von Arn Strohmeyer
So manchem Zeitgenossen, der seit über 70 Jahren in Mitteleuropa unbehelligt im Frieden lebt, fehlt inzwischen schlicht das Vorstellungsvermögen, was Menschen – insbesondere Juden – im 20. Jahrhundert mit zwei Weltkriegen und dem Holocaust erlebt und durchlitten haben. Um sich das immer wieder bewusst zu machen, hat die Erinnerung eine so wichtige Funktion, damit so etwas wie Auschwitz (als Synonym für Barbarei schlechthin) sich nicht wiederhole, wie Theodor W. Adorno es formuliert hat. Einen wichtigen Beitrag zu dieser Erinnerungsliteratur hat jetzt der Westend-Verlag mit der Herausgabe der Lebenserinnerungen des deutsch-jüdischen Verlegers Joseph Melzer (1907 – 1984) erbracht.
Wenn der Autor schreibt, er habe neun Leben gelebt (das ist auch der Titel des Buches, mit dem Untertitel Ein jüdisches Leben im 20. Jahrhundert), dann glaubt man ihm das aufs Wort. Im ost-galizischen Schtetl Kuty in eine liberal-jüdische Familie hineingeboren, erlebt er hier noch trotz aller Entbehrungen und Armut eine fast „heile“ jüdische Welt, in der es auch kaum Feindschaft gegen Juden gab. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen zwingen die Familie zum Umzug nach Berlin. Dort erlebt er als junger Mann die „goldenen zwanziger Jahre“, knüpft Kontakte zu jüdischen Intellektuellen und gibt die Zeitschrift Die freie jüdische Monatsschau heraus, die aber nach einem Jahr ihr Erscheinen einstellen musste. Melzer wird Zeuge des Aufstiegs der Nazis in Berlin.
Immer noch auf der Suche nach einer Berufsperspektive (er hatte die Schulbildung vorzeitig abbrechen müssen, war Autodidakt und ein Selfmademan), bewirbt er sich um Verkaufs-Vertretungen für deutsche Bücher in Palästina. Dort lebte er zunächst in einem Kibbuz, eröffnete dann in Tel Aviv einen Buchladen und später mit dem bekannten Autor Ben Chorin in Jerusalem ein Buchantiquariat. Da die Geschäfte aber nicht gut liefen, stieg er aus dem Laden aus und ging – nicht zuletzt auch, weil seine Zweifel am Zionismus wuchsen – zurück nach Berlin. Er erlebt dort 1936 die Olympiade. Da er aber nur ein begrenztes Visum hatte, muss er Deutschland wieder verlassen und reiste über London nach Paris. Hier gelang es ihm durch einen Zufall, an wertvolle alte Bücher zu kommen, und er eröffnete in Paris ein Antiquariat.
Aber auch dies sollte nur ein kurzer Aufenthalt sein. Melzer, der immer noch polnischer Staatsbürger war (Galizien war nach dem Ersten Weltkrieg polnisch geworden), musste nach Warschau reisen, um seinen Pass verlängern zu lassen. Er kommt dort genau zu dem Zeitpunkt 1939 an, als die Hitler-Armee Polen überfiel. Er flieht vor den Deutschen in die Sowjetunion, kommt dort aber nicht in die Freiheit, wie er gehofft hatte, sondern wird als „deutscher Spion“ verhaftet und zur Zwangsarbeit in den sibirischen Gulag geschickt. Nach Monaten schwerster körperlicher Arbeit als Holzfäller in den Wäldern Sibiriens kommt er wieder frei, weil Churchill die polnische Exil-Armee mit Waffen ausrüstete und Stalin deshalb eine Amnestie für polnische Bürger erließ. Melzer konnte sich nach Sarmakand in Usbekistan durchschlagen, wo er sich mühsam mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hält. Er heiratet und sein Sohn Abraham kommt dort zur Welt.
Nach Kriegsende konnte er mit seiner Familie zurück nach Deutschland gelangen, er unterbrach die Fahrt aber, um sich in Polen das NS-Vernichtungslager Majdanek anzusehen, was ihm die Schrecken des Holocaust vor Augen führte. Er musste dann mit seiner Familie noch einige Zeit im DP-Lager Admont in der Steiermark verbringen, bis sie nach Israel ausreisen konnten.
In Haifa steigt er wieder in den Buchhandel ein, macht sich wieder mit einem Laden selbstständig. Er arbeitet bis zur Erschöpfung, wird krank, hat Probleme mit dem Klima, dazu kommt, dass seine Zweifel am Zionismus ständig wachsen. Er beschließt, gegen den Willen seiner Frau, die nicht im Land der Täter leben will, zurück nach Deutschland zu gehen. Er schreibt: „Ich habe geglaubt, dass ich mit Deutschland für immer gebrochen habe. Aber ich habe mich wohl getäuscht oder es mir nur eingebildet. Im Inneren meines Herzens sehne ich mich nach Deutschland zurück, nach der deutschen Sprache, nach der deutschen Kultur, von der ich annahm, dass sie nicht vollständig von den Nazis zerstört worden ist, nach der deutschen Landschaft, die ich in meiner Jugend lieben gelernt habe, nach dem deutschen Wetter und dem deutschen Unwetter. Die brennende Sonne in Israel macht mich krank.“
Die Familie lässt sich in Köln nieder. Melzer bekommt eine kleine Summe „Wiedergutmachungsgeld“ für seine verlorene Existenz in Paris, gründet den Joseph-Melzer-Verlag und gibt bedeutende Judaika (etwa die Werke von Ludwig Börne) heraus. Immer am Rand des Konkurses kämpft er sich mit seinem Verlag durch. Dann nimmt er einen jungen Mann in das Unternehmen auf, der dem Verlag mit einem erweiterten Programm neuen Schwung gibt: Jörg Schröder. Die Herausgabe des erotischen Romans Geschichte der O. wird ein Riesenerfolg und bringt viel Geld ein.
Schröder trennt sich dann von Melzer und gründet den März-Verlag – ein „Komplott, das Schröder hinter meinem Rücken geschmiedet“ hat, wie er schreibt. Der Sohn Abraham übernimmt den Melzer-Verlag. Mit der Herausgabe von Comic-Büchern (Prinz Eisenherz) und linken Büchern – es ist die 68er Zeit – versucht dieser den Verlag zu retten. Vergeblich, 1971 muss er Konkurs anmelden. Aber die Melzers bleiben im Buchgeschäft. Abraham (genannt „Abi“) arbeitet erfolgreich für andere Verlage und gründet einen neuen Verlag. Der Vater betreibt ein gut gehendes Antiquariat, das er später verkaufen kann, um sich zur Ruhe zu setzen.
Ein sehr bewegtes Verleger-Leben also, das allein durch seine Schicksalhaftigkeit und wechselvolle Buntheit ein Stück deutsch-jüdischer Kulturgeschichte darstellt. Melzer hat bedeutende Bücher aus diesem Themenbereich herausgebracht und so gut wie alle bedeutenden jüdischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts persönlich gekannt. Das allein macht diese Erinnerungen schon überaus spannend und reizvoll.
Was sie als Zeitdokument auch politisch so wertvoll machen, ist der innere Entwicklungsprozess Joseph Melzers. Einem humanen Judentum in seiner Identität zutiefst verpflichtet und anfänglich auch – aus der Not heraus – für den Zionismus aufgeschlossen, weil er für die Juden keine andere Ausweichmöglichkeit als Palästina sah, geht er im Laufe der Jahre und mit der Erfahrung von zwei längeren Aufenthalten in Israel immer mehr auf Distanz zur Politik dieses Staates und zu seiner Ideologie. So lebt Melzer in einem ständigen Spannungsverhältnis: Vom Staat Israel, den er eigentlich liebt, entfernt er sich innerlich zunehmend, weil er einmal die Widersprüche dieses angeblich „sozialistischen Staates“ erkannte und verabscheute; zum anderen sah er täglich die Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen, die die Zionisten den einheimischen Arabern antaten. Außerdem musste er mit dem Zwiespalt leben, den er gegenüber Deutschland spürte, das er auf der einen Seite auch liebte und als seine eigentliche Heimat betrachtete, dem er aber andererseits als dem Land der Täter mit Misstrauen begegnen musste.
Seine Urteile über den „jüdischen Staat“ werden immer unerbittlicher: „Der Kampf der Juden um den Staat Israel nahm also unmerklich die Form einer imperialistischen Politik an. Am Ende, es bedurfte dazu noch knapp zehn Jahre der Entwicklung, ist es dazu auch gekommen, genau wie [der Palästinenser] Ragib al Naschaschibi es [ihm] vorhergesagt hatte. Den Juden gelang es, die ursprüngliche palästinensische Bevölkerung zu vertreiben und einen eigenen – jüdischen Staat – zu errichten. Damit glichen nun die Juden allen anderen imperialistischen und kolonialistischen Völkern, die in die Welt auszogen, um Land und Bodenschätze zu gewinnen. Aber nicht nur politisch glichen sich die Juden in Israel den übrigen ‚Kulturvölkern‘ an. Das Volk des Buches verwandelte sich zeitgemäß in ein Volk der Technokraten und Soldaten und reproduzierte all die Fehler und Sünden der Kolonisten. Damit war es den Juden tatsächlich gelungen, so zu werden wie die anderen Völker.“
Joseph Melzer schildert hier mit großer Eindringlichkeit den Konflikt, den das Judentum im 20. Jahrhundert durch das Aufkommen des Zionismus und die Gründung des Staates Israel bis an den Rand der Spaltung bringt: der Konflikt zwischen nationalistischen Partikularisten (Zionisten) und den an der Aufklärung, den Menschenrechten und dem Völkerrecht sich orientierenden Universalisten. Er bringt das auf die Formel: „Das Ziel der Zionisten war es augenscheinlich, dem Judentum den Universalismus auszutreiben – der, wie Hermann Cohen [deutsch-jüdischer Philosoph] meinte, aus der messianischen Mission des Judentums stammt. Das Judentum, sollte auf einen Stammesglauben reduziert wird.“
An anderer Stelle schreibt er: „Der Zionismus, der oft mit dem Judentum verwechselt wird, versucht mit europäischem Nationalismus ein Judentum zu formen, das keines mehr ist, weil es nicht mehr den Messias erwartet und nicht Gottes Sinnesänderung, die nach dem Glauben der jüdischen Orthodoxie kommen muss und kommen wird. Zwischen dieser Orthodoxie und dem Zionismus, der am Schabbat Straßen baut und am Jom Kippur Kriege führt, kann es keine Versöhnung geben.
Joseph Melzer hat die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts erlebt und zum Teil buchstäblich am eigenen Leibe erlitten. Dazu hat er die Widersprüche und Spaltungen des Judentums nicht nur als Zeitzeuge beobachten können, er hat sie – oft unter großen Leiden und Entbehrungen – in sich selbst ausgetragen. Er schreibt am Ende seiner Erinnerungen, sein Leben sei „ein gewöhnliches jüdisches Schicksal“ gewesen. Aber das nimmt man ihm nicht ab. Gerade die Außergewöhnlichkeit seines Schicksals macht seine Lebenserinnerungen so überaus lesenswert.
Joseph Melzer: Ich habe neun Leben gelebt. Ein jüdisches Leben im 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2010, ISBN 978-3-86489-306-3, 24 Euro
Nach Lektüre dieser Rezension hatte ich sofort das Buch erworben. Und nach der faszinierter Lektüre möchte ich 1. sagen, dass es noch mehr bringt als schon die Rezension verspricht, 2. Abi Melzer herzlich dafür danken, dass er uns diese Erinnerungen seines Vaters zur Kenntnis gebracht hat, 3. dem Buch möglichst weite Verbreitung wünschen (nicht zuletzt an Schulen).