parlaments, Avraham Burg, in dem die Fixierung Israels auf den Holocaust angeprangert wird, verweist beiläufig auf „die Shoah-Industrie“.  Sie „verwandelt bohrenden Schmerz in Hohlheit und Kitsch“ – stellt Burg fest – und sie relativiert die israelischen Verbrechen: „Amerikanische Juden wie Israelis hissen die Shoah-Fahne hoch in den Himmel und nutzen sie politisch aus…… Alles wird mit der Shoah verglichen, von der Shoah in den Schatten gestellt, und deshalb ist alles erlaubt – seien es Zäune, Belagerungen…. Nahrungsmittel- und Wasserentzug. . . .  Alles ist erlaubt, weil wir die Shoah durchgemacht haben,  und es ist nicht an euch, uns zu sagen, wie wir uns verhalten sollen“[11] Ist Burg etwa des Antisemitismus schuldig?

Juden haben in Großbritannien zu viel Macht.

Die drei reichsten Briten sind Juden.[12] Juden machen nur 0,5 Prozent der Bevölkerung aus, aber ganze 20 Prozent der 100 reichsten Briten.[13] Bezogen sowohl auf die allgemeine Bevölkerung als auch auf andere ethno-religiöse Gruppen sind britische Juden insgesamt überproportional wohlhabend, gebildet und beruflich erfolgreich.[14] Diese Daten entsprechen ziemlich genau dem Bild andernorts. Juden machen nur 2 Prozent der US-Bevölkerung aus, aber 30 Prozent der 100 reichsten Amerikaner, und unter den religiösen Gruppen genießen Juden das höchste Haushaltseinkommen.(15) Juden machen weniger als 0,2 Prozent der Weltbevölkerung aus, aber unter den 200 reichsten Menschen der Welt sind 20 Prozent jüdisch.[16] Juden sind unvergleichlich gut organisiert, da sie eine Vielzahl von ineinandergreifenden, sich überschneidenden und sich gegenseitig verstärkenden kommunalen und Verteidigungsorganisationen geschaffen haben, die sowohl im nationalen als auch im internationalen Bereich tätig sind. In vielen Ländern, nicht zuletzt in den USA und Großbritannien, nehmen Juden strategische Positionen in der Unterhaltungsindustrie, der Kunst, im Verlagswesen, in den Medien, im akademischen Bereich, in Justiz und  Regierung ein. „Juden werden in Großbritannien in einer Zahl repräsentiert, die ein Vielfaches ihres Bevölkerungsanteils ausmacht“, stellt der britisch-israelische Journalist Anshel Pfeffer fest, „in beiden Häusern des Parlaments, auf der Sunday Times Reichen-Liste, in den Medien, den Wissenschaften, an Universitäten und in fast jedem Bereich des öffentlichen Lebens“[17] Es wäre geradezu ein Wunder, wenn diese Ausgangsdaten nicht übergroßer politischer Macht der Juden entsprechen würden. Das in Israel ansässige Jewish People Policy Planning Institute frohlockt, dass „das jüdische Volk sich heute auf einem historischen Zenit der Vermögensbildung befindet“ und „noch nie so mächtig war wie heute“[18] Es ist ganz gewiss legitim, die Reichweite dieser politischen Macht zu hinterfragen und ob sie überdehnt wurde,[19], aber es kann nicht richtig sein, wesentliche sozioökonomische Fakten zu leugnen (oder zu unterdrücken).

Wenn praktisch alle Mitglieder des US-Kongresses wie defekte Schachtelteufel aufspringen und einem israelischen Staatschef, der unter dreister und abstoßender Missachtung des amtierenden US-Präsidenten ins Kapitol gestürmt ist, eine stehende Ovation nach der anderen bereiten, dann ist es doch nicht unangemessen zu fragen: Was zum Teufel ist hier los?[20] Ohne die übergroße Macht der britischen Juden ist es schwer vorstellbar, dass die britische Gesellschaft unablässig einem Schreckgespenst nachjagen würde. Es ist wahr, dass sich – obwohl der Schlachtruf „Kampf dem Antisemitismus“ lautet – um diese vermeintliche Ursache herum eine Vielzahl von mächtigen, etablierten sozialen Kräften zusammengetan hat, die gemäß ihren nicht gerade geheimen Absichten agieren. Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass jüdische Organisationen die vergiftete Spitze dieses Speers bilden.

Man könnte immer noch fragen: aber ist das nicht „zu viel“ Macht? Betrachten wir folgende Fakten. Jeremy Corbyn ist der demokratisch gewählte Vorsitzende der Labour Party. Sein Einfluss nahm enorm zu und rüttelte die Reihen der Partei auf. Corbyn hat sein Leben ganz dem Kampf gegen den Rassismus verschrieben; man findet ihn – ähnlich wie den sprichwörtlichen  Gewerkschaftsführer Joe Hill –  dort, wo Arbeiter streiken und sich organisieren. Nach britischen und sogar globalen Führungsstandards gibt er eine geradezu sakrosankte Figur ab.

Auf der anderen Seite haben zumeist ungewählte jüdische Persönlichkeiten[21] Corbyns Namen in den Dreck gezogen, ihn verleumdet und diffamiert. Sie haben sich geweigert,  Corbyn zu treffen, obwohl er ihnen wiederholt Olivenzweige entgegengestreckt und substantielle Kompromisse angeboten hat[22] Stattdessen stellen sie „Friss, Vogel, oder stirb“- Ultimaten. Es passt, dass Juden die Labour Party größtenteils nicht unterstützen, selbst wenn sich an der Spitze der Parteiliste ein Jude befindet (Ed Miliband 2015). Dennoch finden es diese frömmelnd-aufgeblasenen kommunalen Führer nicht ungebührlich oder gar verfehlt, aus der Ferne und von oben herab die parteiinterne Politik von Labour zu diktieren. Die verstorbene Mutter des Autors dieser Zeilen meinte: „Es ist kein Zufall, dass Juden das Wort Chuzpe erfunden haben.“

Das durchsichtige Motiv hinter dieser zynischen Kampagne ist die Dämonisierung Corbyns, nicht weil er ein „verdammter Antisemit“ ist, sondern weil er ein prinzipientreuer Verfechter der palästinensischen Rechte ist. Allerdings geht es bei Corbyns Kandidatur nicht nur um Palästina oder gar die britische Arbeiterklasse. Er ist ein Hoffnungsstrahl für Obdachlose, Hungrige und Hoffnungslose, Verachtete, Unterdrückte und Mittellose überall. Wenn Corbyns Verleumder erfolgreich sind, wird der Schimmer der Möglichkeit, den er verkörpert, von einer Bande moralischer Erpresser ausgelöscht sein.

Ist es also Antisemitismus zu glauben, dass „Juden in Großbritannien zu viel Macht haben“ – oder ist es nicht schlicht gesunder Menschenverstand? (Es ist sicher eine Frage für sich und keine, die sich leicht lösen lässt, wie man diese Machtverzerrung beheben kann, ohne die demokratischen Rechte von irgendjemandem zu beeinträchtigen.) Ist es dennoch nicht antisemitisch zu verallgemeinern, dass „Juden“ ihre Macht missbraucht haben? Aber selbst wenn man konzediert, dass ein Teil von ihnen manipuliert oder betrogen wurde, scheint es tatsächlich, als würden britische Juden im Allgemeinen die anti-Corbyn‘sche Dampfwalze unterstützen. Wenn dies tatsächlich eine irrige Ansicht ist, wessen Schuld ist es dann? Die unausgesprochene Botschaft des beispiellosen gemeinsamen Leitartikels auf der Titelseite der großen jüdischen Zeitschriften war: Britische Juden sind sich einig – Corbyn muss gehen! Ist es antisemitisch, diese jüdischen Organisationen beim Wort zu nehmen?

Das Fazit ist, dass die JPR-Studie die „Wandlungsfähigkeit“ des Antisemitismus in der britischen Gesellschaft eben nicht belegt. Ein paar der verhetzenden Aussagen, die sie testet, deuten wohl auf Antisemitismus hin – „Der Holocaust ist ein Mythos“, „Der Holocaust wurde übertrieben“ – aber nur ein kleiner Teil der Briten (2 bzw. 4 Prozent) unterschreibt sie. Natürlich gibt es Antisemitismus in der britischen Gesellschaft, aber die JPR hat die Beweise über den Knackpunkt hinaus ausgedehnt. Es gibt keinen Grund, an den herkömmlichen Umfragedaten zu zweifeln, die seine Häufigkeit auf unter 10 Prozent der britischen Gesellschaft beziffern.

Selbst wenn die JPR-Studie der Prüfung standhielte, würde sie immer noch nicht beweisen, dass der Antisemitismus die britischen Juden bedroht. Inmitten des ekelhaften, ununterbrochenen Spektakels der solipsistischen, narzisstischen, selbstbemitleidenden Nabelschau wäre eine Realitätskontrolle angebracht. Würden populäre Vorurteile entlang eines Spektrums von gut- bis bösartig dargestellt, wären die meisten antisemitischen Stereotype in der Nähe des gutartigen Endes zu positionieren, während sich jene von wirklich unterdrückten Minderheiten am anderen Ende ansammeln würden.

Ja, Juden müssen den Ruf ertragen, geizig, aufdringlich und ethnozentriert zu sein – aber Muslime werden als Terroristen und Frauenfeinde dargestellt, Schwarze werden als chronisch faul und genetisch dumm verachtet, und Roma/Sinti werden als schmutzige Bettler und Diebe gehasst. Auch erleiden die Juden nicht die Benachteiligungen, die mit einer tatsächlichen Opferrolle einhergehen. Wie vielen Juden qua Juden wurde ein Job oder eine Wohnung verweigert? Wie viele Juden wurden von der Polizei erschossen oder widerrechtlich ins Gefängnis geworfen? Während Schwarzer oder Muslim zu sein, die Türen schließt, öffnet Jüdischsein sie. Wenn Weiße, die Machtzentren besetzen, zugunsten anderer Weißer diskriminieren und Männer, die Machtzentren besetzen, zugunsten anderer Männer diskriminieren, wäre es überraschend, wenn überwiegend erfolgreiche Juden nicht zugunsten anderer Juden diskriminieren würden. Es ist nicht nur keine soziale Bürde mehr, jüdisch zu sein, sondern es bringt sogar gesellschaftliches Prestige mit sich.

Während es einst für einen Juden ein Schritt nach oben war,  in eine herrschende Elitenfamilie einzuheiraten, scheint es heute für die herrschende Elite ein Schritt nach oben zu sein, in eine jüdische Familie einzuheiraten. Ist es nicht bezeichnend, dass sowohl Präsident Bill Clintons Stolz und Freude, Chelsea, als auch Präsident Donald Trumps Stolz und Freude, Ivanka, Juden geheiratet haben?

Die sich selbst beweihräuchernde Autorität Barnaby Raine dreht ihre Runden im britischen Talk-Show-Kreis und sinniert, dass „es ein sehr, sehr ernstes Problem mit dem Antisemitismus in der britischen Gesellschaft gibt“.  (Abgesehen davon, dass er ein „stolzer britischer Jude“ ist und einst als „kike“ [Schimpfwort für Jude] bezeichnet wurde, fällt es schwer, die Basis für seine selbstgewissen Äußerungen auszumachen.)

Bertrand Russell schrieb einmal über Trotzki: „Er sieht sehr gut aus mit seinem bewundernswert gewellten Haar; man merkt, dass er für Frauen unwiderstehlich ist.“ Ähnliches kann man mehr oder weniger von Barnaby dem Bolschewiki sagen – oder zumindest von dem Ideal, nach dem er strebt. Die Frage ist letztlich: Würde er es vorziehen, hässlich und kahl zu sein oder heute in Großbritannien jüdisch zu sein? Dies ist keine triviale oder augenzwinkernde Frage. Tatsache ist, dass diese physischen Stigmata sowohl persönlich als auch beruflich tausend Mal schwerer wiegen als das Kreuz zu tragen, als Jude geboren zu sein. Wenn das nicht existierende Antisemitismusproblem den Rang eines „sehr, sehr ernsten Problems“ im Vereinigten Königreich einnimmt, dann dürfen sich die Briten überaus  glücklich schätzen. Tatsächlich würde sich die Corbyn-Kandidatur erübrigen, da das Gelobte Land ja bereits erreicht ist.

„Diejenigen, die sich nicht an die Vergangenheit erinnern können“, so die berühmte Warnung George Santayanas, „sind dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ Sollten Juden angesichts der Katastrophe, die sie während des Zweiten Weltkriegs heimgesucht hat, nicht das Schlimmste annehmen und sich darauf vorbereiten, und kann man sie wirklich wegen ihrer diesbezüglichen Hypersensibilität verurteilen? Selbst wenn die Anzeichen dafür momentan schwach sind, lässt sich nicht leugnen, dass es hier geschehen könnte. Wenn die Verfügbarkeit von Mitteln, Zeit und Energie unendlich wäre, könnte ein solches Argument überzeugen. Aber das sind sie nicht. „Ökonomie der Zeit“, bemerkte Marx in den Grundrissen, „darauf reduziert sich letztlich die gesamte Ökonomie.“ Was auch immer an Zeitaufwand in dieser Hinsicht betrieben wird, bedeutet weniger Zeitaufwand in anderer Hinsicht.

Kann man ernsthaft behaupten, dass angesichts der vielfältigen nationalen und globalen Krisen, die die britische Gesellschaft heimsuchen – von Obdachlosigkeit, Gesundheitsversorgung und Arbeitslosigkeit bis hin zu Brexit, Atomwaffenproliferation und Klimawandel –, der Antisemitismus auf der Liste der dringlichen Angelegenheiten, die sofortige Aufmerksamkeit erfordern, weit oben steht, dass die begrenzten Ressourcen, über die Großbritannien verfügt, um hier und jetzt anstehende Fragen von Leben und Tod anzugehen, stattdessen in die Bekämpfung nebulöser apokalyptischer Zukunftsszenarien umgeleitet werden sollten?

Aber die Wahrheit ist, dass die jüdischen Eliten keinen Augenblick lang glauben, dass Antisemitismus ein brennendes Thema ist. Wenn sie wirklich befürchteten, dass er eine klare und gegenwärtige Gefahr jetzt oder in absehbarer Zeit darstellt, würden sie nicht hinausposaunen, dass Corbyn ein „verdammter Antisemit“ sei. Denn wenn es im Vereinigten Königreich von heimlichen Antisemiten nur so wimmelte, dann würde die Verbreitung dieser Beschuldigung Corbyn logischerweise kostenlose Werbung verschaffen, da sie in den Ohren potenzieller Wähler angenehm widerhallen würde. Weit davon entfernt, ihm zu schaden, könnte ihre Verbreitung Corbyns Sieg gar erleichtern und den Weg bereiten für einen zweiten Holocaust.

Jüdische Organisationen wissen ganz im Gegenteil sehr genau, dass die Verunglimpfung Corbyns als Antisemit seine Attraktivität drastisch verringern würde, da Antisemitismus nur bei mancherlei Ewiggestrigen, Ignoranten und Minderbemittelten ankommt. Mit anderen Worten, der unwiderlegbare Beweis dafür, dass Corbyns Verfolger kein Wort von dem glauben, was sie sagen, ist, dass sie hoffen und erwarten, ihn zu isolieren, indem sie ihn als Antisemiten verunglimpfen.

Da die Beschuldigung jedoch offenkundig eine Irreführung ist, könnte es auch sein, dass die gegenwärtige Hysterie an den meisten Menschen völlig vorbeigeht, nicht weil ihnen der Antisemitismus gleichgültig wäre, sondern weil er für sie kaum ein Thema ist. Wenn die Kontroverse Wirkung zeitigen sollte, wird sie sich darauf beschränken, die Spaltungen in der Labour-Führung zu verschärfen und vielleicht auch die allgemeine Wahrnehmung zu verstärken, dass die von den Mainstream-Medien veröffentlichten Geschichten ‚fake-news‘, gefälschte Nachrichten, sind.

Fußnoten:

[1] L. Daniel Staetsky, Antisemitism in Contemporary Great Britain: A Study of Attitudes towards Jews and Israel (Institute for Jewish Policy Research: 2017).

[2] Ibid., p. 11.

[3] Ibid., p. 25.

[4] Ibid., p. 21.

[5] Norman G. Finkelstein and Ruth Bettina Birn, A Nation on Trial: The Goldhagen Thesis and Historical Truth (New York: 1998), pp. 6-7.

[6] Charles Silberman, A Certain People: American Jews and Their Lives Today (New York: 1985), pp. 78, 80, 81 (quoting Roth).

[7] New York magazine (24 October 2005).

[8] Liam Hoare, “Short-Listed for the Booker, Jacobson’s New Book is Judenrein,” Times of Israel (21 September 2014).

[9] Norman G. Finkelstein, The Holocaust Industry: Reflections on the Exploitation of Jewish Suffering (New York and London: 2000).

[10] Jonathan Freedland, “An Enemy of the People,” Guardian (13 July 2000).

[11] Avraham Burg, The Holocaust is Over; We Must Rise from Its Ashes (New York: 2008), pp. 5, 17, 41, 78.

[12] “Jewish Brothers Top Britain’s 2016 Rich List,” Times of Israel (24 April 2016).

[13] Sandy Rashty, “Wealthiest Jews in Britain Were Born Abroad, Super-Rich List Reveals,” Jewish Chronicle (15 May 2014).

[14] David Graham et al., “Jews in Britain: A Snapshot from the 2001 Census,” JPR (2007), pp. 5-7, 75, 100. Cf. Simonetta Longhi and Lucinda Platt, “Pay Gaps across Equalities Areas: An Analysis of Pay Gaps and Pay Penalties by Sex, Ethnicity, Religion, Disability, Sexual Orientation and Age Using the Labour Force Survey,” ECHR Research Report 9 (Winter 2008); National Equality Panel, An Anatomy of Economic Inequality in the UK: Report of the National Equality Panel (2010), pp. 102, 132, 149, 227-29, 390; Karen Rowlingson, “Wealth Inequality: Key Facts,” University of Birmingham Policy Commission on the Distribution of Wealth (2012), p. 19.

[15] Hamilton Nolan, “The Forbes 400: A Demographic Breakdown,” Gawker (23 September 2010); David Masci, “How Income Varies among US Religious Groups,” Pew Research Center (2016).

[16] “Jews Make Up 19% of Forbes 200 World’s Richest List,” Jewish Business News (7 March 2018).

[17] Anshel Pfeffer, “UK Anti-Semitism Report Highlights Disturbing Trend—among British Jews,” Haaretz (14 January 2015).

[18] Jewish People Policy Planning Institute, 2030: Alternative Futures for the Jewish People (Jerusalem: 2010), pp. 18, 19.

[19] Norman G. Finkelstein, Knowing Too Much: Why the American Jewish Romance with Israel is Coming to an End (New York: 2012), pp. 45-84.

[20] “Benjamin Netanyahu’s Speech to Congress Interrupted by Standing Ovations,” Telegraph (3 March 2015; https://www.youtube.com/watch?v=0KMVhb57RqI).

[21] David Rosenberg, “A Plea to Jeremy Corbyn from a Jewish Socialist Who Shares the Same Desire for Social Justice,” Public Reading Rooms (August 2018; https://prruk.org/a-plea-to-jeremy-corbyn-from-a-jewish-socialist-who-shares-the-same-desire-for-social-justice-and-human-rights/).

[22] Len McCluskey, “Corbyn Has Answered Concerns on Anti-Semitism, But Jewish Community Leaders Are Refusing to Take ‘Yes’ For An Answer,” HuffPost (16 August 2018).

Der Autor ist Noam Chomsky, Maren Hackmann-Mahajan, Deborah Maccoby, Colin Robinson und Jamie Stern-Weiner für Hinweise und kritische Beiträge dankbar.

Norman G. Finkelstein promovierte 1988 am Politischen Institut der Princeton University. Er ist Autor von zehn Büchern, die in 50 ausländische Ausgaben übersetzt wurden, darunter THE HOLOCAUST INDUSTRY: Überlegungen zur Ausbeutung des jüdischen Leidens und zuletzt GAZA: Eine Untersuchung des Martyriums. http://normanfinkelstein.com/

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Übersetzung aus dem Amerikanischen: Jürgen Jung.

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